sehepunkte 5 (2005), Nr. 7/8

Wolfgang Form / Oliver Uthe (Hgg.): NS-Justiz in Österreich

Totalitäre Regime sind sehschwach. Durch die Zerstörung der Öffentlichkeit blenden sie sich selbst und nehmen weite Bereiche der Wirklichkeit nicht mehr wahr. Sie glauben, Politik könne mehr leisten als die Wirklichkeit zu verändern, nämlich Wirklichkeiten nach eigenen Gesetzen zu schaffen. Das Studium der umgebenden Welt ist in ihren Augen daher eine Sache für tatenarme Schwächlinge, deren öffentliche Artikulation man allerdings in seltsamer Widersprüchlichkeit mit massivem Machteinsatz verhindert. Dort, wo die freie Öffentlichkeit unter Druck gesetzt oder gar erstickt wird, blüht indes das Berichtswesen auf, denn auch die Instanzen des totalitären Staates wollen sich nicht gänzlich auf ideologisch-propagandistische Wirklichkeitsbilder verlassen. Aus dem Dritten Reich sind uns die Lageberichte des SD überliefert [1], ferner Lageberichte diverser Gestapo-Stellen [2]. (Ein Äquivalent für die stalinistische Sowjetunion bilden die Lageberichte der Geheimpolizei OGPU für die Kreml-Führung, die jetzt für die Jahre 1922-1934 ediert werden. [3]) Nicht zu vergessen sind auch die Ermittlungen der Opposition gegen das NS-Regime, vor allem die "Grünen Berichte", die die Exil-SPD aufgrund von Mitteilungen ihrer im Lande befindlichen Gewährsleute von 1934 bis 1940 zusammengestellt hat. [4] Schon seit der Jahreswende 1935/36 waren die Generalstaatsanwälte und Oberlandesgerichtspräsidenten des deutschen Reiches gehalten, regelmäßige "politische Wetterberichte" an das Reichsjustizministerium zu senden, das sich auf diese Weise Orientierung nicht nur über die Vorgänge im Justizapparat, sondern in der Gesellschaft generell verschaffen wollte. Auch dieser umfangreiche Quellenfundus ist mittlerweile erschlossen und zu einem allerdings eher geringen Teil ediert. [5]

Die von Wolfgang Form und Oliver Uthe besorgte Edition der entsprechenden Lage- und Reiseberichte aus dem angeschlossenen Österreich bildet hier eine wertvolle Ergänzung. Bemerkenswert ist sie auch als ein Ergebnis einer deutsch-österreichischen Kooperation bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Solche Zusammenarbeit ist ja, obwohl es sich über weite Strecken um eine gemeinsame Vergangenheit handelt, keineswegs der Regelfall. Die Edition ist Teil eines von der Philipps-Universität Marburg und dem Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes zusammen betriebenen größeren Projekts zur Tätigkeit der NS-Justiz in Österreich.

Über die Lageberichte der Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte aus Innsbruck, Graz, Linz und Wien hinaus sind auch auf Österreich bezogene Lageberichte des Oberreichsanwalts beim Volksgerichtshof sowie Reiseberichte von führenden Beamten des Reichsjustizministeriums in die Edition aufgenommen worden. Während in den Berichten des Oberreichsanwalts naturgemäß politische Strafsachen und insbesondere die justizielle Verfolgung des Widerstands dominieren, spiegeln sich in den Reiseberichten vor allem organisatorische Fragen des Justizwesens in der "Ostmark" wider. Das Spektrum reicht beispielsweise von der Einrichtung eines "fliegenden Sondergerichts" mit Sitz in Marburg (Maribor) für die 1941 "befreiten Gebiete" Sloweniens, die vom Reich annektiert worden waren, bis hin zu Staatssekretär Schlegelbergers Feststellung von 1940, dass ein Amtsgerichtsrat Dr. Lackner auf ihn einen sehr zufriedenen Eindruck gemacht habe: "Auch er fühlt sich in Gloggnitz sehr wohl (Bergsteiger)." (388).

Die Berichte aus den Oberlandesgerichtsbezirken sollten sich, auch wenn sie eine Vielzahl von Ausführungen zur Rechtsprechung auf den verschiedensten Gebieten enthalten, ausdrücklich nicht auf Vorgänge innerhalb des Justizsystems beschränken, sondern darüber hinaus Eindrücke von der gesellschaftlichen Wirklichkeit vermitteln. Da mussten sich die hohen Herren in Berlin dann auch einmal sagen lassen, dass die zahlreichen Altreichsdeutschen aus den luftkriegsbedrohten Gebieten Nord- und Westdeutschlands einen ungünstigen Einfluss auf die alteingesessene Bevölkerung in Innsbruck und Umgebung ausübten: "Anstatt nämlich unter Beweis zu stellen, dass sie eine nationalsozialistische Erziehung genossen haben, die um 5 Jahre länger währte als die der Ostmärker, zeigen sie sich als die größten 'Meckerer' und verhalten sich so, als wären sie zur Gänze ausgehungert. Sie hamstern alles, was sie nur irgendwie erlangen können" (53).

Neben solchen Alltagsbeobachtungen sind in den Berichten auch durchaus bemerkenswerte Vorgänge dokumentiert. So ging der Oberlandesgerichtspräsident von Linz in seinem Bericht vom Januar 1941 auf einen Vorgang ein, der im Zusammenhang mit der Errichtung der Filiale des KZ Mauthausen im nahe gelegenen Gusen stand. Zu diesem Zweck hatte die Polizeiverwaltung dort Grundstücke von vier so genannten Erbhöfen gekauft. Da die Höfe durch die Veräußerungen unter die von der Erbhofverfahrensordnung vorgesehenen Mindestfläche gesunken wären, genehmigte das Anerbengericht Mauthausen diesen Verkauf nicht. Die vom Vertreter des Reichs gegen die Hüter der Blut- und Bodenideologie angerufene Beschwerdeinstanz in Linz erbat um nähere Auskunft "warum überhaupt eine Erweiterung des Konzentrationslagers Mauthausen erforderlich ist und warum gerade die gegenständliche Grundfläche dazu herangezogen werden muss" (210 f.), und sie fragte an, ob eine Besichtigung des Konzentrationslagers durch das Erbhofgericht möglich sei. Die Antwort kam vom "Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei" Heinrich Himmler selbst. Sie lautete: "Es müsste auch dem Erbhofgericht in Linz bekannt sein, dass die Einrichtung von Konzentrationslagern, die dem Schutze der nützlichen Volksgenossen dienen, einen Staatsnotwendigkeit ist. Die Planung und Durchführung ist mir unmittelbar vom Führer übertragen worden. Es geht über die Zuständigkeit eines Erbhofgerichts hinaus, meine Maßnahmen zur Durchführung dieser staatsnotwendigen Aufgaben nachzuprüfen und zu korrigieren. Trotzdem gestatte ich eine Besichtigung des Lagers. Ich erwarte allerdings, dass sämtliche Herren Erbhofrichter teilnehmen und ihre Stellvertreter." (211). Damit waren die "Rechts"-Verhältnisse des 'Dritten Reichs' deutlich genug klargestellt.

Die Berichte liefern äußerst heterogene, wenn auch nicht selten in den verschiedensten Bezügen aufschlussreiche Informationen. Daher ist die Erschließung der Quellen durch Register von besonderer Bedeutung. Diese Aufgabe haben die Herausgeber, die auch eine umsichtige Einleitung verfasst haben, in mustergültiger Weise gelöst. Es gibt nicht nur ein Personen- und ein Ortsregister, in das auch Regionen mit einbezogen worden sind, sondern darüber hinaus auch ein Register der erwähnten Behörden, Gruppen und Organisationen sowie einen Index der Firmen und Betriebe. Außerdem werden die in den Berichten enthaltenen Tabellen aufgelistet. Wer sich mit der Justiz, dem Widerstand und auch der allgemeinen Gesellschaftsgeschichte im Österreich der Jahre 1938 bis 1945 auseinandersetzt wird künftig auf die Nutzung dieser Edition erstaunlich realitätshaltiger Quellen nicht verzichten können.


Anmerkungen:

[1] Heinz Boberach (Hrsg.): Meldungen aus dem Reich 1938-1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS, 10 Bde., Herrsching 1984.

[2] Z. B. Robert Thévoz / Hans Branig / Cécile Lowenthal-Hensel (Hrsg): Pommern 1934/35 im Spiegel von Gestapo-Lageberichten und Sachakten. 2 Bde., Köln u.a. 1974; Thomas Klein (Hrsg.): Die Lageberichte der Geheimen Staatspolizei über die Provinz Hessen-Nassau 1933-1936, 2 Bde., Köln u.a. 1986; Wolfgang Ribbe (Hrsg.): Die Lageberichte der Geheimen Staatspolizei über die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin 1933-1936, Köln u.a. 1998; Hermann-Josef Rupieper (Hrsg.): Die Lageberichte der Geheimen Staatspolizei zur Provinz Sachsen, 2 Bde., Halle 2003/4.

[3] Grigorij N. Sevost'janov (Hrsg.): Soveršenno sekretno. Lubjanka Stalinu o položenii v strane, bislang 7 Bde. (1922-1929), Moskau 2001-2004.

[4] Deutschlandberichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade), 1. Jg. (1934) bis 7. Jg. (1940), Reprint Frankfurt a. M. 1989; vgl. auch die Berichte der linkssozialistischen Gruppe "Neu Beginnen": Bernd Stöver: Berichte über die Lage in Deutschland die Lagemeldungen der Gruppe Neu Beginnen aus dem Dritten Reich 1933-1936, Bonn 1996.

[5] Überblick und Inhaltsangaben für die Kriegszeit bei Hans Michelberger: Berichte aus der Justiz des Dritten Reiches. Die Lageberichte der Oberlandesgerichtspräsidenten von 1940-45 unter vergleichender Heranziehung der Lageberichte der Generalstaatsanwälte, Pfaffenweiler 1989. Auf einzelne Regionen bezogene Editionen: Jörg Schadt (Hrsg.): Verfolgung und Widerstand unter dem Nationalsozialismus in Baden. Die Lageberichte der Gestapo und des Generalstaatsanwalts Karlsruhe 1933-1940, Stuttgart 1976; Bernd Schimmler (Hrsg.): Stimmung der Bevölkerung und politische Lage. Die Lageberichte der Berliner Justiz 1940-1945, Berlin 1986; Christian Tilitzki (Hrsg.): Alltag in Ostpreußen 1940-1945. Die geheimen Lageberichte der Königsberger Justiz, Leer 1991; Thomas Klein unter Mitarbeit von Oliver Uthe (Hrsg.): Die Lageberichte der Justiz aus Hessen 1940-1945. Marburg 1999. Die Originalakten befinden sich in der Überlieferung des Reichsjustizministeriums im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, (Bestand R 3001/R 22) und liegen verfilmt zum größten Teil auch im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte vor (MA 430/1-9).

Rezension über:

Wolfgang Form / Oliver Uthe (Hgg.): NS-Justiz in Österreich. Lage- und Reiseberichte 1938-1945 (= Schriftenreihe des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes zu Widerstand, NS-Verfolgung und Nachkriegsaspekten; Bd. 3), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2004, LVIII + 503 S., ISBN 978-3-8258-7549-7, EUR 49,90

Rezension von:
Jürgen Zarusky
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Jürgen Zarusky: Rezension von: Wolfgang Form / Oliver Uthe (Hgg.): NS-Justiz in Österreich. Lage- und Reiseberichte 1938-1945, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 7/8 [15.07.2005], URL: https://www.sehepunkte.de/2005/07/7168.html


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