Rezension über:

Andreas Eckert (Hg.): Universitäten und Kolonialismus (= Jahrbuch für Universitätsgeschichte; Bd.), 7, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004, 292 S., ISSN 1435-1358, EUR 47,00

Rezension von:
Jens Ruppenthal
Seminar für Geschichte und für Philosophie, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Zimmerer
Empfohlene Zitierweise:
Jens Ruppenthal: Rezension von: Andreas Eckert (Hg.): Universitäten und Kolonialismus, 7, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 9 [15.09.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/09/6315.html


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Andreas Eckert (Hg.): Universitäten und Kolonialismus

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Der Schwerpunkt des aktuellen Jahrbuchs für Universitätsgeschichte ist dem Zusammenhang von Universitäten und Kolonialismus gewidmet. Bedenkt man die umfassenden Themen der letzten Jahre wie "Universität im Mittelalter" oder "Universität und Kunst", so ahnt man, welchen Stellenwert die Kolonialgeschichte mittlerweile erlangt hat. Andreas Eckert, Gastherausgeber des vorliegenden Bandes und Professor für Afrikanische Geschichte in Hamburg, verweist in seinem Editorial auf diese begrüßenswerte Entwicklung, und auch die sechs Beiträge zum Schwerpunkt belegen sie in ihrer thematischen wie geografischen Bandbreite. Sie handeln von ganzen Hochschulen oder einzelnen Fächern, stellen Lehrende oder Studierende vor und betrachten ihren Untersuchungsgegenstand entweder aus der Sicht der Kolonisatoren oder der Kolonisierten. Neben den kolonialhistorischen beinhaltet das Jahrbuch weitere Beiträge unter anderem zum Verhältnis der Philosophen Georg Friedrich Meier und Immanuel Kant zur preußischen Universitätsverwaltung und zum "Progreß" an der Berliner Universität in den frühen 1840er-Jahren.

Die ersten beiden Aufsätze widmen sich der Gründung zweier kolonialer Universitäten, darunter der einzige zur Frühen Neuzeit, nämlich Jochen Meissners Abhandlung über die Gründung der Real y Pontifícia Universidad de México von 1553. Sie habe sich von einigen älteren Bildungseinrichtungen auf dem amerikanischen Doppelkontinent dadurch unterschieden, dass sie von Beginn an mehr als nur eine Klosterschule gewesen und auf Betreiben des spanischen Königshauses ins Leben gerufen worden sei. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Gegenüberstellung von genuin kolonialen und europäischen Motiven für die Gründung. Für die These vom europäischen Normalfall spräche die stattliche Zahl zeitgleich vollzogener Universitätsgründungen in Europa, für die koloniale These vor allem die Absicht, akademische Aufstiegsmöglichkeiten für Kreolen in Mexiko selbst zu schaffen, wie sie ansonsten nur im spanischen Mutterland gegeben waren. Eine wirkliche Gleichstellung der Absolventen beider Kontinente wurde dennoch nicht erreicht. Außerdem lag ein Unterschied darin, dass im Gegensatz zu den spanischen Universitäten im mexikanischen Curriculum noch die Scholastik vorherrschte. Damit endet die Abhandlung leider ziemlich abrupt, ein zusammenfassendes Kapitel fehlt.

Die Perspektive der Kolonisierten bei der Gründung einer eigenen Universität nimmt dagegen Harald Fischer-Tiné ein, der in seinem Beitrag über "Elitenbildung, Sprachpolitik und nationale Identitätskonstruktion im kolonialen Indien" die Sprachenfrage als ein zentrales Element von Kolonialismus und Dekolonisation aufgreift. In diesem Zusammenhang betrachtet er die nordindische Hochschule Gurukul Kangri, die keine Gründung des Kolonialstaats gewesen sei, sondern eine indische Reaktion auf die koloniale Situation. Sie habe aus indischer Sicht zur Entwicklung von Herrschaftswissen beigetragen und damit dem dezidiert politischen Programm des Universitätsgründers Mahatma Munshiram entsprochen sowie das Projekt einer indischen Nationalsprache mit dem "Zwang der doppelten Abgrenzung" (50) gegen Englisch und Urdu generiert. Fischer-Tinés abschließende Anmerkung, dass sich eine solche Nationalsprache nach wie vor nicht auf dem Subkontinent durchzusetzen vermag, zeigt aber auch die Grenzen der Möglichkeiten des Gurukul Kangri.

Gleich drei Beiträge stellen zentrale Kolonialwissenschaften und ihre Auswirkungen auf den deutschen und niederländischen Kolonialismus vor. So befasst sich Vincent Houben mit den "Kolonialrepräsentationen" der niederländischen Universität Leiden, deren kolonialhistorische Bedeutung nicht nur von der herausragenden Stellung ihrer Professoren für südostasiatische Sprachen und Geschichte herrührt, sondern auch von ihrer Funktion als Ausbildungsstätte für Kolonialbeamte. Houben konzentriert sich auf die akademische Tätigkeit verschiedener Professoren und ihre nicht immer einheitlichen Beziehungen zur niederländischen Kolonialpolitik sowie die unmittelbare Repräsentation der Kolonie durch indonesische Studenten in Leiden.

Im Gegensatz dazu scheint die Bedeutung der universitären Geografie im Deutschen Reich weitaus fundamentaler für den hiesigen Kolonialismus gewesen zu sein, wie Jürgen Zimmerer mit Blick auf die "Geographen der Berliner Universität zwischen Kolonialwissenschaften und Ostforschung" konstatiert. Er plädiert für eine intensivere Erforschung der herrschaftsrelevanten Bedeutung von Wissenschaften und sieht die Geographie als "Kolonialwissenschaft schlechthin" (76). Der Blick auf die herrschaftsrelevante Bedeutung solle dabei allerdings keine Eingrenzung auf die Zeit des Kolonialismus implizieren, sondern vielmehr die grundsätzliche Rolle der Wissenschaft als "anwendungsorientierte Politikberatung" (79) über den Kolonialrevisionismus hinaus bis hin zur nationalsozialistischen Ostexpansion erfassen. Zimmerer skizziert zunächst das zunehmende öffentliche Interesse an der Erdkunde und die Herausbildung des Faches Geografie im 19. Jahrhundert und beleuchtet anschließend den seinerzeit wohl wichtigsten Vertreter dieser Disziplin, den Berliner Professor Ferdinand von Richthofen, und seine Funktion als weit gereister Kolonialsachverständiger. Von Richthofen stellt für Zimmerer gleichsam ein personifiziertes Bindeglied zwischen Wissenschaft und Kolonialismus dar. In dieser Tradition hätten auch Geografen in Weimarer Republik und Nationalsozialismus gestanden, nur dass sich über den Kolonialrevisionismus eine neue Konzentration auf die völkische Ostexpansion ergeben habe - eine Entwicklung, die Fragen nach weiteren Kontinuitätslinien aufwirft.

Ausschließlich in der Zeit nach dem Ende der faktischen Kolonialherrschaft (1919 bis 1945) des Deutschen Reiches bewegt sich der Beitrag Holger Stoeckers über das Seminar für orientalische Sprachen in Berlin. Was in erster Linie als Sprach- und Dolmetscherschule gegründet worden sei, habe sich aufgrund der zunehmenden Bedeutung des kolonialsprachlichen Zweigs der Einrichtung zur Basis für die Berliner afrikanistische Forschung entwickelt. Stoecker stellt diese Entwicklung in institutioneller wie personeller Hinsicht mit Schwerpunkt auf der Weimarer Republik vor. Er berücksichtigt dabei deutsche Lehrer und afrikanische Lehrgehilfen sowie völlig zu Recht auch die hochschulpolitischen Verflechtungen "Afrikanistischer Lehre und Forschung in Berlin".

Ganz aus Sicht der Kolonisierten versucht Andreas Eckert, die Bedeutung afrikanischer Studierender an britischen und französischen Universitäten für die anti-koloniale Politik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu ergründen. Die schwierige Quellenlage lasse nur wenige Aussagen über den studentischen Alltag zu, obwohl es sich bei den Quellen weitgehend um Selbstzeugnisse handele. Eckert konstatiert einen seit der Jahrhundertwende steigenden Organisationsgrad studentischer Vereinigungen, die neben ihren sozialen Anliegen zunehmend auch eine politische Programmatik ausgebildet hätten. Die Entwicklung war jedoch von zahlreichen Brüchen gekennzeichnet. Besonders seit der Zwischenkriegszeit habe sich die afrikanische Studentenschaft entlang regionaler und ethnischer Trennlinien aufgespalten, sei die kommunistische Ideologie attraktiv geworden, um nach der Rückkehr vieler Studenten in ihre Heimatländer erneut an Bedeutung zu verlieren, habe sich der anti-koloniale Nationalismus von den europäischen Ländern in die Kolonien selbst verlagert beziehungsweise hätten sich so zwei Formen des Anti-Kolonialismus herausgebildet. In der Metropole, so schätzt Eckert, sei die Wirkung des anti-kolonialen Protests auf die europäische Öffentlichkeit das vielleicht wichtigste Resultat gewesen.

Die Stärke des Schwerpunktbandes liegt ganz eindeutig in der breiten Streuung der Themen, auch wenn die Frühe Neuzeit leider unterrepräsentiert bleibt. Das Fehlen einer zusammenfassenden Betrachtung aller Abhandlungen ist aus diesem Grund auch nicht verwunderlich. Die inhaltliche Bandbreite der Aufsätze zeigt, wie viele Ansatzpunkte sich der in ihren Anfängen steckenden Forschung zu diesem Themenkomplex bieten und welche Herausforderungen sich sowohl für eine vergleichende kolonialhistorische Forschung als auch für die Universitätsgeschichte stellen. Wegen des grundlegenden Charakters seiner Beiträge kann und wird sich das Jahrbuch jedenfalls Vertretern beider Bereiche als nützlich erweisen.

Jens Ruppenthal