Christine Hatzky: Julio Antonio Mella (1903-1929). Eine Biographie (= Forum Ibero-Americanum Acta Coloniensia; Bd. 2), Frankfurt/M: Vervuert 2004, 436 S., ISBN 978-3-86527-135-8, EUR 56,00
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Wozu und zu welchem Nutzen schreiben Historiker Biografien? Christine Hatzky gibt in ihrer minuziösen Dissertation über den Werdegang des kubanischen Intellektuellen und Revolutionärs Julio Antonio Mella eine ebenso einfache wie einleuchtende Erklärung: weil das kurze Leben Mellas facettenreicher verlaufen ist als es bisher dargestellt wurde. Hatzky schreibt gegen die offiziöse Geschichtsschreibung von Castros Kuba, das Mellas scharfsinnige Analysen der sozialen Ungleichheit und des US-amerikanischen Imperialismus der 1920er-Jahre, sein Organisationstalent, seine Tatkraft, seine Mitwirkung in der Studentenbewegung sowie in der Kommunistischen Partei betont. Im Unterschied zu Nicaraguas Augusto César Sandino, um den sich bereits zu Lebzeiten ein Mythos bildete, hätte die Figur Mellas ohne ihre spätere politische Vereinnahmung niemals die Berühmtheit erlangen können, die sie heute genießt.
Hatzky unterteilt ihr Buch in vier Kapitel. Nach der Einleitung folgt als zweiter Teil die Beschreibung der Jahre von 1903 bis 1926. Danach werden die Exiljahre von 1926 bis 1929 geschildert. In der Schlussbetrachtung werden die Ergebnisse zusammengefasst. Mella wuchs in bürgerlichen Verhältnissen auf. Als illegitimer Sohn einer US-Amerikanerin und eines Kubaners bewegte er sich in kubanischen, nordamerikanischen und mexikanischen Kontexten. Wie viele seiner Zeitgenossen entwickelte er zu den seit dem Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898 allgegenwärtigen nordamerikanischen Einflüssen, denen er eine modernisierende Wirkung attestierte, zunächst ein überwiegend affirmatives Verhältnis.
In den 1920er-Jahren kippte jedoch bei ihm ebenso wie bei vielen Zeitgenossen die US-Euphorie. Intellektuelle, Künstler und Studenten forderten die Aufhebung des von der Besatzungsmacht erzwungenen Platt Amendments, das den USA ein Interventionsrecht gab. Die hohe Außenverschuldung, die zu Abhängigkeit führte, war ein zweiter Kritikpunkt. Ein weiterer Stein des Anstoßes waren die Schutzgarantien, welche die externe Macht korrupten und - seit 1924, als Gerardo Machado an die Macht kam - autoritären Regimes gaben. Der Unmut richtete sich freilich nicht nur gegen die USA, sondern zunehmend auch gegen unfähige Politiker und Bürokraten aus dem konservativen und liberalen Establishment. Ihr Missmanagement bei der Ressourcenverwaltung und der von ihnen systematisch betriebene Wahlbetrug führten zu Protest. Einen weiteren Unruheherd bildeten die Veteranen des Unabhängigkeitskrieges, die für ihre Verdienste endlich besser entschädigt werden wollten. Schließlich streikten große Teile der Arbeiterschaft. Sie verlangten bessere Arbeitsbedingungen, mehr Freizeit und höhere Löhne. Auch an den Universitäten gärte es; dort forderten die Studenten die Modernisierung des Bildungswesens.
Mella, das zeigt Hatzky sehr genau, mischte in dieser Aufbruch- und Umbruchphase in verschiedenen Töpfen mit, ohne von einer kohärenten Theorie geleitet gewesen zu sein. Sein Antrieb bestand in seinem Bewusstsein für gesellschaftliche Ungerechtigkeit und US-Imperialismus; die marxistisch-leninistische Analyse kam erst allmählich durch den Kontakt mit linken Intellektuellen und Arbeiterführern hinzu. Wie sich das für Kinder aus der Mittel- und Oberschicht seiner Zeit gehörte, schrieb sich Mella als Student der Jurisprudenz an der Universität Havanna ein. Dort gab er 1922 und 1923 die Zeitschrift Alma Mater heraus. 1924 schuf er sich mit der Zeitschrift Juventud eine neue politische Plattform; sie wurde nach dem Amtsantritt Machados 1925 verboten. Zusammen mit Gleichgesinnten aus der Federación de Estudiantes Universitarios kämpfte Mella für die Unabhängigkeit der Universität sowie die Entlassung unfähiger Professoren. Verschnupft über Differenzen mit weniger radikalen Kommilitonen zog er sich am 30. Dezember 1923 aus der Studentenpolitik zurück. Hier zeigte sich, dass er mit institutionalisierter Interessenvertretung, welche immer ein gewisses Maß an Pragmatismus voraussetzt, seine Mühe hatte. Mella wendete sich nun der Parteipolitik zu. Zusammen mit Gesinnungsgenossen gründete er im August 1925 die Kommunistische Partei Kubas. Die Universität schloss ihn im selben Jahr mit einer fadenscheinigen Begründung aus. Im Oktober 1925 verhafteten ihn die Häscher des Machado-Regimes zusammen mit anderen politischen Aktivisten. Mella quittierte seine Gefangennahme mit einem Hungerstreik, welcher national und international Aufsehen erregte. Über seine dank des öffentlichen Drucks erzwungene Freilassung konnte er sich allerdings nicht wirklich freuen, denn die Führung der Kommunistischen Partei schloss ihn im Januar 1926 aus. Als Begründung führten die Weggefährten an, er habe die Aufforderung zur Beendigung des Hungerstreiks ignoriert.
Verlassen von seinen Gesinnungsgenossen und verfolgt vom Machado-Regime, floh Mella von Kuba nach Mexiko. Dort hatte er Fürsprecher in der intellektuellen und künstlerischen Avantgarde, im politischen Establishment, in der Kommunistischen Partei und in der Gewerkschaftsbewegung. Mella beteiligte sich an den zeitgenössischen Debatten; hervorzuheben sind etwa seine polemischen Angriffe auf den Populismus des peruanischen Internationalisten Víctor Raúl Haya de la Torre. Den praktischen Referenzpunkt bildeten aber weiterhin die Verhältnisse auf Kuba. Die mit Gleichgesinnten geschmiedeten Pläne zum Sturz Machados, den er nicht ganz zu Unrecht mit Mussolini verglich, konnte er allerdings nicht mehr in die Tat umsetzen. Am 10. Januar 1929 wurde Mella in seinem Exil in einen Hinterhalt gelockt und umgebracht. Die Indizien deuten, laut Hatzky, darauf hin, dass Machado die Ermordung selbst in Auftrag gegeben hatte.
In ihrer Studie legt Hatzky viele verschüttete oder bewusst unterdrückte Fakten aus dem Lebensweg Mellas frei - etwa seine bürgerliche, US-amerikanisch geprägte Sozialisation, die sich dem zeitgenössischen linken Ideal des Arbeiters und Bauern entzog, oder seine Schwierigkeiten mit der organisierten Studenten- und Arbeiterbewegung. Sie erörtert Mellas Radikalisierungsprozess, indem sie zwischen persönlicher Veranlagung, Sozialisation und "objektiver" gesellschaftlicher Situation unterscheidet. Sie deutet an, dass für Mella in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre auch ein Weg außerhalb der Kommunistischen Partei durchaus möglich gewesen wäre. (Um seine letzte Geliebte, die Fotografin Tina Modotti, nicht zu verlieren, erwog Mella sogar die gemeinsame Auswanderung nach Argentinien). Mit ihrer abgewogenen Darstellung hat Hatzky eine interessante Persönlichkeit der lateinamerikanischen Linken aus der schematischen Darstellung der sozialistischen Historiografie Kubas befreit. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Text rasch ins Spanische übersetzt wird, denn in Deutschland hat es im Unterschied zu Kuba weder einen Kult um Mellas Person noch eine politische Instrumentalisierung seiner Leistung gegeben, die es zu dekonstruieren gäbe.
Thomas Fischer