Rezension über:

Heinrich Niehues-Pröbsting: Die antike Philosophie. Schrift, Schule, Lebensform (= Europäische Geschichte), Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2004, 282 S., ISBN 978-3-596-60106-6, EUR 10,90
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Claudia Horst
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Claudia Horst: Rezension von: Heinrich Niehues-Pröbsting: Die antike Philosophie. Schrift, Schule, Lebensform, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 3 [15.03.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/03/7398.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Heinrich Niehues-Pröbsting: Die antike Philosophie

Textgröße: A A A

Das Besondere an der von Heinrich Niehues-Pröbsting vorgelegten Philosophiegeschichte ist die Wahl eines in der Einleitung ausgeführten theoretischen Ansatzes, mit dem er sich von bisherigen Formen der Darstellung distanziert. Mit dem Vorhaben, an die Stelle eines doxografischen Überblicks die Herausarbeitung der Formen der Philosophie treten zu lassen, die als Schrift, Schule und Lebensform nicht nur eine bloße Widerspiegelung philosophischer Inhalte seien, sondern die Ausbildung verschiedener Lehrmeinungen unmittelbar mitbeeinflussten, wäre Niehues-Pröbsting in der Nähe moderner kulturwissenschaftlicher Ansätze zu verorten, die sich ebenfalls von explizit ideengeschichtlichen Darstellungsformen distanzieren. In den einzelnen Fachwissenschaften gibt es mittlerweile recht prominente Arbeiten, die ebenso wie Niehues-Pröbsting keine textimmanente Interpretation zugrunde legen, sondern nach dem Selbstverständnis, den populären Erwartungen, Repräsentationsformen, Praktiken beziehungsweise Techniken der Philosophie fragen. [1]

Niehues-Pröbsting, der den Begriff Lebensform keineswegs einer exakten terminologischen Fixierung unterziehen möchte, grenzt sich andererseits explizit von soziologischen Ansätzen ab, die die philosophischen Lebensformen lediglich als "geschichtlich eingeübte soziale Verhaltensweisen" (144) interpretieren und dabei das der Philosophie eignende Konversionsmoment übersehen, das letztlich ihren Nonkonformismus gegenüber allen anderen Lebensformen erkläre. Der Eindruck, es werde an dieser Stelle versucht, die Philosophie wieder isoliert von ihren Bewusstseinsinhalten aus zu betrachten, wird spätestens im Zusammenhang der Untersuchungen zur kaiserzeitlichen Stoa widerlegt. Hier kommt er zu dem Ergebnis, dass der so genannte Nonkonformismus der Philosophen oder das Recht auf Parrhesie ein integraler Bestandteil der Gesellschaft war. In diesem Zusammenhang wäre an die so genannte stoische Senatsopposition des 1. Jahrhunderts zu denken, deren Kritik zwar stets konkretes Fehlverhalten einzelner Kaiser betraf, aber nie auf den Prinzipat als solchen beziehungsweise dessen Abschaffung gerichtet war.

Eine Analyse der Formen zeigt zudem auch, welche Bedingungen es gab, die uns den Anfang und das Ende antiker Philosophie verständlich machen. Diese letzte Frage stellt gewissermaßen den Rahmen für die drei großen Kapitel des Buches dar, die sowohl die literarischen und schulischen Formen als auch die Philosophie insgesamt als Lebensform untersuchen.

Um die Voraussetzungen zu erkennen, unter denen die antike Philosophie entstehen konnte, sei es notwendig, sich von den großen geschichtsphilosophischen Aussagen in der Tradition von Hegel und Heidegger zu lösen, die je nach Wertschätzung des Anfangs der Philosophie ihren Fortgang entweder als Erfolgs- oder Verfallsgeschichte konzipiert haben. Gegen Heidegger, der die Vorstellung eines permanenten Niedergangs der Philosophie entwickelt und den Ursprung der Philosophie bei den Vorsokratikern vermutet, denen unberührt von den Schichten einer sie überlagernden Tradition im Gegensatz zu uns noch ein reiner Zugang zu den Problemen und Sachlagen der Philosophie offen gestanden hätte, wendet Niehues-Pröbsting ein, dass es niemals eine unvermittelte, sondern immer nur eine historisch bedingte Perspektive auf die Problemlagen der Philosophie gegeben habe, was für die Vorsokratiker in gleichem Maße gelte wie für unsere zeitgenössische Philosophie.

Die andere auf Hegel zurückgehende These einer stetigen Fortentwicklung, entdeckt den Anfang der Philosophie bei den Griechen und der dortigen Einführung der Schriftlichkeit. Aufgrund der Schrift konnte die den Bedingungen der Oralität angepasste versgebundene und narrative Dichtung allmählich durch die prosaische Literatur abgelöst werden. Dieser Prozess habe einen Theoretisierungsschub vorangetrieben, insofern zum Beispiel grammatisch die Subjekte, die zuvor meist handelnde Personen waren, durch abstrakte Gegenstände und Begriffe ersetzt wurden.

Hierbei, so Niehues-Pröbsting, handle es sich jedoch um die Projektion eines erst in der Neuzeit entstandenen Begriffes der Philosophie auf die Antike, der zum einen als Folge des Buchdruckes inhaltlich immer mehr an wissenschaftliche Standards und die uns bekannte Form des veröffentlichten Textes gebunden wurde. Darüber hinaus habe die zunehmende dichotomische Gegenüberstellung von Wissenschaft und Kunst dazu geführt, dass uns die formalen Kriterien fehlen, um dasjenige, was sich einer exakten Theorie oder einer systematischen Darstellung entzieht, noch als Philosophie bezeichnen zu können, wie die zwischen Dichtung und Wahrheit angesiedelten Texte der Antike.

Im ersten Teil wird gezeigt, dass die Philosophie nie so eng an die Prosa gebunden war wie nach neuzeitlichem Verständnis die Wissenschaft. Am Beispiel von Parmenides und Heraklit, die beide noch von den literarischen Formen Epos und Spruch Gebrauch machen, könne gezeigt werden, dass sich der Fortschritt auch im Medium älterer Formen vollziehen konnte. Dass die Wahl einer epischen Form nicht als rückschrittlich und als Zeichen einer substanziellen Verbindung zum Mythos gedeutet werden müsse, lege ein Vergleich mit dem im 1. Jahrhundert vor Christus schreibenden Lukrez dar, bei dem jene Form aufgrund ihrer didaktischen Funktion beibehalten wurde, der allein es gelinge, den spröden Stoff durch ästhetische Gestaltung attraktiver zu machen.

Die Schriften des Aristoteles zeigen, dass die These, die Prosaerrungenschaft habe insgesamt zu einer zunehmenden Verwissenschaftlichung der Philosophie geführt, in diesem Fall nicht mehr als eine Ironie der Geschichte ist. Erhalten blieben nämlich nur die esoterischen und nicht die exoterischen Schriften, die an ein größeres Publikum gerichtet waren und, folgt man den Worten Ciceros, der vom "goldenen Fluss" der aristotelischen Rede sprach, auf rhetorische und literarische Effekte nicht verzichteten (76).

In der römischen Kaiserzeit fand die Entwicklung neuer Formen ihren Abschluss. Dass es nur noch auf die Übernahme bisheriger Formen ankam, entsprach der derzeitigen Lage der Philosophie insgesamt, die nicht mehr daran interessiert war, den Wahrheitsgehalt von Aussagen philosophisch zu rechtfertigen, sondern als wahr anerkannte und durch die Tradition gerechtfertigte Lehrsätze, auf die Gegenwart anzuwenden. Dies zeigen vor allem die Briefe, Sentenzen und Diatriben, die zwar an das durch Sokrates geprägte therapeutische Verständnis der Philosophie anknüpften, aber den maieutischen und elenktischen Charakter vollständig durch einen rein paränetischen verdrängten, der ausschließlich auf die populäre Wirksamkeit der Philosophie und ihren pädagogisch-didaktischen Nutzen gerichtet war.

Im zweiten Teil wird anhand der Schulischen Formen der in der Antike immer noch geltende Vorrang der Mündlichkeit gegenüber der Schriftlichkeit herausgestellt. Die zwischen Lehrern und Schülern im Gespräch geübte Kritik galt als entscheidende Voraussetzung der Selbsterkenntnis, ohne die nach damaligem Verständnis der Erwerb wahren Wissens nicht möglich gewesen wäre. Wie eng Form und Inhalt zusammenhängen, zeige schließlich die seit Platon einsetzende Systematisierung der Philosophie. Die Dreiteilung in Logik, Ethik und Physik müsse als unmittelbares Produkt der Verschulung der Philosophie verstanden werden.

Dass auch das Selbstverständnis antiker Philosophen nicht an der schriftlichen Form hing, wird im dritten Teil anhand der Lebensformen aufgezeigt. Hier hätte eventuell deutlicher hervorgehoben werden können, dass sich in der Kaiserzeit eine Spaltung zwischen der Philosophie im Sinne des logon didonai und den so genannten philosophischen Lebensformen beobachten lässt. Ein Indiz dafür wäre die Kritik der Skeptiker, die das Konzept der Lebenskunst radikal infrage stellten und im Gegensatz zu Vertretern anderer Schulen durch äußere Unauffälligkeit auffielen.

Die im Schlussteil erörterte Frage, unter welchen Bedingungen die antike Philosophie endete, wird zu dem Ergebnis geführt, dass viele Philosophenschulen sich nicht erst seit dem Edikt Justinians, das im Jahre 529 nach Christus die Lehrtätigkeit von Nichtchristen verbot, sondern bereits im 1. Jahrhundert vor Christus nach der Eroberung Athens durch Sulla im 1. Mithridatischen Krieg auflösten. Bisherige schulische Formen gab es zunächst nur noch als private Einrichtungen und später als mit öffentlichen Geldern erhaltene Lehrstühle. Marc Aurel versuchte schließlich, mit der Stiftung von vier Lehrstühlen aus Athen wieder ein neues Zentrum der philosophischen Kultur zu machen. In erster Linie sei das Ende der antiken Philosophie jedoch das Ende der antiken Lebensformen gewesen, die insbesondere durch das Christentum beziehungsweise das Mönchtum verdrängt wurden. Das Konzept der Erlösungsbedürftigkeit, das im Gegensatz zum Konzept der philosophischen Selbstmächtigkeit nicht einer elitären Minderheit vorbehalten gewesen sei, habe dem Christentum von vornherein eine breitere Basis verschafft und seinen Moralvorstellungen letztlich zum Durchbruch verholfen.

Festzustellen ist, dass die mit einem Anmerkungsapparat versehene Philosophiegeschichte von Niehues-Pröbsting aufgrund des methodischen Ansatzes neue Forschungsergebnisse für die antike Philosophie bietet. Die dem Autor lieb gewordene Überzeugung, dass Wissenschaft auch eine Form der Ästhetik sei, manifestiert sich schließlich auch in seinem eigenen Sprachduktus, der sicherlich nicht nur ein breiteres Publikum davon überzeugen kann, dass auch Philosophiegeschichten lehrreich und gut lesbar zugleich sein können.


Anmerkung:

[1] Vgl. dazu Thomas Schmitz: Bildung und Macht. Zur sozialen und politischen Funktion der zweiten Sophistik in der griechischen Welt der Kaiserzeit, München 1997; Johannes Hahn: Der Philosoph und die Gesellschaft. Selbstverständnis, öffentliches Auftreten und populäre Erwartungen in der hohen Kaiserzeit, Stuttgart 1989; Paul Zanker: Die Maske des Sokrates. Das Bild des Intellektuellen in der antiken Kunst, München 1995 sowie allgemein die von Pierre Hadot vorgelegten Forschungen zur Stoa.

Claudia Horst