sehepunkte 6 (2006), Nr. 1

Richard Overy: Die Diktatoren

Eine vergleichende Gesamtdarstellung der Regime Hitlers und Stalins zu schreiben ist ein Unterfangen, an das sich bisher kein einzelner Historiker herangewagt hat, geht es doch um einen Stoff von gigantischen Dimensionen, um die schlimmsten europäischen Tragödien und um eine Vielzahl heiß umkämpfter zeitgeschichtlicher Streitfragen. So muss man schon allein Richard Overys Wagemut Respekt zollen, der dann noch durch das schiere Gewicht seines in ziemlich kurzer Zeit verfertigten "Ziegelsteins" und die Fülle der darin abgehandelten Themen gesteigert wird. Bei näherer Betrachtung allerdings fällt das Ergebnis - insbesondere soweit die diktatorisch-terroristische Herrschaftsausübung betroffen ist - nicht überzeugend aus. Das Buch hat große strukturelle Mängel, enthält eine Fülle von Fehlern und leider auch von bedenklichen Fehlurteilen, insbesondere was den Stalinismus betrifft.

Zunächst ist festzustellen, dass Overys Vergleichsansatz im Dunkeln bleibt. Das Konzept des Totalitarismus lehnt er pauschal als "polemisch" oder starr ab (vgl. z. B. 17, 408), ohne sich indes näher damit auseinanderzusetzen. Overy präsentiert jedoch keinen Alternativvorschlag, sondern lässt den Leser völlig im Unklaren darüber, nach welchen analytischen Gesichtspunkten er den Vergleich aufbaut und woher er seine Vergleichskriterien bezieht. Schwer nachvollziehbar ist in mancher Hinsicht auch der Aufbau des Buches. In den ersten Kapiteln stehen die Diktatoren, ihre Machtgrundlage und ihr Regierungsstil im Mittelpunkt. Das fünfte Kapitel ist den "Staaten des Terrors" gewidmet, aber das Kapitel über die Lagersysteme, das hiervon eigentlich gar nicht zu trennen ist, taucht erst an vierzehnter Stelle auf, nach umfangreichen Ausführungen über Ideologie, Wirtschaft, Krieg etc. So werden unmittelbare Zusammenhänge künstlich auseinander gerissen.

Auch Overys Begrifflichkeit ist inkonsistent. Mal verwendet er, trotz vorausgegangener Einwände, den Begriff "totalitär", dann wieder subsumiert er die betrachteten Regime unter die "autoritären Systeme", um sie an anderer Stelle wiederum als "holistisch" zu qualifizieren, was dem Sinn nach nur als Synonym für "totalitär" verstanden werden kann. Klare Definitionen fehlen. Die Darstellung ist im Wesentlichen reine Deskription, deren Strukturprinzipien nicht reflektiert werden.

Ein drittes Problem ergibt sich aus der Tatsache, dass dem Autor russischsprachige Quellen und wissenschaftliche Werke nicht zugänglich sind. Das aber bedeutet, dass mehr als anderthalb Jahrzehnte intensiver Forschungs- und Editionstätigkeit der modernen russischen Stalinismusforschung in Overys Werk nur insofern Eingang gefunden haben, als die Resultate in englischer oder deutscher Übersetzung vorliegen - was nur in vergleichsweise geringem Umfang der Fall ist - oder wenn sie in die Arbeiten westlicher Forscher eingeflossen sind. (Die wenigen Quellensplitter, die er sich aus dem Russischen hat übersetzen lassen, fallen nicht ins Gewicht.) Zugegeben, die angelsächsische Literatur zum Stalinismus ist breit und facettenreich. Dennoch bleibt es ein zweifelhaftes Unterfangen, wenn ein Historiker einen Gegenstand wählt, bei dem ihm aus sprachlichen Gründen die Quellen und der Forschungsstand zu einem ganz erheblichen Teil unbekannt bleiben müssen.

Mit einer originären Forschungsarbeit im strengen Sinne hat man es also nicht zu tun, eher mit einer räsonierenden tour d'horizon, bei der Overy streckenweise interessante Überblicke und Beobachtungen gelingen. Bemerkenswert ist etwa, dass die Partei als Kontrollinstrument der Gesellschaft im Nationalsozialismus offenbar eine wesentlich größere Rolle spielte als in der Sowjetunion, ein Faktum, das die von Forschung und Öffentlichkeit bislang zu wenig beachtete Rolle der NSDAP für die Geschichte von Herrschaft und Verfolgung im 'Dritten Reich' unterstreicht. Etwas überzeugender würde dieser Befund indes wirken, wenn Overy auch das grundlegende Werk "The Totalitarian Party" von Aryeh L. Unger (Cambridge 1974) zur Kenntnis genommen hätte, und vor allem, wenn es in seiner Darstellung nicht so grobe Schnitzer gäbe, wie etwa die Behauptung, "In den Parteikreisen Oberbayerns übten im Jahr 1938 1,3 Millionen Parteigenossen in der einen oder anderen Form eine Funktion auf Kreisebene aus." (230) Wie das bei rund 1,77 Millionen Einwohnern möglich gewesen sein soll, die Oberbayern damals hatte (NSDAP-Mitglieder 1935: 58.677), ist schwer vorstellbar.

Leider ist das kein einzelner Ausrutscher: Auch bei zügiger Lektüre springen zahlreiche Fehler ins Auge. Zum Beleg hier eine Auswahl ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

- Adolf Hitler hat 1923 nicht gegen die bayerische Regierung geputscht, sondern gegen die Reichsregierung (30).

- Bucharin war Mitte der 20er-Jahre keineswegs ein enger intellektueller Weggefährte Trotzkis, sondern vertrat hinsichtlich der weiteren Entwicklung der UdSSR in zentralen Aspekten entgegengesetzte Standpunkte (61).

- Die angebliche Geheimkorrespondenz zwischen Stalin und Hitler im Frühjahr 1941 (140) gehört ins Reich der Legende.

- Das von Stalin und Hitler nach außen vermittelte Bild der Bescheidenheit war mitnichten "höchstwahrscheinlich aufrichtig" (165).

- Otto Thierack war kein "SS-Richter" (238).

- Berija war gewiss alles andere als "ein solider Polizist" (255).

- Die Gestapo wurde nie "mit Sondergerichten [...] ausgestattet" (264); die 1933 geschaffenen Sondergerichte waren Einrichtungen der Justiz, und die 1939 eingerichtete SS- und Polizeigerichtsbarkeit unterstand einem eigenen SS-Hauptamt.

- Hoch- und Landesverrat wurde im NS-Staat keineswegs pauschal mit dem Tode bestraft (288).

- Von den berüchtigten Nürnberger Gesetzen betrafen nicht beide, sondern nur eines, das "Blutschutzgesetz", die antisemitische Regelung von Sexualbeziehungen und Eheschließung, das andere, das "Reichsbürgergesetz" schloss Juden von der deutschen Staatsbürgerschaft aus (332).

- Der Philosoph Nikolaj Berdjajew war niemals Bolschewik (363).

- 1933 wurden in Deutschland nicht 1500 "Rechtsanwälte im Staatsdienst" in den einstweiligen Ruhestand versetzt, weil Rechtsanwälte auch damals schon Freiberufler waren (393).

- Hans Scholl hat nicht "gemeinsam mit seiner Schwester und dem Musikwissenschaftler Kurt Huber [...] nacheinander sechs Flugblätter verfaßt" (444), die ersten vier verfasste er vielmehr zusammen mit Alexander Schmorell, der bei Overy gar nicht vorkommt.

- Hjalmar Schacht landete nicht "wie die sowjetischen Wirtschaftsexperten [...] in einem Konzentrationslager" (548), weil er, anders als etwa Groman und Kondrat'ev, nicht wegen seiner ökonomischen Positionen inhaftiert wurde, sondern nach dem 20. Juli 1944 wegen loser Verbindungen zum Widerstand - als er 1937 bzw. 1939 die Ämter des Wirtschaftsministers und Reichsbankpräsidenten verloren hatte, blieb er noch bis 1943 Reichsminister ohne Geschäftsbereich.

- Stalin hat in seiner Schrift "Marxismus und nationale Frage" nicht "den Juden 'Spaltertum' und 'Absonderung'" vorgeworfen, sondern dem Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund, der kurz "Bund" genannten jüdisch-sozialistischen Partei (749).

- Den russischen Juden war nicht im 18. Jahrhundert das Recht zugestanden worden, sich im so genannten Siedlungsrayon niederzulassen, es handelte sich vielmehr um jene polnisch-litauischen Gebiete in die Juden aus Westeuropa und Deutschland in der frühen Neuzeit vor Verfolgungen geflüchtet waren und die schon im 16. Jahrhundert den neuen kulturellen Siedlungsschwerpunkt des europäischen Judentums bildeten - das zaristische Russland, das sich diese Gebiete im Zuge der polnischen Teilungen aneignete, erlaubte nicht die Ansiedlung dort, sondern verbot den Juden vielmehr, sich andernorts im russischen Reich niederzulassen (749).

- Vasilij Grossmans Roman "Leben und Schicksal", dem Overy gleich zwei Motti entlehnt hat (5 und 785), wurde in der Sowjetunion nicht unterdrückt, weil jeder Russe verstanden hätte, "was zwischen den Zeilen geschrieben stand", sondern weil er eine fundamentale, offene Kritik jeglicher Form des Totalitarismus inklusive des Kommunismus enthält (789).

- Die Solowezki-Lager auf der gleichnamigen Inselgruppe liegen nicht nördlich, sondern 150 Kilometer südlich des nördlichen Polarkreises (791).

- Das Kürzel der Verwaltung dieser Lager lautete nicht USLAG, sondern USLON - "Uslag" bezeichnet ein Lager bei Usol'e Sibirskoe im Gebiet von Irkutsk unweit des Baikalsees[1].

- Der erste Lagerkommandant des KZ Dachau war nicht Theodor Eicke, der vielmehr auf Hilmar Wäckerle folgte (797).

- Das KZ Mauthausen wurde 1938, nicht 1939 errichtet (800).

- Die Konzentrationslager hatten sich zu keinem Zeitpunkt in der Zuständigkeit der Gestapo befunden, der nur die politischen Abteilungen in den KZ-Verwaltungen unterstanden (802), und mit einem Griff zu einem historischen Lexikon, hätte der Lektor feststellen können, dass die Verwaltungsspitze des KZ-Systems "Inspektion der Konzentrationslager" hieß und nicht "Inspektorat" (802 und andere Stellen).

- In der Dachauer Lagerordnung von Eicke war keineswegs festgeschrieben, "daß die Insassen auf einer nackten Holzpritsche schlafen" mussten (822), vielmehr wurden sie von der SS permanent mit dem Bettenbau terrorisiert, bei dem die Bettkanten wie mit dem Lineal gezogen sein mussten.

Bei den zahlreichen Fehlern, auf die man in Overys "Diktatoren" stößt, geht es aber nicht nur um Einzelheiten, sondern oft auch um grundlegende Sachverhalte. So stellt er etwa die abwegige Behauptung auf, die deutschen Konzentrationslager seien "um die Mitte der 1930er-Jahre nicht mehr als ein Zweig des regulären Gefängniswesens gewesen" (836 f.). Doch hatte weder die polizeilich verhängte und zeitlich unbegrenzte Schutzhaft etwas mit einer Verurteilung zu tun, die man im Justizstrafvollzug abzubüßen hatte, noch hatte die Justiz, der das Gefängniswesen unterstellt war, Einfluss auf die KZs, und, so schlimm sich die Verhältnisse in den Gefängnissen und Zuchthäusern des 'Dritten Reichs' auch entwickelten, Morde und Folter waren hier nicht an der Tagesordnung, während dies in den Konzentrationslagern vom ersten Tag an der Fall war. Selbst in den brutalen Justizstraflagern im Emsland war noch im Krieg die Sterberate erheblich niedriger als in den KZs. [2] Generell ist Overys Darstellung der nationalsozialistischen KZs recht oberflächlich. So behauptet er etwa, die Verhältnisse in den Lagern seien umso mörderischer für ihre Insassen geworden, je stärker sie in die Rüstungsproduktion einbezogen worden seien (803). Tatsächlich aber verfügte Heinrich Himmler im Zuge dieses Prozesses eine Reihe von Erleichterungen für die Häftlinge, um die katastrophal hohe Sterblichkeit in den Lagern und damit den Verlust von Arbeitskräften zu beschränken. Ab zirka April 1943 zeigte das eine gewisse Wirkung. Freilich blieb auch die Ermordung der "Unproduktiven" Bestandteil dieses Programms [3], und in der Endphase des Krieges wurden die Verhältnisse in den Lagern vollends infernalisch.

Die durchschnittliche Sterblichkeit in den sowjetischen Lagern lag signifikant unter derjenigen in den deutschen KZs. Das ist ein wichtiger Befund Overys. Auch wenn er die Gesamtsterblichkeit des GULag nur mit der von vier deutschen Lagern vergleicht, hat diese Erkenntnis mit großer Sicherheit ebenso Bestand wie Overys Begründung dafür: Zwar konnte auch im GULag Arbeit mörderisch sein, aber die Verfolgungslogik lief hier nicht auf eine bewusste "Vernichtung durch Arbeit" hinaus, mit Ausnahme allerdings einiger besonders schlimmer sowjetischer Straflager.

Auch diese Feststellung würde aber bei weitem überzeugender wirken, wenn Overys Darstellung der stalinistischen Verfolgung nicht über weite Strecken von völliger Unkenntnis geprägt wäre. So behauptet er, "die erste Generation der Gulag-Bosse [...] verschwand unter dem Vorwurf, ein kriminelles Gewaltregime aufgezogen zu haben, in den 'Säuberungen' des Jahres 1938" (834). Meint der Autor wirklich, der gute, aber gestrenge Onkel Stalin habe mit den bösen Buben in der Lagerverwaltung aufgeräumt, um den Strafvollzug zu humanisieren? Es hat ganz den Anschein, denn im nationalsozialistischen Deutschland zeigten sich nach Meinung Overys "diejenigen, die der Barbarei in den Lagern hätten Zügel anlegen können, nachsichtiger, nicht zuletzt, weil sich hier so viele an den Exzessen beteiligten, bis hinauf zu hohen Beamten, Offizieren und Ärzten" (834).

Tatsächlich wurde der von Overy als Beispiel für seine These angeführte Matvej Berman, der von 1930 bis 1937 an der Spitze des GULag gestanden hatte, nicht wegen irgendwelcher tatsächlicher Vergehen verfolgt. Er "verschwand" auch nicht einfach, sondern wurde am 7.3.1939 vom Militärkollegium des Obersten Gerichts der Sowjetunion zum Tode verurteilt und erschossen. 1957 wurde er rehabilitiert, weil das Verbrechen, das man ihm vorgeworfen hatte, nicht existierte. [4] Natürlich hat Berman als hoher NKVD-Funktionär schwere Verbrechen begangen, aber der Grund seiner Verfolgung waren nicht sie gewesen, sondern die Tatsache, dass Berman zum personellen Netzwerk des abgehalfterten NKVD-Chefs Ežov gehörte [5], des obersten Vollzugsbeamten des Großen Terrors, der nach getaner Arbeit von Stalin abserviert und 1940 unter ebenso fantastischen Vorwürfen verurteilt wurde wie hunderttausende, deren Tod er mitzuverantworten hatte.

Overy hat von der politischen Verfolgung im Stalinismus reichlich unklare Vorstellungen. Dass die Wurzel des Terrors in dem Bemühen der Regierung Stalins liegen soll, "den Einfluß lokaler Parteiführer zu brechen" (135), ist eine überholte revisionistische These aus der Zeit, als die sowjetischen Archive noch nicht zugänglich waren. Es liegt auf dieser Linie, wenn es in einer Bildunterschrift (Nr. 18) in Overys Buch heißt "Die einfachen Leute wurden kaum von der 'Großen Säuberung' erfaßt, der Terrorwelle, der in den Jahren 1937-1938 zahlreiche höhere Amtsträger in Partei und Staat zum Opfer fielen". Abgesehen davon, dass das falsch ist, ist es schlichtweg zynisch gegenüber den Opfern - seien es nun viele oder wenige -, eine solche Aussage mit dem Foto eines lachenden, Dame spielenden Pärchens in einem sonnenbeschienenen Park zu illustrieren.

Den entscheidenden Unterschied zwischen der staatlichen Unterdrückung im nationalsozialistischen Deutschland und der stalinistischen Sowjetunion sieht Overy in der extremen Gesetzlosigkeit des Ersteren. Tatsächlich erfolgte der bei weitem überwiegende Teil nationalsozialistischer Verfolgungen ohne jegliche juristische Legitimation oder Scheinlegitimation. Overy benennt hier einen bedeutsamen Unterschied, aber er ist nicht in der Lage, ihn wirklich einzuordnen, weil er sich von der propagandistischen Fassade des Stalinismus noch über 50 Jahre nach dessen Ende täuschen lässt. Feststellungen wie "Politische Gefangene kamen vor Gericht, und ihre Fälle wurden gewissenhaft, häufig auch in niederträchtiger Weise untersucht, was manchmal Jahre dauern konnte", oder "die Staatssicherheit nahm nicht einmal auf dem Höhepunkt der Jeschowschtschina das Recht für sich in Anspruch, Verdächtige ohne weiteres festzunehmen, um sie ohne jede gerichtliche Anhörung oder eine Anklage ins Gefängnis zu werfen oder hinzurichten" (beide Zitate 264), kann man nur als abenteuerlich bezeichnen. Wie die "gewissenhafte Untersuchung" aussah, dafür bietet beispielsweise Solschenizyns "Archipel Gulag" - der pflichtschuldig auch in Overys Literaturverzeichnis auftaucht - eine Fülle von Beispielen: Es ging um die Erfolterung von Geständnissen, die in vorgegebene politische Szenarien passten. In den Akten des Politbüros findet sich eine Fülle von Beschlüssen, in denen die Durchführung von Prozessen inklusive der zu fällenden Urteile en détail festgelegt wurde. Seit einigen Jahren sind die "Erschießungslisten" Stalins und seiner engsten Kumpane bekannt. Memorial hat sie publiziert. [6] Die darauf Verzeichneten waren längst zum Tode verurteilt, wenn sie zu den meist nur wenige Minuten dauernden Scheinverhandlungen vor dem Militärkollegium des Obersten Gerichts erschienen. Die von Overy als "eigene Gerichte" bezeichneten pseudojustiziellen Organe der Staatssicherheit, die Sonderversammlung des Kollegiums der OGPU bzw. des NKVD, die diversen trojki und dvojki, urteilten ohne Anhörung der Angeklagten oder von Zeugen, oft auf Grund simpler Angeklagtenlisten mit wenigen und meist unzuverlässigen Informationen, und das in hunderttausenden von Fällen, in denen es um Todes- oder langjährige Lagerstrafen ging. Von "gewissenhaften Untersuchungen" oder obligatorischen "gerichtlichen Anhörungen" kann keine Rede sein.

Natürlich behandelt Overy auch das zentrale und in seiner mörderischen Intention einmalige Verbrechen des Nationalsozialismus, die Shoah, wenn auch relativ schematisch und, auf Grund des verfehlten Aufbaus seines Werkes, über das halbe Buch verstreut. Das größte Massenverbrechen des sowjetischen Stalinismus, das Verhungernlassen von mindestens fünf Millionen Menschen 1932/33 - Overy spricht von vier bis fünf Millionen (77) - im Zusammenhang mit der Kollektivierung, wird indes nur en passant und mit wenigen Worten gestreift. Die Thesen Robert Conquests und eines Teils der ukrainischen Geschichtsschreibung, die in der Hungerkatastrophe einen bewusst herbeigeführten Genozid sehen wollen, kann man mit guten Gründen bezweifeln [7], aber die Nachlässigkeit, mit der Overy dieses Thema behandelt, ist dann doch sehr irritierend. Und damit ist dann auch eine hinreichend diplomatische Formel gefunden, um den Gesamteindruck zu bezeichnen, den das Werk beim Rezensenten hinterlassen hat.


Anmerkungen:

[1] Obščestvo "Memorial", Gosudarstvennyj Archiv Rossiskoj Federacii (Hg.): Sistema ispravitel´no-trudovych lagerej v SSSR 1923-1960. Spravočnik, Moskau 1998, 436.

[2] Nikolaus Wachsmann: Hitler's Prisons. Legal Terror in Nazi Germany, New Haven/London 2004, 256.

[3] Eingehender dazu Stanislav Zámečník: Das war Dachau, Luxemburg 2002, 241 f.; Karin Orth: Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Eine politische Organisationsgeschichte, Hamburg 1999, 192 f.

[4] Vgl. N. V. Petrov/K. A. Skorkin: Kto rukovodil NKVD. [Wer leitete das NKVD.] Spravočnik, Moskau 1999, 108 f., online verfügbar unter: http://www.memo.ru/history/NKVD/kto/index.htm.

[5] Nikita Petrow: Die Kaderpolitik des NKWD während der Massenrepressalien 1936-1939, in: Stalinscher Terror 1934-1941, hg. von Wladislaw Hedeler, 11-32, 27.

[6] Stalinskie rasstrelnye spiski, http://stalin.memo.ru/index.htm.

[7] Die aktuellste Forschungsübersicht bietet das Heft 12/2004 der Zeitschrift osteuropa, das dem Thema "Vernichtung durch Hunger. Der Holodomor in der Ukraine und der UdSSR" gewidmet ist. Zur Problematik der Opferzahlen vgl. Rudolf A. Mark/Gerhard Simon: Die Hungersnot in der Ukraine und anderen Regionen der UdSSR, in: ebenda, 5-11, hier: 10. Overy führt in seinem Literaturverzeichnis vier Bücher von Conquest auf, nicht jedoch dessen umstrittenes Werk "Harvest of Sorrow" über die Hungersnot in der Ukraine.

Rezension über:

Richard Overy: Die Diktatoren. Hitlers Deutschland, Stalins Rußland. Aus dem Englischen von Udo Rennert und Karl Heinz Siber, München: DVA 2005, 1023 S., 32 s/w-Abb., 6 Karten, ISBN 978-3-421-05466-1, EUR 48,00

Rezension von:
Jürgen Zarusky
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Jürgen Zarusky: Rezension von: Richard Overy: Die Diktatoren. Hitlers Deutschland, Stalins Rußland. Aus dem Englischen von Udo Rennert und Karl Heinz Siber, München: DVA 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 1 [15.01.2006], URL: https://www.sehepunkte.de/2006/01/9177.html


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