Rezension über:

Rotraud Ries / J. Friedrich Battenberg (Hgg.): Hofjuden - Ökonomie und Interkulturalität. Die jüdische Wirtschaftselite im 18. Jahrhundert (= Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden; Bd. XXV), Hamburg: Christians 2002, 395 S., 26 Abb., ISBN 978-3-7672-1410-1, EUR 30,00
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Rezension von:
Carl Josef Virnich
Historisches Institut, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule, Aachen
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Carl Josef Virnich: Rezension von: Rotraud Ries / J. Friedrich Battenberg (Hgg.): Hofjuden - Ökonomie und Interkulturalität. Die jüdische Wirtschaftselite im 18. Jahrhundert, Hamburg: Christians 2002, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 6 [15.06.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/06/2353.html


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Rotraud Ries / J. Friedrich Battenberg (Hgg.): Hofjuden - Ökonomie und Interkulturalität

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Der Band gibt die Ergebnisse einer Tagung wieder, die im September 1999 in der Moses Mendelssohn Akademie zu Halberstadt - dem ehemals von Behrend Lehmann gestifteten Rabbinerseminar - veranstaltet wurde. Es war die Abschlussveranstaltung des von 1994 bis 1999 an der TU Darmstadt angesiedelten DFG-Forschungsprojekts zur "Rolle der Hofjuden im Akkulturationsprozess der Juden des deutschsprachigen Raumes", dessen wissenschaftliche Leitung den beiden Herausgebern oblag. 24 Autorinnen und Autoren, darunter viele jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, nähern sich mit unterschiedlichen Ansätzen und aus unterschiedlichen Perspektiven dem Thema, oder besser: dem Themenkreis 'Hofjuden'. Sechs übergeordnete Kapitel gliedern die Aufsätze in binnenthematischer Hinsicht. Der Sammelband will als "Zwischenbilanz" verstanden werden, als Widerspiegelung des gegenwärtigen Forschungsstands "zur jüdischen Wirtschaftselite" (9).

Eine neue systematische Untersuchung der Hofjuden der Frühen Neuzeit unter Einbeziehung aktueller Fragestellungen ist unzweifelhaft ein Forschungsdesiderat. Die einzige umfassende Studie zu den Hofjuden der Frühen Neuzeit liegt ein halbes Jahrhundert zurück. Gemeint ist Heinrich Schnees Monumentalwerk, das wenig systematisch, unter rein etatistischer Perspektive verfasst und mit zahlreichen Antisemitismen durchsetzt ist. Selbst Selma Sterns 1950 in den USA erschienene Hofjudenstudie bleibt, wenn auch ohne Schnees unhistorische Prämissen, dessen Königssicht letztlich ebenso verhaftet. [1]

Von einzelnen Familiengeschichten und Biografien abgesehen, sparte das seit den 1980er-Jahren allgemein wachsende deutsche Forschungsinteresse an jüdischer Geschichte die 'Hofjuden' wie insgesamt die Frühe Neuzeit zunächst weitgehend aus. Erst in einem zweiten Schritt - nach der Verortung der 'Verbürgerlichung' der Juden im 19. Jahrhundert [2] - und einem 'von außen' angeregten Perspektivenwandel - Vorverlegung von Modernisierungs- und Akkulturationstendenzen im deutschen Judentum zumindest ins 18. Jahrhundert [3] - wagte man sich an eine Neubewertung.

Leider können hier nicht alle 25 Beiträge gleichgewichtig behandelt werden. Herausgegriffen werden einige Grundlagen und vor allem wirtschaftshistorische Aspekte des II. Kapitels. Die drei Beiträge des I. Kapitels liefern, so der Titel, die "Grundlagen". Dabei kommen die eigentlich neuen Gedanken vor allem bei Rotraud Ries und Michael Schmidt zur Sprache, während Rainer Gömmel den allgemeinen 'wirtschaftshistorischen Überbau' beisteuert.

Rotraud Ries (11-39) bietet gleichsam Einführung, Forschungsüberblick und 'Synthese' zugleich. Es werden die einzelnen Beiträge vorgestellt, thematisch verklammert und - anhand ihrer Ergebnisse - die Fragestellungen und Differenzierungsebenen zur Geschichte der Hofjuden herausgearbeitet. Ries versucht, den 'roten Faden' zwischen den heterogenen Tagungsbeiträgen zu spinnen. Hier findet sich auch die einzige Definition des Forschungsgegenstandes 'Hofjude': Er stehe für diejenigen Juden, "die in einem auf Kontinuität angelegten Dienstleistungsverhältnis zu einem höfisch strukturierten Herrschaftszentrum standen" (15f.). Diese recht weit gefasste Begriffsbestimmung verweist schon an sich auf ein Grundproblem, nämlich die unterschiedlichsten individuellen Lebensläufe, Karrieren, wirtschaftlichen Tätigkeiten und Funktionen der hier geschilderten 'Hofjuden' unter einen Hut zu bringen.

Michael Schmidt (40-58) verficht die These, dass der (in begrifflicher Anlehnung an Pierre Bourdieu) "Habitus der Hofjuden" als eine Art individueller "Protoemanzipation" (40) verstanden werden könne. Um in der höfischen Gesellschaft bestehen zu können, habe sich der Hofjude an deren Idealen orientieren, einen 'höfischen Habitus' anlegen müssen. Auf besondere Fähigkeiten der Hofjuden zur Interkulturalität abhebend, nennt Schmidt als Beispiele die Bibliothek des Stuttgarter Hofjuden Oppenheimer, die in ihrer säkularen Vielseitigkeit mit der "Interessenlage eines Hofmannes" korrespondierte (44), sowie eine Episode aus dem Leben des Weißenfelsischen Hofjuden Moses Heynemann. Dieser hatte sich in einer für ihn bedrohlichen Situation auf das "symbolische Kapital der Ehre" (53) des Herzogs verlassen und sich durch sein Verhalten für ein Hofamt qualifiziert. Die zentralen Begriffe wie Interkulturalität und Akkulturation diskutierend, misst Schmidt den Hofjuden die historische Rolle bei, "in einer anderen Kultur zu funktionieren, ohne die eigene Identität oder Weltsicht zu verleugnen" (47).

Rainer Gömmel widmet sich in seinem Beitrag über "Hofjuden und Wirtschaft im Merkantilismus" (59-65) den historischen Zusammenhängen, die überhaupt die Institutionalisierung eines jüdischen 'Hoffaktorentums' bedingten. Er rekapituliert die bekannten Fakten: die sozioökonomischen Strukturen in Deutschland nach dem 30-jährigen Krieg, die Entwicklung des Merkantilismus / Kameralismus, die Herausbildung des spezifisch deutschen absolutistischen Fürstenstaates mit seiner permanenten Geldnot. Der Hofjude wurde im 17. und 18. Jahrhundert in allen deutschen Territorien "zu einer Institution" (61), ein den Strukturen des Deutschen Reiches und der daraus resultierenden Wirtschaftspolitik "adäquates Finanzierungsinstrument" (64). Gömmel folgt weitgehend der Perspektive Heinrich Schnees, auch wenn er sich nicht dessen pauschaler Wertung (etwa: ohne Hofjuden kein 'moderner' Staat) anschließt, sondern diese umdreht (ohne absolutistischen Fürstenstaat keine Hofjuden). Er würdigt die "grundsätzliche, volkswirtschaftliche Bedeutung des Hofjuden" (64), die sich etwa an den im 18. Jahrhundert langfristig relativ konstanten Zinssätzen für Wechselkredite ablesen lasse. Nur nebenbei wird erwähnt, dass es auch christliche Bankiers gab, die die Kapitalnachfrage des Staates / Fürstenhofes bedienten. Die tatsächliche Bedeutung des 'Hofjuden' bleibt dabei letztlich undeutlich.

Das II. Kapitel ist der eigentlichen Wirtschaftsgeschichte gewidmet. Es behandelt, nach einer Einführung von Wilhelm Kreutz (67-70), die "Wiener Hofbankiers" (Natalie Burkhart, 71-86), die Berliner Familie Itzig (Thekla Keuck, 87-101), jüdische Wechselmakler in Frankfurt am Main (Gabriela Schlick, 102-114) und "Sefardische Residentenfamilien in Amsterdam (Hiltrud Wallenborn, 115-133). Um Hofjuden geht es hier nur zum Teil, daher der für die Kapitelüberschrift wohl mit Bedacht gewählte Begriff "Wirtschaftselite".

So behandelt Natalie Burkhart zwar auch die Hofbankiers Arnstein & Eskeles, im Wesentlichen aber die Entwicklung der Judenpolitik und die der jüdischen Gemeinde Wiens. Dabei bleibt die Erklärung, um die Mitte des 18. Jahrhunderts seien die "meisten Juden in Wien als Hofjuden tätig und beileibe keine 'Durchschnittsjuden'" gewesen (73), recht diffus. Juden nutzten, so Burkharts Schluss, aktiv die Chancen der ökonomischen Modernisierung, die sich ihnen mit der schrittweisen Lockerung der Minderheitengesetzgebung und der allgemeinen ökonomischen Entwicklung boten. Dies betraf aber eben nicht nur die Hofjuden und / oder die jüdische Wirtschaftselite, sondern die Juden insgesamt.

Thekla Keuck untersucht "Kontinuität und Wandel im ökonomischen Verhalten" der Berliner Familie Itzig, deren Weg sie über drei Generationen verfolgt: von der Aufsteigergeneration über die des etablierten Hofjuden zur Generation des wirtschaftlichen 'Niedergangs'. Die Itzigs waren auch als preußische 'Hofjuden' Ausnahmeerscheinungen. Sie standen das gesamte 18. Jahrhundert hindurch in einem engen Verhältnis zum Herrscherhaus, dem sie direkt oder indirekt vor allem als Heereslieferanten, Münzentrepreneurs oder Manufakturbetreiber dienten. Vielleicht zu ergänzen ist, dass sich Isaac Daniel Itzig, der älteste der dritten Generation, als Hofbaurat für den Chausseebau auch als ökonomischer 'Modernisierer' betätigte. Wohl kein anderer Jude im Alten Preußen hat so viel wirtschaftlichen und politischen Einfluss gehabt - unter anderem als Oberlandesältester aller preußischer Juden - wie Daniel Itzig. In der dritten Generation wurden indes auch die Itzigs Opfer "des in der dritten Generation für Hofjudenfamilien so charakteristischen wirtschaftlichen Niedergangs" (94). Dieser fiel nicht von ungefähr mit dem Ende des Ancien Régime zusammen. Dass es den Itzigs gelang, nun im Bildungsbürgertum Fuß zu fassen, verweist auf bereits früher vollzogene Schritte der Akkulturation, etwa durch den Erwerb säkularer Bildung.

Gabriela Schlick untersucht die Wirtschaftspolitik des reichsstädtischen Frankfurter Rats gegenüber den ansässigen jüdischen Wechselmaklern. Nachdem der Nutzen für den Handel der zunächst illegal als 'Winkelmakler' tätigen Juden vom Rat erkannt worden war, besserte sich sowohl deren Status innerhalb der Kaufmannschaft als auch ihre rechtliche Position. Dies zeigte sich unter anderem darin, dass der Rat die Zahl der amtlichen jüdischen Wechselmakler auch gegen Widerstände langsam erhöhte. Die Stellung eines reichsstädtischen Maklers sei rechtlich sicherer und "weitaus zukunftsorientierter" (111) als die eines von Herrschergunst abhängigen Hofjuden gewesen.

"Sefardische Residentenfamilien in Amsterdam" (Hiltrud Wallenborn) gaben der niederländischen Wirtschaft des 17. Jahrhunderts vorantreibende Impulse etwa im Handels- und Finanzwesen, dies aber nicht "in höherem Maße als die übrigen Mitglieder der sefardischen Oberschicht". In kultureller Hinsicht traten sie "eher als Exponenten der traditionellen Strukturen" denn "als Vorreiter neuer Entwicklungen" auf (130). Mit aschkenasischen Hofjuden - oder sonstigen Mitgliedern der deutsch-jüdischen Wirtschaftselite - hatten sie ohnedies nur wenig gemein.

Die weiteren Beiträge des Tagungsbandes können hier nur kursorisch genannt werden. Nach jeweiligen Einführungen (III. Kap.: Birgit Klein, IV. Kap.: J. Friedrich Battenberg, V. Kap.: Jörg Deventer) behandelt das III. Kapitel vornehmlich innerjüdische und kulturelle Aspekte. Während Michael Studemund-Halévy nochmals auf sefardische Residenten, diesmal in Hamburg, eingeht (154-176), widmet sich Richard I. Cohen der Bedeutung von Hofjuden als Mäzene und Kunstsammler (143-153). Martina Strehlen untersucht Grabsteininschriften und Memorbucheintragungen für Hofjuden (177-190), Lucia Raspe die herausragenden Leistungen Berend Lehmanns als 'Wohltäter' der Gemeinde (191-208). Eva Grabherrs Aufmerksamkeit gilt mit der Wirtschaftselite und den Hofjuden auf dem Lande (am Beispiel Hohenems) einem bislang kaum erforschten Feld (209-229).

Nicht nach einem absoluten Zeitmodell, sondern im Hinblick auf den "Wandel in der Generationenfolge" geht das IV. Kapitel einzelnen Hofjudenfamilien nach. J. Friedrich Battenberg behandelt Wolf Wertheimer, der "im Schatten seines Vaters" stand (240-255), Britta Waßmuth die Familien "May und Mayer in Mannheim" (256-273); schließlich Fritz Backhaus die Rothschild-Brüder als "Bewahrer des Judentums" (274-280).

Weitgehend unbeachtet blieben bisher die abseits der Metropolen agierenden Hofjuden der Kleinterritorien, denen ausschnittsweise das V. Kapitel gilt. Dina van Faassen untersucht Hofjuden in Lippe (289-306), Dieter Blinn unter anderem die Tätigkeiten von Herz und Saul Wahl als Alchimisten und Hofagenten im Fürstentum Pfalz-Zweibrücken (307-331), Kerstin Hebell mit der "Madame Kaulla" aus Hohenzollern-Hechingen eine der wenigen bekannten Hofjüdinnen (332-348).

"Kommentare, Exempel und Perspektiven", die im VI. Kapitel formuliert beziehungsweise aufgezeigt werden, dienen gewissermaßen als Resümee und Ausblick. Deborah Herz lobt die fruchtbaren neuen Ansätze der heutigen deutsch-jüdischen Historiographie, die allerdings nur als ein Anfang gewertet werden können (349-353). Felicitas Heimann-Jelinek (354-368) untersucht einen möglichen Identitätswandel der Hofjuden am Beispiel der Familie Wertheimer. Eine "daraus ableitbare 'Regel'" (366) lasse sich daraus nicht postulieren. Steven Lowenstein (369-381) unterstreicht die Bedeutung einzelner Hofjuden für die innerjüdische Modernisierung. Lowensteins Schlusswort mag auch hier als solches stehen: "A one-to-one correspondence between Court Jewish influence and the spread of modernity an acculturation within Jewish community certainly did not exist" (377).

Anmerkungen:

[1] Heinrich Schnee: Die Hoffinanz und der moderne Staat. Geschichte und System der Hoffaktoren an deutschen Fürstenhöfen im Zeitalter des Absolutismus. Nach archivalischen Quellen, Bde. 1-6, Berlin 1953-1967; Selma Stern: The Court Jew. A Contribution to the History of the Period of Absolutism in Central Europe, Philadelphia 1950 (jetzt in deutscher Übersetzung: Tübingen 2001).

[2] Vergleiche als jüngste Bilanz Andreas Gotzmann / Rainer Liedtke / Till van Rahden: Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800-1933 (= Wissenschaftliche Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts, Bd. 63), Tübingen 2001.

[3] Grundlegend Asriel Schochat: Der Ursprung der jüdischen Aufklärung in Deutschland, Frankfurt a. M. 2000 (Orig. hebr., Jerusalem 1960).

Carl Josef Virnich