sehepunkte 4 (2004), Nr. 9

Isabel Heinemann: "Rasse, Siedlung, deutsches Blut"

In den letzten Jahren sind Historikerinnen und Historiker zunehmend jenen Theoretikern und Praktikern der Vernichtung auf die Spur gekommen, die im nationalsozialistisch besetzten Europa ihre Vision einer rassischen Neuordnung zu verwirklichen versuchten. Juden und andere "Fremdblütige" wurden bei dieser Neuordnung als erste ermordet. Aber auch andere Bevölkerungsgruppen, die in der NS-Rassenhierarchie niedrig eingestuft wurden und der vollständigen "Eindeutschung" der eroberten Gebiete im Wege standen, mussten lebensbedrohende Maßnahmen fürchten: Sie wurden beispielsweise zur Sklavenarbeit gezwungen oder "ausgesiedelt". "Experten" aller Art - von Agrarwissenschaftlern bis hin zu Volkskundlern - drängten sich danach, die monströsen Pläne für diese "Germanisierung" zu entwerfen. Zugleich halfen sie auch bei deren Umsetzung: Mit ihrer Hilfe wurde rassistische Ideologie zum Völkermord.

In Isabel Heinemanns breit angelegter und anregender Studie steht eine bisher wenig beachtete Gruppe solcher "Experten" der Verfolgung und Vernichtung im Mittelpunkt: die circa 500 "Rasseexperten" des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS (RuSHA), überzeugte Ideologen, die als Theoretiker des Rassismus und Praktiker der "Rassenauslese" wesentlich dazu beitrugen, das Konzept einer Neuordnung Europas auf "rassischer" Grundlage vorzubereiten und während des Zweiten Weltkriegs dann auch in die Praxis umzusetzen. Die von ihnen entwickelten Siedlungspläne setzten die Vertreibung und Dezimierung der ansässigen Bevölkerung in den zu "germanisierenden" Gebieten voraus. Als "Eignungsprüfer" führten sie Selektionen durch, die im Extremfall über Leben oder Tod der Gemusterten entschieden.

In den geschichtswissenschaftlichen Debatten über die NS-Täter blieben die RuSHA-"Rasseexperten" laut Heinemann zum Teil deshalb bislang relativ unbeachtet, weil milde Urteile im Nürnberger Folgeprozess 1947/48 und in bundesdeutschen Prozessen der Sechzigerjahre gegen die beteiligten Männer die Bedeutung ihrer Tätigkeit im nationalsozialistischen Vernichtungsapparat herunterspielten. Auch die Historiker schenkten dem RuSHA als Institution nur wenig Aufmerksamkeit, sahen sie doch dessen Bedeutung schon vor dem Krieg schwinden. Dagegen zeigt Heinemann, dass durch den Wegfall bestimmter Aufgabengebiete das Profil des RuSHA in Fragen der "Rassenauslese" stärker hervortrat, was den Einsatz von Mitarbeitern des Amtes bei der "Germanisierung" der eroberten Gebiete förderte. Auch wurde die Bedeutung des RuSHA in Studien zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik unterschätzt, weil seine Mitglieder in den besetzten Gebieten Ost- und Westeuropas nicht immer direkt im Auftrag des Amtes fungierten, sondern oft in anderen institutionellen Zusammenhängen wirkten. Zum Beispiel gelangten RuSHA-Mitarbeiter schnell in Schlüsselpositionen in den Dienststellen des "Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums" im besetzten Polen.

Das Buch will die Bedeutung des RuSHA als Institution und von RuSHA-Mitarbeitern als Tätergruppe neu herausarbeiten. Heinemann untersucht dazu die "Rassenauslese" als Herrschaftstechnik und analysiert die gravierenden Folgen der "Rasseprüfungen" für die betroffenen Menschen. Die Darstellung beginnt mit der Vorkriegsgeschichte der Dienststelle. Gegründet 1932 als "Rassenamt der SS", war das Amt ständig auf der Suche nach neuen Aufgaben. So übernahm es die "rassische Prüfung" von SS-Bewerbern und erteilte die Heiratsgenehmigungen für SS-Männer, hegte bald aber auch Ambitionen, die gesamte deutsche Gesellschaft durch eine aktive "Rassenpolitik" zu gestalten: RuSHA-Mitarbeiter versuchten etwa, frühe Entwürfe der "Nürnberger Gesetze" und die NS-Politik in der Frage der jüdischen "Mischlinge" zu beeinflussen. Gleichzeitig bemühte sich das Amt (erfolglos), sich in der Siedlungspolitik zu profilieren und SS-Siedlungen zu gründen. Erst mit der territorialen Ausweitung des Reiches öffneten sich neue Möglichkeiten für Siedlungsprojekte größeren Stils.

Im Krieg wurden die Techniken und Klassifizierungen, die in "Rasseprüfungen" innerhalb der SS entwickelt worden waren, in den besetzten Gebieten massenhaft an "Volksdeutschen" und potenziell "Einzudeutschenden" angewendet. Heinemann verfolgt die Spuren der "Rasseexperten" quer durch Europa von 1938/39 bis Kriegsende: im "Protektorat Böhmen und Mähren", wo bereits vor Kriegsbeginn die Instrumente der "rassischen Auslese" in Verbindung mit forcierter Umsiedlung als Maßnahmen der "Germanisierung" ausprobiert wurden; in den annektierten Gebieten Polens und im Generalgouvernement, in den besetzten Gebieten im Westen und Norden Europas (Elsaß-Lothringen, Nordfrankreich, Niederlande, Norwegen) sowie in der Ukraine und in Weißrussland ab 1941. Die zivile Verwaltung dieser Gebiete wollte nicht immer auf die Forderungen der RuSHA-Experten nach strengen Rasseprüfungen eingehen: RuSHA-Mitarbeiter Friedrich Brehm zum Beispiel stieß in Lothringen, wo er das Bodenamt leitete, auf den Widerstand des dortigen Chefs der Zivilverwaltung Josef Bürckel. Auch in den annektierten Gebieten Polens kam es zu Reibungen zwischen den "Reichsstatthaltern" Forster und Greiser einerseits und RuSHA-Rassenfanatikern andererseits. Gleichzeitig taten sich immer neue Aufgaben für die Rasseprüfer und Siedlungsexperten des RuSHA auf: im Kampf gegen Partisanen in der Ukraine und Weißrussland oder in Kampagnen, "rassisch gute" Einheimische als Soldaten, Haushaltshilfen und Arbeiterinnen und Arbeiter für den Kriegseinsatz einzuspannen.

Ein Vorzug des Buches liegt darin, dass trotz der Breite des analysierten Materials auch einzelne Schicksale deutlich werden. In einer "Rasseprüfung" konnte es um Besitz und wirtschaftliche Stellung der Geprüften gehen: Sie entschied zum Beispiel, ob eine Umsiedlerfamilie aus Lettland oder aus Bessarabien das Recht bekam, selbstständig einen Hof zu betreiben oder ob die Angehörigen der Familie als "minderwertig" eingestuft und deshalb als landwirtschaftliche Arbeiter nach Deutschland geschickt wurden. Es konnte aber auch um Leben und Tod gehen, zum Beispiel bei den Kindern der ermordeten Einwohner von Lidice und Lezaky, die nach der "rassischen Auslese" entweder zur "Eindeutschung" ins "Altreich" kamen oder aber im Gas erstickt wurden. Auch ausländische Zwangsarbeiter, die eine sexuelle Beziehung mit einer deutschen Frau gehabt hatten, wurden je nach "rassischer Wertung" entweder hingerichtet oder am Leben gelassen (was dann auch die Aussicht auf Heirat mit ihrer deutschen Partnerin bedeuten konnte). Wie Prüfer und Geprüfte den Moment der Begegnung erlebten - ob etwa die "Prüfung" als flüchtiger Blick oder lang ausgedehnte Prozedur stattfand, was die Gemusterten davon (und von den Konsequenzen) im Voraus ahnten und wussten - wäre vielleicht noch weiterer Überlegungen wert. Auch über die zeitgenössischen Fotos, die im Buch abgedruckt sind (zum Beispiel die von einer "volksdeutschen" Umsiedlerfamilie während ihrer "Durchschleusung"), wäre vielleicht mehr zu sagen gewesen, wie auch generell zur Praxis und Bedeutung des Fotografierens bei der "rassischen Auslese". Interessant und wichtig ist auf jeden Fall Heinemanns Gedanke, dass die Prüfer - als SS-Mitglieder - eine solche Prüfung selbst "am eigenen Leib" erlebt hatten und dass sie vielleicht deshalb um so unerbittlicher im Umgang mit anderen waren.

Heinemann zeigt, dass der Krieg den "Rasseexperten" als Chance erschien, die Grundlagen für ein neues, rassisch "gereinigtes" Europa zu schaffen, zugleich aber auch als Auftrag, den gewaltsamen "Reinigungsprozess" zu beschleunigen. Effiziente Kriegsführung war für die RuSHA-Mitarbeiter hingegen kein übergeordnet wichtiges Ziel. Die "Auslese", die "deutsches Blut" von "nichtdeutschem" trennen sollte (und dabei zahllose und mutierbare Varianten des "Deutschtums" schuf), diente deshalb weder der Kriegswirtschaft, noch stabilisierte sie die nationalsozialistische Herrschaft. Schließlich diente die Vision des nach "rassischen Prinzipien" neu geordneten Europas zunehmend auch "als utopischer Gegenentwurf zur immer desolateren Realität an den Fronten" (607).

Insgesamt verbindet Heinemanns Studie gründliche Recherche und schlüssige Argumentation. Sie bietet ebenso überzeugende wie weiterführende Einsichten in die nationalsozialistische Rassenpolitik, in die Karrieren und Verhaltensweisen der "Rasseexperten" und in die Schicksale ihrer Opfer. Das Buch verdient es, von allen gelesen zu werden, die sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus im Krieg beschäftigen.

Rezension über:

Isabel Heinemann: "Rasse, Siedlung, deutsches Blut". Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas (= Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; Bd. II), Göttingen: Wallstein 2003, 697 S., ISBN 978-3-89244-623-1, EUR 50,00

Rezension von:
Elizabeth Harvey
University of Liverpool
Empfohlene Zitierweise:
Elizabeth Harvey: Rezension von: Isabel Heinemann: "Rasse, Siedlung, deutsches Blut". Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, Göttingen: Wallstein 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 9 [15.09.2004], URL: https://www.sehepunkte.de/2004/09/5115.html


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