Rezension über:

Janntje Böhlke-Itzen: Kolonialschuld und Entschädigung. Der deutsche Völkermord an den Herero 1904-1907 (= Perspektiven Südliches Afrika; 2), Frankfurt/M: Brandes & Apsel 2004, 138 S., ISBN 978-3-86099-795-6, EUR 12,90
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Felix Schürmann
Historisches Seminar, Universität Hannover
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Zimmerer
Empfohlene Zitierweise:
Felix Schürmann: Rezension von: Janntje Böhlke-Itzen: Kolonialschuld und Entschädigung. Der deutsche Völkermord an den Herero 1904-1907, Frankfurt/M: Brandes & Apsel 2004, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 10 [15.10.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/10/6481.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Janntje Böhlke-Itzen: Kolonialschuld und Entschädigung

Textgröße: A A A

Der Titel des vorliegenden, aus einer Diplomarbeit hervorgegangenen Buches, verweist auf die Entschädigungsklage der Herero People's Reparations Corporation gegen die Bundesrepublik Deutschland sowie drei deutsche Unternehmen. Die Beklagten sollen als Rechtsnachfolger derer zur Verantwortung gezogen werden, die 1904 im damaligen Deutsch-Südwestafrika einen Vernichtungskrieg gegen die Herero führten. Der Soziologin Janntje Böhlke-Itzen geht es allerdings nicht um die Klage als solche, sondern um die mit ihr verbundene Debatte über die deutsche Kolonialvergangenheit: "Die in die Diskussion eingebrachten Argumente werden in erster Linie als Träger von Konzepten, Stereotypen und Bewertungen verstanden" (29).

Zunächst erläutert der Völkerrechtler Norman Paech in einer Einführung die juristische Dimension der Klage, ohne diese dabei aus ihren historischen und moralischen Implikationen herauszulösen. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass vielfältige juristische Hürden einen Erfolg der Klage unwahrscheinlich erscheinen lassen.

Als Fundament für die Analyse der Diskussion stellt Böhlke-Itzen dieser ein Kapitel voran, in dem sie das historische Geschehen chronologisch nachzeichnet. Darin stützt sie sich auf die maßgebliche Sekundärliteratur und orientiert sich im Wesentlichen an den Ereignissen, die auch von der Klageschrift fokussiert werden.

Die nachfolgende Analyse der Diskussion untergliedert sie in vier argumentative Stränge: Zunächst stellt sie die Position derer vor, die den Genozid leugnen oder infrage stellen. Es folgen diejenigen, die das Verhalten der Deutschen relativieren und als Drittes die Argumente von denen, die eine Entschädigung aus gegenwartspolitischen Gründen ablehnen. Abschließend folgt eine Darstellung der Argumentationen für eine Anerkennung der historischen deutschen Schuld und für aus dieser zu ziehende Konsequenzen.

Der Preis dieser Gliederung, die sich an Argument und Positionierung orientiert und nicht an den diversen Zusammenhängen und Ebenen der Debatte, ist der, dass wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Argumentationen nebeneinander abgehandelt werden und dass auch Rechtsextremisten wie der wegen Volksverhetzung verurteilte Verleger Gert Sudholt und der in Südafrika lebende Publizist Claus Nordbruch zitiert werden. Die Autorin begründet dies mit der Ausrichtung ihrer Arbeit an der öffentlichen Debatte, in der eine solche Vermischung ebenfalls zu beobachten ist und in der sich auch rassistische und nationalistische Denkmuster wieder finden.

Ausgehend von den Punkten, an denen die Anschauungen besonders stark auseinander gehen, schlüsselt Böhlke-Itzen Argumentationen in ihre Kernbestandteile auf, leitet diese her und ordnet sie ein, ohne sich dabei in fachwissenschaftlichen oder politischen Nebenschauplätzen zu verstricken.

Besonderes Augenmerk richtet sie auf die 1996 verstorbenen Historikerin Brigitte Lau, deren Rolle im Diskurs deshalb eine besondere ist, weil Lau die einzige anerkannte Fachwissenschaftlerin auf dem Gebiet der Geschichte Namibias war, die den Genozid bestritt. In ihrem Aufsatz "Uncertain Certainties" hat sie 1989 die These aufgestellt, die Klassifizierung der deutschen Kriegführung als Genozid sei Produkt einer eurozentrischen Perspektive und wissenschaftlich nicht belegbar. Lau ist zwar wissenschaftlich widerlegt worden, doch gab es merkliche Unsicherheiten, wie ihre Einwände einzuordnen seien. Böhlke-Itzen wertet das Vorgehen Laus, das Bestreiten des Genozids mit dem Vorwurf des Eurozentrismus zu verknüpfen, als "Kunstgriff, der sie präventiv vor dem Vorwurf bewahren soll, ihre Argumentation sei revisionistisch, ein Feld in dem sich Lau allerdings in Bezug auf Argumentation und Begrifflichkeit in 'Uncertain Certainities' doch befindet." (65) Nicht nur in diesem Fall scheut sich Böhlke-Itzen nicht, Geschichtsrevisionismus beim Namen zu nennen. Überzeugend stellt sie auch heraus, wie durch Vergleiche der Versuch gemacht wird, die deutsche Kolonialschuld zu bagatellisieren: "Der koloniale Krieg wird zum Normalfall der Epoche konstruiert. Sogenannten Kolonialnationen wie eben auch Deutschland kommt dabei keine Schuld zu, [...] die koloniale Kriegsführung wird somit zu einem damals legitimen Unternehmen, zu einer natürlichen Epoche der Entwicklung" (88).

Lesenswert ist auch der Exkurs über Vergleiche vom Genozid an den Herero mit dem Holocaust, in dem die Autorin aufzeigt, wie der Topos der Singularität des Holocaust von verschiedenen Seiten instrumentalisiert wird. So argumentieren etwa Vertreter der SPD, eine Entschädigungszahlung an die Herero würde die Singularität des Holocaust infrage stellen. Auf der anderen Seite kritisiert der Rechtsextremist Nordbruch die angeblich inflationäre Verwendung des Völkermord-Begriffes, die er als Resultat antideutscher Propaganda sieht, die mit einem deutschen Schuldkomplex korrespondiere. Der Klageführer der Herero People's Reparations Corporation, Mburumba Kerina, deutet wiederum, die unterschiedliche Hautfarbe sei der Grund dafür, dass die Bundesrepublik die überlebenden Opfer des Nationalsozialismus entschädigt und die Herero nicht.

Drei Mängel der Arbeit sollen trotz der genannten Qualitäten nicht verschwiegen werden: Die erste Schwachstelle ist die historische Darstellung, die in einigen Punkten zu ungenau (beispielsweise in der Darstellung des kolonialen "Landerwerbs"), unvollständig (etwa bei den Kriegsursachen) und insgesamt zu kurz bleibt, um ihre Funktion als historischer Überblick für das Verständnis der Diskussion zufriedenstellend erfüllen zu können.

Des Weiteren findet die namibische Seite der Debatte um Kolonialschuld und Entschädigung allenfalls in Randbemerkungen statt. Aktuelle namibische Fragen an die Kolonialgeschichte, etwa nach den Zusammenhängen zwischen kolonialer Landnahme und der aktuellen Landfrage oder zwischen der Entschädigungsforderung und der Politisierung von Ethnizität, werden nahezu vollständig ausgeklammert. Auch differenziert die Autorin hier bei Weitem nicht so detailliert aus, wie ihr das bei der deutschen Seite gelingt. So verwendet sie die Kollektivbezeichnung "die Herero" weitgehend synonym mit der Herero People's Reparations Corporation, ohne Rücksicht darauf, dass Paramount Chief Riruako und Klageführer Kerina - die einzigen Herero, die in der Arbeit erwähnt werden - unter den Herero weder unumstritten noch für diese repräsentativ sind. So kommen Pauschalitäten wie: "Die Herero selber sehen den Genozid als 'ihren' Holocaust an [...]" (90), zu Stande.

Zum Dritten fehlt es der Arbeit an begrifflicher Reflexion. Das ist etwa beim zentralen Begriff des Genozids der Fall, der laufend gebraucht, aber nirgendwo erklärt wird. Zudem werden problematische (und von der Forschung problematisierte) Kategorien wie "Stamm" und "Häuptling" zu leichtfertig verwendet. In zwei Fußnoten thematisiert die Autorin zwar die Problemhaftigkeit dieser Begriffe, tut dies aber mit der Behauptung ab, sie seien alternativlos, da "Ausweichbegriffe" lediglich unzureichende "Hilfskonstruktionen" (35) darstellten. Dabei beruft sie sich auf Leonhard Hardings "Einführung in das Studium der Afrikanischen Geschichte" und wird diesem damit nicht gerecht: Harding problematisiert an der zitierten Stelle zwar das Nichtvorhandensein eines Begriffes, der afrikanische Gesellschaften in ihrer Komplexität zu erfassen geeignet ist, stellt aber zugleich fest: "Der Begriff 'Stamm' [...] hilft also bei der Beschreibung afrikanischer Gesellschaften nicht weiter; er fixiert vielmehr Entwicklungen, bricht sie ab und interpretiert sie aus einer statischen Fremdperspektive." [1]

Nichtsdestotrotz handelt es sich alles in allem um eine übersichtliche, sorgfältige und schlüssige Einführung in die deutsche Dimension der Debatte, die sich vor allem durch die Präzision in der Analyse der Argumente derer auszeichnet, die noch heute nicht wahrhaben wollen, was Deutsche vor nunmehr einhundert Jahren in Namibia angerichtet haben.


Anmerkung:

[1] Leonhard Harding: Einführung in das Studium der Afrikanischen Geschichte, 2. Auflage, Münster u. a. 1994. (= Studien zur Afrikanischen Geschichte; Bd. 4), 40.

Felix Schürmann