sehepunkte 5 (2005), Nr. 4

Franca Landucci Gattinoni: L'arte del potere

Die Periode, in der Kassander über Makedonien und Griechenland herrschte, ist bislang eher stiefmütterlich behandelt worden: Allenfalls in Handbüchern zu Makedonien oder dem Hellenismus findet sie kurze Behandlung. Ausnahmen stellen das Buch von Marcello Fortina [1] und die 1982 veröffentlichte Erlanger Dissertation von Kostas Buraselis [2] dar. Buraselis jedoch behandelt lediglich die Außenpolitik Kassanders; ansonsten ist immer noch auf den vorbildlichen Artikel von Felix Stähelin zurückzugreifen. [3]

Das vorliegende Buch gliedert sich in drei Kapitel, die in je vier beziehungsweise fünf Unterkapitel unterteilt sind. Im Prolog (13-25) mit dem bezeichnenden Untertitel "La cronologia di una storia" setzt sich Landucci Gattinoni mit der in Details umstrittenen Chronologie der Jahre zwischen dem Tod Alexanders des Großen und dem Tod Kassanders 297 vor Christus auseinander; den Prolog beschließt eine nach attischen Jahren gegliederte Übersicht. Landucci Gattinoni hält sich an die so genannte 'tiefe Chronologie', die den Tod des Perdikkas und die Konferenz von Triparadeisos in das Jahr 320 beziehungsweise in die zwei attischen Jahre 321/320 und 320/319 setzt.

Das erste Kapitel mit dem doppeldeutigen Titel "A 'caccia' del potere" (27-56) beschäftigt sich mit der Erringung der Macht in Makedonien durch Kassander. Großes Gewicht (44-56) legt die Autorin auf das bereits 1980 entdeckte Grab von Vergina, in dem der griechische Archäologe Manolis Andronikos die letzte Ruhestätte Philipps II. vermutet hatte. Jetzt steht jedoch fest, dass hier Philipp III. Arrhidaios zusammen mit seiner Gemahlin Eurydike bestattet wurde. Auf einem Fresko in der Grabkammer ist rechts Philipp III. auf der Löwenjagd dargestellt, während im Zentrum ein Jüngling zu sehen ist, der von einigen als Alexander IV. identifiziert wird. Landucci Gattinoni (55-56) hingegen erkennt hierin Kassander selbst. Dieser habe als Auftraggeber des Freskos die Zurücksetzung durch seinen Vater Antipater kompensieren und seine politische und militärische Reife beweisen wollen, da Antipater die Macht kurz vor seinem Tod nicht an seinen Sohn, sondern an Polyperchon übergeben hatte.

In "La famiglia e il potere" (57-93) untersucht die Autorin die Machtstrukturen, die Kassander, gestützt auf die zahlreichen Mitglieder seiner Familie, auch für die Zukunft aufzubauen versuchte; zu nennen sind allein sechs Brüder und vier Schwestern. Ein Stammbaum (59) der Nachkommen des Antipater, aus dem später die Linie der Antigoniden hervorging, belegt diese dynastische Säule der Politik Kassanders. Deren letztendliches Scheitern allerdings demonstriert Landucci Gattinoni (89-93) eindrücklich anhand des Mittelfreskos an der Ostwand der Villa von Boscoreale am Fuß des Vesuv, die 1901 entdeckt wurde. Dargestellt (91) ist ein halb nackt in heroischer Pose auf einem Thron sitzender Mann, der sich auf einen Stab stützt; zu seiner Linken befindet sich eine in Nachdenklichkeit versunkene, ebenfalls sitzende Frau. Landucci Gattinoni plädiert für eine Identifikation des Auftraggebers des hellenistischen Vorbildes mit Antigonos Gonatas. Dargestellt wäre dann Phila, eine Schwester Kassanders, mit ihrem Gatten Demetrios, dem Sohn des Antigonos Monophthalmos. Im Bild festgehalten ist somit die Ironie des Schicksals, nach der allein Phila die Linie des Antipater fortsetzt und schließlich zur "Urmutter" der Antigoniden wird, während die gesamte männliche Nachkommenschaft kurz nach dem Tod des Kassander ausgelöscht wird. Nach Landucci Gattinoni bedeutet dies das vollständige Scheitern der dynastischen Bestrebungen Kassanders schon in der ersten Generation.

Das dritte Kapitel "La struttura del potere" (95-144) untersucht ausführlich die Stadtgründungen Kassanders. Dabei handelt es sich um Kassandreia und Thessalonike in Makedonien, außerhalb Makedoniens um die Neugründung des von Alexander zerstörten Theben. Während bei den beiden erstgenannten Städten, benannt nach Kassander selbst und seiner Gattin, die Gründungen offensichtlich dem eigenen Ruhm dienen sollen (104), weist Landucci Gattinoni in Bezug auf Theben den vielfach geäußerten Gedanken eines Affronts gegen den verstorbenen Alexander von sich und begründet das Vorgehen Kassanders rein strategisch: Neben der notwendigen Wiedereingliederung der zahlreichen nach Athen geflohenen Thebaner sei die Existenz einer von Kassander kontrollierten Festung am Schnittpunkt von Nordgriechenland, Attika und der Peloponnes unverzichtbar gewesen (110).

Für die Titulatur Kassanders zieht Landucci Gattinoni Epigraphik und Numismatik zurate: Abweichend von der üblichen Titulatur der Könige nach Alexander, basileus, wird Kassander in zwei Inschriften aus Dion und Kassandreia (134-135) mit basileus Makedonon Kassandros angesprochen. Bereits André Aymard erwies Mitte des 20. Jahrhunderts dies als die offizielle Titulatur der makedonischen Monarchie. Entsprechend dieser Tradition, so Landucci Gattinoni (135), habe sich Kassander seinen Untertanen ethnisch verbunden zeigen wollen. Anders der Münzbefund: Während Kassander nach seinem Regierungsantritt weiter Gold- und Silbermünzen mit den Namen Philipps II. und Alexanders prägen lässt, finden sich Serien ausschließlich von Bronzemünzen mit der Umschrift basileos Kassandrou oder seltener Kassandrou, jedoch keine, die ihn als 'König der Makedonen' bezeichnen. Dies wäre nach Meinung der Autorin überflüssig gewesen, da die Bronzemünzen als Propagandamittel nur innerhalb Makedoniens im Umlauf gewesen seien, während die wertvolleren Gold- und Silbermünzen für den externen Geldverkehr geprägt wurden. Erneut vermutet Landucci Gattinoni hier den Hintergrund der Festigung der Strukturen im Inneren Makedoniens durch Kassander, ohne machtpolitisch weiter ausgreifen zu wollen.

In ihrem Schlusskapitel "Considerazioni storiche e storiografiche" (145-150) fasst Landucci Gattinoni ihre Ergebnisse zusammen. Drei Komplexe macht sie als Kernpunkte der Politik Kassanders aus: Einerseits die Beachtung makedonischer Empfindlichkeiten, die sich in der Heirat mit Thessalonike, einer Tochter Philipps II., und dem Begräbnis des Königspaares, Philipp III. und Eurydike, niederschlägt. Zum Zweiten die bewusste Beschränkung auf Makedonien und Griechenland, um sich so aus territorialen Auseinandersetzungen weitgehend herauszuhalten und die eigene Stellung zu sichern. Ferner betrieb Kassander eine sehr geschickte Auswahl seiner Beauftragten, wie die Einsetzung des Philosophen Demetrios von Phaleron zeigt, der von 317-307 vor Christus als Statthalter in Athen wirkte; daneben setzte er stark auf seine eigenen Familienmitglieder, wie seinen Bruder Pleistarchos.

Das insgesamt negative Bild Kassanders als Alexandermörder in den Quellen führt Landucci Gattinoni auf die Benützung des Hieronymos von Kardia durch Plutarch und Pausanias zurück; Diodors Beschreibung hingegen sei hauptsächlich auf das historische Geschehen bezogen und daher frei von moralisierenden Wertungen. Gestützt auf eigene Studien benennt Landucci Gattinoni den Historiker Duris von Samos als Hauptquelle Diodors. [4] Sie plädiert für eine positivere Charakterisierung Kassanders, doch ist diese Auffassung nicht eigentlich neu, sondern bereits bei Felix Stähelin vorgezeichnet. [5]

Die Arbeit Landucci Gattinonis zeichnet sich durch eine gelungene Analyse der Quellen aus, die in den Anmerkungen wörtlich wiedergegeben sind. Besonders positiv fällt die Berücksichtigung und Auswertung der archäologischen, numismatischen und epigrafischen Evidenz auf. Hinzu tritt eine ausführliche, stellenweise sehr kritische Diskussion der älteren wie der rezenten Sekundärliteratur, wobei die Autorin allerdings selten zu wirklich neuen Schlussfolgerungen gelangt. Das Buch wird von einer ausführlichen, fast 20-seitigen Bibliografie und einem erschöpfenden Index beschlossen, der alle in der Untersuchung behandelten Textstellen auflistet. Die Monografie Landucci Gattinonis ist ein äußerst wichtiger Beitrag zur Erforschung der makedonischen Geschichte im ausgehenden 4. Jahrhundert vor Christus und zur Würdigung des zu Unrecht verfemten Kassander.


Anmerkungen:

[1] Marcello Fortina: Cassandro, re di Macedonia, Turin 1965.

[2] Kostas Buraselis: Das hellenistische Makedonien und die Ägäis. Forschungen zur Politik des Kassandros und der drei ersten Antigoniden (Antigonos Monophthalmos, Demetrios Poliorketes und Antigonos Gonatas) im Ägäischen Meer und in Westkleinasien (= Münchener Beiträge zur Papyrusforschung und antiken Rechtsgeschichte; 73), München 1982.

[3] Felix Stähelin: s.v. Kassandros, RE X 2, 1919, 2293-2313.

[4] Besonders zu nennen ist hier ihre Monografie Duride di Samo, Rom 1997.

[5] Felix Stähelin (wie Anm. 3), 2312-2313.

Rezension über:

Franca Landucci Gattinoni: L'arte del potere. Vita e opere di Cassandro di Macedonia (= Historia. Einzelschriften; Bd. 171), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2003, 184 S., ISBN 978-3-515-08381-2, EUR 36,00

Rezension von:
André Heller
Institut für Geschichte, Friedrich-Alexander-Universität, Erlangen-Nürnberg
Empfohlene Zitierweise:
André Heller: Rezension von: Franca Landucci Gattinoni: L'arte del potere. Vita e opere di Cassandro di Macedonia, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2003, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 4 [15.04.2005], URL: https://www.sehepunkte.de/2005/04/6966.html


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