Rezension über:

Klaas-Hinrich Ehlers / Steffen Höhne / Václav Maidl / Marek Nekula (Hgg.): Brücken nach Prag. Deutschsprachige Literatur im kulturellen Kontext der Donaumonarchie und der Tschechoslowakei. Festschrift für Kurt Krolop zum 70. Geburtstag, 2., korr. Aufl., Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2002, 505 S., 1 Abb., ISBN 978-3-631-38709-2, EUR 57,00
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Rezension von:
Andrea Schutte
Herder-Institut, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Winfried Irgang
Empfohlene Zitierweise:
Andrea Schutte: Rezension von: Klaas-Hinrich Ehlers / Steffen Höhne / Václav Maidl / Marek Nekula (Hgg.): Brücken nach Prag. Deutschsprachige Literatur im kulturellen Kontext der Donaumonarchie und der Tschechoslowakei. Festschrift für Kurt Krolop zum 70. Geburtstag, 2., korr. Aufl., Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2002, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 7/8 [15.07.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/07/3351.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Klaas-Hinrich Ehlers / Steffen Höhne / Václav Maidl / Marek Nekula (Hgg.): Brücken nach Prag

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Wie wäre die wissenschaftliche Karriere Kurt Krolops wohl verlaufen, wäre er nicht vom politischen System der DDR an der Ausübung seiner Profession dadurch behindert worden, dass ihm untersagt wurde, an der Akademie der Wissenschaften der ČSSR die Prager deutsche Literatur zu erforschen? Zählt er nicht heute dennoch zu den profundesten Kennern dieser vor allem durch Franz Kafka bekannt gewordenen Literaturströmung des 20. Jahrhunderts? Der herausragendste Autor seiner literaturwissenschaftlichen Untersuchungen ist aber laut Hubert Orłowski in seiner einleitenden Laudatio nicht Kafka, sondern Karl Kraus, dem Krolop zahlreiche Veröffentlichungen widmete - dies belegt auch das von Michael Berger zusammengestellte Schriftenverzeichnis Kurt Krolops im Anhang. Zum 70. Geburtstag widmeten die Herausgeber ihm diese Festschrift mit Beiträgen von deutschen und tschechischen Wissenschaftlern, die sich aktuell mit der deutschsprachigen Literatur in Böhmen und Mähren auseinandersetzen.

Den Auftakt des ersten Teils - "Deutschsprachige Literatur und Kultur in Böhmen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert" - gestaltet Jaromír Loužil mit seinem Aufsatz über das Bohemismus-Konzept Bolzanos. Loužil analysiert Bolzanos zentrale Erbauungsreden von 1806, 1810 und 1816, in denen dieser das Verhältnis von Tschechen und Deutschen darzustellen versucht hat, und untersucht sein Verständnis von Nationalität und Vaterland, das in den drei Reden stark voneinander abweicht. Der folgende Aufsatz von Steffen Höhne zeigt, dass die Deutschböhmen vor 1848 bei der Herausbildung einer nationalen Literatur auf ähnliche Vorbilder aus der böhmischen Geschichte und Mythologie zurückgriffen wie die Tschechen. So wurde die hussitische Epoche von beiden Gruppen als gemeinsame Tradition aufgefasst. Höhne geht dabei insbesondere auf die von Moritz Hartmann herausgegebene Gedichtsammlung "Kelch und Schwert" sowie das Versepos "Žižka" von Alfred Meißner ein. Václav Maidls Beitrag beschäftigt sich mit der von 1899 bis 1907 in Prachatitz herausgegebenen Monatszeitschrift "Der Böhmerwald", die eine klar deutschnationale Position vertrat und sich deutlich zur Heimatliteratur und -kultur bekannte. Robert Luft untersucht das Verhältnis von "Sprache und Nationalität an Prager Gymnasien um 1900" und inwieweit das Erlernen der jeweils anderen Landessprache an Prager Gymnasien mit tschechischer und deutscher Unterrichtssprache möglich beziehungsweise üblich war.

Mit Josef Čermáks Aufsatz über die Jugendjahre des Freundeskreises von Franz Werfel beginnt der zweite Teil "Kafka, Kraus und die Prager deutsche Literatur". Čermák stützt sich dabei vor allem auf die im Nachlass von Jarmila Haasová-Nečasová aufgefundenen Briefe und Manuskripte ihres Ehemanns Willy Haas, von Fritz Pollak, Franz Janowitz, Robert A. Jokl und Karl Kraus, und rekonstruiert mit deren Hilfe die Beziehungen der einzelnen Protagonisten untereinander. Im Mittelpunkt steht die Beziehung zwischen Haas und Jokl. Jürgen Born untersucht die Bedeutung des Judentums für die Prager deutsche Literatur. Fast alle deutschsprachigen Prager Autoren im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts waren jüdischer Herkunft, die - bewusst (Kafka, Brod und Werfel) oder unbewusst - Eingang in ihre Dichtung fand. In seinem Aufsatz über die Beziehung zwischen Kraus und Rilke konzentriert sich Joachim W. Storck auf die Bedeutung der von Kraus herausgegebenen Wochenschrift "Die Fackel" für ihren Leser Rilke; er zeigt eindringlich und spannend, wie ambivalent die Beziehungen dieser beiden für das Literaturleben in Mitteleuropa zu Beginn des 20. Jahrhunderts so prägenden Persönlichkeiten waren. Die Polemik zwischen Kraus und Werfel ist Thema des Beitrags von Michel Reffet. Während die meisten Literaturwissenschaftler sich eines Urteils enthielten oder für Kraus eintraten, gelingt es Reffet, den guten Willen Werfels, den Zwist zu beenden, hervorzuheben. Einen Höhepunkt der Polemik bildete der von Werfel 1917 veröffentlichte Brief "Die Metaphysik des Drehs", mit dem er auf Kraus' Offensive gegen alle Prager Dichter "Elysisches. Melancholie an Kurt Wolff" reagierte.

Christian Wagenknecht wiederum beschäftigt sich mit einem anderen Aspekt des Schaffens von Kraus - mit dessen Akrosticha. Im Zentrum stehen Kraus' Gedichte an seine Geliebte, die Adelige und Literaturmäzenin Sidonie Nádherný von Borutin. Die satirischen Akrosticha, die Kraus als Mittel seiner versteckten Kritik benutzt, gehören in einen ganz anderen Zusammenhang, wie Wagenknecht deutlich macht. Mit den Problemen der Übersetzbarkeit der "Letzten Tage der Menschheit" von Kraus ins Tschechische beschäftigt sich Jaromír Povejšil. Dieses Weltkriegsdrama wurde laut Krolop weltweit nur ein einziges Mal vollständig übersetzt, und zwar 1933 von dem Prager Journalisten und Publizisten Jan Münzer. Auch Marek Nekula befasst sich mit Aspekten der tschechischen Sprache - er untersucht, inwieweit Kafka die tschechische Sprache beherrschte.

Dem "Prager Flaneur" Kafka und dessen Wahrnehmung urbaner Phänomene widmet sich Hans-Gerd Koch. Ihm zufolge schärfte Kafka seinen Blick während seiner Aufenthalte in Paris - der "Geburtsstadt des Flaneurs" - und nahm somit die durch die Entwicklung Prags zu einer modernen Großstadt notwendig gewordenen Veränderungen in seiner Heimatstadt bewusster wahr. Hans Dieter Zimmermann versucht, den Einfluss des bekanntesten Werkes von Comenius "Das Labyrinth der Welt" auf Kafkas unvollendeten Amerika-Roman "Der Verschollene" nachzuweisen. In einem weiteren Beitrag zu Leben und Werk Kafkas untersucht Heinz Härtl dessen Briefe an den Romantikforscher Josef Körner, in denen Kafka um die Zusendung von dessen "Arnimschrift" bittet; vermutlich handelte es sich dabei um den Aufsatz "Achim v. Arnim und der Krieg", der hier im Anhang dokumentiert ist. František Kautmann befasst sich mit dem Streit um Kafka in der Tschechoslowakei und stellt die wechselnde Rezeption seines Werks in Prag sowie der deutschsprachigen Germanistik dar, wobei er besonders auf die Kafka-Konferenz vom 27. bis 28. Mai 1963 in Liblice eingeht.

Klaas-Hinrich Ehlers leitet den dritten Themenkomplex - "Deutschsprachige Literatur im kulturellen und politischen Kontext seit 1930" - mit einem Beitrag über die Gründungsphase der deutsch-tschechischen Fachzeitschrift "Germanoslavica" ein. Die zwischen 1931 und 1937 erschienene "Vierteljahresschrift für die Erforschung der germanisch-slavischen Kulturbeziehungen" besaß einen hohen Symbolwert für das Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen in der ersten Tschechoslowakischen Republik. Die Auseinandersetzungen mit dem Werk des deutschböhmischen Schriftstellers Josef Mühlberger, die besonders nach 1945 von politischen Zusammenhängen geprägt gewesen sind, untersucht Michael Berger. Mühlbergers Werk wurde sowohl in der bundesdeutschen wie auch in der DDR-Germanistik entweder ganz totgeschwiegen oder mit dem Attribut "sudetendeutsch" belegt, was gleichbedeutend war mit "faschistisch" oder "völkisch". Berger präsentiert einige literaturwissenschaftliche Versuche zu einer differenzierteren Betrachtung. Auch Ludvík E. Václavek beschäftigt sich mit Leben und Werk Mühlbergers sowie mit dem anderer Autoren, die wie dieser an der Prager deutschen Universität studiert und später als Dichter beziehungsweise Schriftsteller gewirkt haben. Václavek geht in seinem Aufsatz jeweils kurz auf Leben und Werk von Uffo Daniel Horn, Ludwig Karpe, Franz Carl Weiskopf und Mühlberger ein.

Peter Becher versucht die "Vermessung eines unbekannten Geländes. Kleine Chronik der deutschsprachigen Literatur Böhmens und Mährens 1938-1945", indem er die führenden Tageszeitungen des "Protektorats Böhmen und Mähren" sowie des "Sudetengaus", die Feuilletons, Gedichte, Erinnerungen und Erzählungen abdruckten, systematisch auswertet. Das letzte Kapitel des Sammelbandes schließlich handelt von Gerty Spies, die im Juli 1942 von München nach Theresienstadt deportiert wurde und dort im Alter von 45 Jahren begann, Gedichte, Prosaskizzen und Tagebuch zu schreiben. Hauptgegenstand der Untersuchung von Karl Braun ist die 1992 erschienene Erzählung "Das schwarze Kleid", dessen Geschichte von der Autorin exemplarisch für das Schicksal seiner wechselnden Besitzer in Theresienstadt dargestellt wird.

Andrea Schutte