Rezension über:

Alexander Begert: Böhmen, die böhmische Kur und das Reich vom Hochmittelalter bis zum Ende des Alten Reiches. Studien zur Kurwürde und staatsrechtlichen Stellung Böhmens (= Historische Studien; Bd. 475), Husum: Matthiesen 2003, 699 S., ISBN 978-3-7868-1475-7, EUR 89,00
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Rezension von:
Alexander Schunka
Historisches Institut, Universität Stuttgart
Redaktionelle Betreuung:
Christine Roll
Empfohlene Zitierweise:
Alexander Schunka: Rezension von: Alexander Begert: Böhmen, die böhmische Kur und das Reich vom Hochmittelalter bis zum Ende des Alten Reiches. Studien zur Kurwürde und staatsrechtlichen Stellung Böhmens, Husum: Matthiesen 2003, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 9 [15.09.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/09/3708.html


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Alexander Begert: Böhmen, die böhmische Kur und das Reich vom Hochmittelalter bis zum Ende des Alten Reiches

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Böhmen, das auf frühneuzeitlichen Regina-Europa-Allegorien genau in der Mitte abgebildet ist und das Herz des als Frauenkörper dargestellten Kontinents symbolisiert, besaß innerhalb des Reichszusammenhangs immer eine politische und rechtliche Sonderstellung. Der Rolle Böhmens im Reichszusammenhang ist das vorliegende Werk gewidmet, das im Wintersemester 2001/2002 an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz als Dissertation angenommen wurde. Dem Anspruch des Verfassers, "sich nicht zuletzt auch von der zunehmenden Zahl von Dissertationen mit durchaus fraglichem Gehalt ab[zu]heben" (7), scheint die Arbeit bereits aufgrund ihres enormen Umfangs und ihres gut sechshundert Jahre umfassenden Untersuchungszeitraums von 1198 bis 1806 gerecht zu werden.

Die quellengesättigte und faktenorientierte Untersuchung geht zweigleisig vor und zielt einmal auf die Rolle Böhmens als Kurfürstentum und bei der Königswahl, zum anderen auf seine lehensrechtliche Stellung, also auf die nicht unumstrittene Lehensabhängigkeit des böhmischen Königs vom Reich. Sie gliedert sich chronologisch in sieben Teile, jeweils im Umfang zwischen 25 (zur späten Přemyslidenzeit 1289-1306) und 120 Seiten (von der Regierungszeit des Kaisers Matthias zur böhmischen Wiederzulassung zum Kurfürstenkolleg 1611-1708).

Schon seit der Zeit des Sachsenspiegels war die Zugehörigkeit des böhmischen Königs zum Kreis der Prinzipalwähler des deutschen Königs umstritten, sowohl aufgrund der Nichtbeteiligung Ottokars I. an den Wahlen von 1212 und 1220 als auch wegen der Nichtzugehörigkeit Böhmens zu den vier Stammesherzogtümern sowie der ethnischen Abstammung des Königs (76). Erst Rudolf von Habsburg bestätigte 1289/90 die böhmische Stimme, sodass nun mit Mehrheit entschieden wurde, mithin eine eindeutige Königswahl gewährleistet war. Die Politik Wenzels II. war anschließend geleitet vom Streben nach größtmöglicher Selbstständigkeit Böhmens, das zwar seine Zugehörigkeit zum kaiserlichen Lehensverband aufrechterhielt, dessen König aber eine persönliche Ausübung der Kur sowie jeglichen Ausdruck eines Lehensverhältnisses zum römisch-deutschen König vermeiden wollte. Dieses Selbstbewusstsein zeigt nach Meinung Begerts die gesicherte Stellung des Böhmen als Erzschenk und Kurfürst nach 1290 (126).

Karl IV. setzte diese Politik fort und focht sogar, in der Goldenen Bulle, die böhmische Stimmabgabe an der Stelle des vornehmsten weltlichen Reichsfürsten durch. Damit sicherte er seinem Königreich zugleich stärkere Mitbestimmungsmöglichkeiten in der Reichs- und Bündnispolitik (165). Selbst die Wirren der folgenden einhundert Jahre änderten daran offenbar wenig, denn auch die Nichtberücksichtigung des böhmischen Königs bei der Wahl Maximilians I. im Jahr 1486 sei laut Begert allenfalls taktisch und nicht verfassungsrechtlich motiviert gewesen (272).

Hinsichtlich der Lehensbindung jedoch bahnte sich unter den Jagiellonen ein "Rückzug Böhmens aus dem Reich" an, der sich in der Nichtbefolgung von Reichstagsbeschlüssen ebenso wie der Nichtbeteiligung an Reichssteuern zeigte (273). Spätestens nach 1519 beschränkte sich die Rolle Böhmens nur noch auf die Kur. Die Gravamina König Ferdinands I. auf dem Reichstag von 1545 (abgedruckt im Anhang 609 f.) bestritten überhaupt die Lehensabhängigkeit und Reichszugehörigkeit Böhmens. Daraus resultierte letztlich, dass dem böhmischen König bald nur noch eine formale Einsichtnahme in die Wahlkapitulationen ermöglicht wurde, die die anderen Kurfürsten erstellt hatten. Zu den kurfürstlichen Beratungen wurde er nicht mehr zugelassen.

In der Zeit des Kaisers Matthias begannen die Habsburger einen energischen Kampf um die Wiederzulassung Böhmens zu den Kurfürsten- und Wahltagen. Die übrigen Kurfürsten fürchteten jedoch eine zu starke kaiserliche Einflussnahme und verhinderten die Wiederzulassung des böhmischen Kurfürsten so lange, bis im Zuge der Neuschaffung der protestantischen Hannoveraner Kur 1692 eine Readmission als Kompensation erfolgte. Damit aber hatten die Kurfürsten die letzten Reste einer gemeinsamen Politik aufgegeben, und Böhmen wurde zum kammerzieler- und steuerzahlenden Reichstagsteilnehmer. Sein politischer Einfluss auf das Kurkolleg dürfte nach 1708 freilich kaum größer gewesen sein als durch inoffizielle Einwirkungen und Monita zuvor. Der Nutzen der Readmission für Böhmen und das Reich wird von Begert daher skeptisch bewertet. Zur Frage der rechtlichen und faktischen Reichszugehörigkeit Böhmens im Untersuchungszeitraum lautet das Urteil des Verfassers, dass Böhmen gegen Ende des Alten Reiches "wenn schon nicht unbestritten ein feudum, so doch zumindest auf jeden Fall ein membrum imperii" (586) war.

Generell liegt ein etwas stärkeres Interesse der Untersuchung auf dem mittelalterlichen als auf dem frühneuzeitlichen Verhältnis Böhmens zum Reich. So scheint dem Verfasser gegen Ende des Alten Reiches in Anbetracht des exponentiell steigenden Quellenmaterials ein wenig die Puste auszugehen, obgleich er mit Recht bemerkt, dass die von ihm weitgehend ausgeklammerten Wahltage des 18. Jahrhunderts ebenso wie die böhmenrelevanten Reichstagsverhandlungen Material für eigene Untersuchungen ergäben (19). Wie die Arbeit dann freilich ihr in der Einleitung angestrebtes Ziel umsetzen kann, nämlich das der "Vollständigkeit (ohne dass dafür Einbußen bei der Intensität der Bearbeitung und bei der Detailgenauigkeit in Kauf genommen wurden), was die Untersuchung des Verhältnisses Böhmens zum Reich auf der Ebene der Kaiser, Könige und Kurfürsten sowie der 'Reichsinstitutionen' anbelangt" (19), bleibt offen. Angesichts dieses Vollständigkeitsanspruchs verwundert unter anderem, dass die Rolle der böhmischen Stände merkwürdig blass bleibt und auf die unterschiedliche reichsrechtliche Situation der böhmischen Nebenländer allenfalls en passant eingegangen wird.

Zwischenresümees erleichtern den Zugriff, erhöhen die Lesbarkeit der Untersuchung und bündeln die Darstellung, die ansonsten hin und wieder etwas ausfranst. Die Arbeit wird abgerundet durch einen knappen Anhang edierter, lehensrechtlich relevanter Quellenstücke (die meisten aus dem Hauptstaatsarchiv Prag), ein tschechisches Resümee sowie ein Register. Mehrere relativ kurze Exkurse, u. a. zu so umfassenden Themen wie der Lehensabhängigkeit von Königen im Mittelalter allgemein, der öffentlichen Symbolik bei der Belehnung von Kurfürsten oder der Beurteilung der Stellung Böhmens durch die frühneuzeitliche Staatsrechtsliteratur, hätten für sich genommen bereits gewichtige Untersuchungen abgegeben und wirken innerhalb des Gesamtwerks etwas deplatziert.

Die Arbeit bezieht ihren Wert aus der Zusammenschau der Makroperspektive und stellt einen maßgeblichen Beitrag zur Aufarbeitung der Position Böhmens zum Reich in Mittelalter und Früher Neuzeit dar. Insoweit ergänzt sie die noch voluminösere Untersuchung Axel Gotthards [1], deren Zeitraum sich jedoch vor allem auf die Zeit von 1555 bis 1685 und damit gerade auf die Zeit der ruhenden böhmischen Kur beschränkt. Begert kommt, was die versuchte Einflussnahme der Habsburger auf die Kurfürsten im 17. Jahrhundert betrifft, die bei Gotthard auf neun Seiten abgehandelt wird, ebenso wie hinsichtlich der Bedeutungsabnahme der Kurfürsten generell gegen Ende des 17. Jahrhunderts zu ganz ähnlichen Ergebnissen. Seine 'böhmische' Sicht wird freilich durch die ausführliche Rezeption Prager Quellen wie überhaupt der tschechischen Forschung unterfüttert. So wird die Arbeit weniger durch neue Thesen als vielmehr durch ihren Materialreichtum auch zukünftigen Untersuchungen zu Teilaspekten als Steinbruch dienen können. Angesichts der in der Einleitung formulierten Ziele bleibt beim Rezensenten freilich hin und wieder das Gefühl bestehen, weniger wäre mehr gewesen.


Anmerkung:

[1] Axel Gotthard: Säulen des Reiches. Die Kurfürsten im frühneuzeitlichen Reichsverband, 2 Teilbände, Husum 1999 (= Historische Studien; 457), v. a. 467-475.

Alexander Schunka