Rezension über:

Eduard Mühle (Hg.): Mentalitäten - Nationen - Spannungsfelder. Studien zu Mittel- und Osteuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Beiträge eines Kolloquiums zum 65. Geburtstag von Hans Lemberg (= Tagungen des Herder-Instituts zur Ostmitteleuropa-Forschung; 11), Marburg: Herder-Institut 2001, X + 194 S., ISBN 978-3-87969-291-0, EUR 20,00
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Rezension von:
Ralph Tuchtenhagen
Seminar für Osteuropäische Geschichte, Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Winfried Irgang
Empfohlene Zitierweise:
Ralph Tuchtenhagen: Rezension von: Eduard Mühle (Hg.): Mentalitäten - Nationen - Spannungsfelder. Studien zu Mittel- und Osteuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Beiträge eines Kolloquiums zum 65. Geburtstag von Hans Lemberg, Marburg: Herder-Institut 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 6 [15.06.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/06/3239.html


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Eduard Mühle (Hg.): Mentalitäten - Nationen - Spannungsfelder

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Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge gehen auf Vorträge anlässlich des 65. Geburtstags des Marburger Historikers Hans Lemberg zurück. Die Vorträge sind hier alle bis auf einen [1] vertreten und decken entsprechend den Arbeitsschwerpunkten Lembergs drei Themenfelder ab: 1. Osteuropa und Mitteleuropa, 2. Aspekte der böhmischen Geschichte, 3. Nationale Entmischung im 20. Jahrhundert.

Die erste Sektion wird eingeleitet durch einen Beitrag von Roger Bartlett zur nationalen und europäischen Welt der Dekabristen, der die Anfänge des russischen Nationalismus in eben jenen Dezembertagen verankert, die zu seiner massiven Unterdrückung durch das zarische Regime geführt haben. Der Autor sieht diesen Fehlstart als Grund und Grundlage dafür an, dass "die Frage nach einem tragfähigen unifizierenden Selbstverständnis (...) in Rußland nach wie vor ungelöst" bleibt und es bis heute niemandem gelingt, "einen Zauberspruch zu finden, der rossijskij (russländisch, der Verfasser) mit russkij (russisch, der Verfasser) gleichsetzen könnte" (11).

Rex Rexheusers Aufsatz über die Bedeutung der Teilungen Polens für die nichtpolnische Bevölkerung der Adelsrepublik zeigt deutlich die mit den Teilungen verbundene Dissoziation der sozialen Gruppen Polens und deren Regruppierung nach neuen, nämlich ethnischen Differenzierungen, die die Polen und andere Ethnien in die Selbst-Wahrnehmung führte, die Juden hingegen in die ethnische und religiöse Zersplitterung.

Hans Hecker kommt bei seinen Überlegungen zum Problem der politischen Legitimation in Russland und Polen im 19. Jahrhundert zu der sehr optimistischen Einschätzung, dass Polen, vor allem aber die Russländische Föderation auf ihrem Weg zur Demokratie "den Rubikon überschritten" (52) habe. Ich wünsche dem Verfasser, dass er Recht behalte und es im dritten - wie im ersten - Rom nur einen Rubikon zu überschreiten gelte.

Peter Krüger beschließt die erste Sektion und analysiert die Stabilität der internationalen Ordnung im Verhältnis von Ostmitteleuropa und dem Staatensystem nach dem Ersten Weltkrieg. Sein Ergebnis fällt hier insbesondere im Vergleich mit der Staatenordnung des 19. Jahrhunderts nach dem Wiener Kongress negativ aus. Einzig die europäische Ordnung nach der Locarno-Konferenz habe für kurze Zeit eine ähnliche internationale Akzeptanz erreichen können.

Die zweite Sektion flacht gegenüber der ersten deutlich ab. Der interessanteste Beitrag scheint mir hier Ferdinand Seibts Aufsatz über den tschechischen Sprachwissenschaftler und Historiker Franz Martin Pelzel (1734-1801) und den Ursprung des böhmischen Dilemmas zu sein, das daraus bestand, dass man im Habsburgerreich über tschechische Themen sinnvollerweise nur in deutscher Sprache schreiben konnte.

Bedřich Loewenstein warnt in seinem Beitrag über "Marx in Masaryks Prisma" vor der Hoffnung, einen Denker des 19. Jahrhunderts (Marx) durch einen anderen (Masaryk) ersetzen und auf diese Weise der Tschechischen Republik eine bessere Orientierung für ihre politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Zukunft an die Hand geben zu können.

Jörg K. Hoensch stellt den Zusammenhang zwischen dem Kameradschaftsbund, Konrad Henlein und den Anfängen der Sudetendeutschen Heimatfront dar. Und Jan Havránek schreibt über den Prager Stadtteil Hanspaulka und seine Bewohner in der Vergangenheit.

Die dritte Sektion beginnt mit einem instruktiven Beitrag von Wolfgang J. Mommsen über die Anfänge des ethnic cleansing und die Umsiedlungspolitik im Ersten Weltkrieg, deren Auswirkungen insbesondere hinsichtlich der deutschen "Ostsiedlung" und "Volkstumspolitik" durchgespielt werden und in dem Fazit enden, dass die Idee des ethnischen Purismus letztlich auch die Chance verspielte, die deutsche kulturelle Vormachtstellung in Osteuropa über die Zwischenkriegszeit hinaus zu erhalten. Hans Mommsens Überlegungen zum "Ostraum" in der Ideologie und Politik des Nationalsozialismus knüpfen teilweise an dieses Ergebnis an, indem sie die Ursprünge der deutschen Lebensraumideologie für Osteuropa in das Ende des 19. Jahrhunderts verlegen und in diesem Zusammenhang für Kontinuitätslinien längerer Dauer eintreten.

Mit zwei Beiträgen zum Ende des heißen Krieges und zum Übergang in den kalten Krieg in Polen und der Tschechoslowakei endet die Sektion und der Sammelband. Włodzimierz Borodziej beantwortet die Frage, ob die neuen Nord- und Westgebiete eine Integrationsbasis für das politische System und die Gesellschaft Polens 1945-1946 abgeben konnten, eindeutig negativ, indem "die Abhängigkeit von der Roten Armee [...], und später die Schwäche des entstehenden Staatsapparates im Norden und Westen, jeden Ansatz für Lösungen, die anders als in dem alten Staatsgebiet hätten ausfallen können", (182) verhinderte. Jan Křen schließlich gibt einen Überblick über neue tschechische Studien zum Jahr 1945, die er als nicht völlig zufriedenstellend, dennoch aber auch "nicht eben schlecht" kennzeichnet, weil dieses Thema immerhin einen hervorragenden Platz innerhalb der tschechischen historischen Forschung einnehme und somit zu Hoffnungen für die Zukunft Anlass gebe.

Summa summarum bietet dieser Band wie die meisten Produktionen dieser Art viel Schatten und viel Licht. Es ist dem Herausgeber aber zu danken, dass er trotz thematischer Vielfalt und vielfältiger Qualitätsschwankungen einen Weg gefunden hat, das Forschungsanliegen Hans Lembergs in einladender und vielfach auch überzeugender Weise deutlich zu machen. Und in diesem Sinne kann der Band trotz des für meinen Geschmack etwas zu anspruchsvollen Titels getrost weiterempfohlen werden.

Anmerkung:

[1] Der Beitrag von Hartmut Lehmann: Zum Antisemitismus protestantischer Pastoren in der Zwischenkriegszeit ist abgedruckt in ders.: Protestantisches Christentum im Prozess der Säkularisierung, Göttingen 2001, S. 36-51.


Ralph Tuchtenhagen