sehepunkte 6 (2006), Nr. 5

Rezension: Sowjetische und deutsche Kriegsgefangene in den Jahren des 2. Weltkriegs

Seit dem Jahr 2000 führen Institutionen aus Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen unter Federführung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten und in Partnerschaft mit Einrichtungen und Archiven Russlands, Belorusslands und der Ukraine ein Projekt über sowjetische Kriegsgefangene in deutscher Hand durch. Erster Kernbestand der Forschungen waren die lange als vermisst geltenden Personalunterlagen der Wehrmacht über sowjetische Kriegsgefangene, die heute größtenteils im Zentralarchiv des russischen Verteidigungsministerium in Podol'sk lagern. Diese ermöglichen es, Angaben über Gefangenschaft und Sterblichkeit sowjetischer Gefangener zu präzisieren, denn die Gefangenen wurden auch im Reichsgebiet vollständig von der Wehrmacht registriert. Darüber hinaus lässt sich anhand dieser Unterlagen nachweisen, dass der umfassende Arbeitseinsatz sowjetischer Gefangener schon vor dem "Führerbefehl" vom 31. Oktober 1941 einsetzte. [1]

Mittlerweile ist das Projekt auch auf die Erforschung der Geschichte deutscher Kriegsgefangener ausgedehnt worden. Es soll nach dem Willen der "Gemeinsamen Kommission zur Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen" auch die Rahmenbedingungen für Forschungen Dritter zu den entsprechenden Themenbereichen schaffen. Das Projekt selbst will über die wissenschaftliche Tätigkeit hinaus einen Beitrag zur Klärung der Schicksale vermisster sowjetischer und deutscher Bürger leisten. Diese doppelte Aufgabenstellung schlägt sich in dem Gedenkbuch zum Lager Zeithain exemplarisch nieder, zumindest was die sowjetischen Kriegsgefangenen betrifft.

Zeithain war eines der ab Mai 1941 neu entstandenen "Russenlager". Die angestrebte Kapazität für 100.000 Kriegsgefangene wurde in Zeithain wie auch andernorts nie erreicht. Für die Gefangenen, die ab dem 12. Juli 1941 im Stalag 304 (IV H) eintrafen, war allerdings vor allem von Bedeutung, dass die Bauarbeiten entgegen den Dienstvorschriften der Wehrmacht im Sommer 1941 bei weitem nicht abgeschlossen waren. Infolgedessen kampierten die Gefangenen wochenlang im Freien und mussten sich ihre unzureichenden Unterkünfte selber bauen. Ähnlich desaströs stellte sich über all die Jahre hinweg die Ernährungslage in Zeithain dar. In Verbund mit den untragbaren hygienischen Verhältnissen und krasser medizinischer Unterversorgung dezimierten bereits 1941/42 eine Ruhr- und eine Fleckfieberepidemie die Reihen der Gefangenen. Nachdem die Wehrmacht im belgischen Löwen 1942 ein neues Stalag 304 für sowjetische Kriegsgefangene gegründet hatte, wurde Zeithain als Stalag IV B/Z im September 1942 dem Stalag IV B Mühlberg unterstellt und sukzessive in ein Lazarett für Kriegsgefangene umgewandelt. Die sowjetischen Kriegsgefangenen, von denen vor allem dauerhaft nicht arbeitsfähige in das Lazarett gelangten, galten hier als "unnütze Esser", die weiter unzureichend versorgt wurden. Daher blieb Zeithain bis Kriegsende ein "Sterbelager" (Bd. 1, 58).

Die deutsche Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener in Zeithain passt sich somit dem Gesamtbild deutscher Kriegsgefangenenpolitik ein und lässt sich offenkundig nur zum geringeren Teil durch individuelles Unvermögen oder die große Zahl sowjetischer Kriegsgefangener erklären. Vielmehr steht auch Zeithain für die willentliche und aktive Beteiligung der Wehrmacht an deutschen Verbrechen gegen sowjetische Kriegsgefangene. [2] Insgesamt geht die heutige Forschung entgegen den früheren sowjetischen Angaben davon aus, dass zirka 25-30.000 von rund 400.000 im Reichsgebiet ums Leben gekommenen sowjetischen Kriegsgefangenen in Zeithain verstarben oder ermordet wurden (Bd. 1, 69, 71). Zu Recht weisen die Herausgeber darauf hin, dass diese niedrigere, aber verlässlichere Zahl "nicht zu dem Fehlschluss führen darf, auch den Charakter des deutschen Kriegsgefangenenwesens etwa in milderem Licht zu sehen" (Bd. 1, 16).

Die in Band 1 versammelten Forschungsbeiträge schlagen einen Bogen von der deutschen Kriegsgefangenenpolitik bis zur sowjetischen wie deutschen Vergangenheitsaufarbeitung. Ihre Aussagen werden durch zahlreiche Abbildungen illustriert und durch aussagekräftige Fotografien unterstützt. Grundlegend ist die konzise Darstellung der Lagergeschichte Zeithains aus deutschen Akten sowie die Beschreibung der Lagersituation aus der Perspektive sowjetischer Gefangener, die auf der Grundlage russischer Quellen erfolgt: Das sowjetische Staatssicherheitsministerium archivierte nach 1945 Berichte, die unter anderem im Umfeld einer Untergrundgruppe um den späteren Schriftsteller Stepan Zlobin entstanden waren. Dagegen sammelte das Militärmedizinische Museum in Petersburg Aussagen über die katastrophale medizinische Versorgung und ihre Folgen.

Für diesen Aspekt zeichnete unter anderem die Sanitätsverwaltung des Wehrkreises IV in Dresden verantwortlich. Die hier erstmals in Auszügen abgedruckten sowjetischen Ermittlungsunterlagen gegen den Sanitäts- und Hygienearzt des Wehrkreises, Dr. Konitzer, belegen, dass man in Dresden und höheren Orts sehr genau über die konkreten Zustände im Lager informiert war. Zu Gegenmaßnahmen konnte und wollte man sich indes nicht aufraffen; die Aussagen legen nahe, dass auch auf diesen Ebenen individuelle Handlungsspielräume existierten. Sowjetische Ermittlungs- und Gerichtsverfahren waren, dies ein weiterer Schluss aus den publizierten Untersuchungen, von ihrer ganzen Anlage her allerdings kaum geeignet, Licht in individuelle Schuld und strafrechtlich relevante Verantwortlichkeiten zu bringen. [3]

In den Kontext einer spezifisch sowjetischen Aufarbeitung der Lagergeschichte gehört schließlich die offizielle Erinnerungskultur. Sowjetische Stellen erhöhten aus durchsichtigen politischen Gründen die geschätzten Opferzahlen nahezu inflationär und drangen auf eine recht monumentale Gedenkstätte in Zeithain. Zeitgleich dauerte auch nach 1945 die stalinistische Diffamierung und Verfolgung der angeblichen "Verräter" an - dass die Klärung des Schicksals verschollener Rotarmisten bis in die 1990er-Jahre hinein nicht am Materialmangel, sondern am politischen Willen Moskaus gescheitert ist, ist eine verstörende Erkenntnis nicht nur des Dresdner Projekts. Der zweite Band des Gesamtwerks, ein Namensbuch mit 5.098 in Zeithain Verstorbenen, soll einen Beitrag dazu leisten, Angehörigen die quälende Ungewissheit zu nehmen, den Verstorbenen ihre Namen zurückzugeben und ihnen ein ehrendes Gedenken zu bewahren.

Als Fazit lässt sich feststellen, dass das Gedenkbuch als eines der ersten Teilergebnisse des groß angelegten Forschungsprojekts dem eingangs beschriebenen doppelten Anspruch von Wissenschaft und Schicksalsklärung durchaus gerecht wird. In diesem besonderen Fall gehört hierzu auch die angemessene Ausstattung der Bände, die zudem jeweils die russische wie deutsche Version von Texten und Namen enthalten.

Der zweite hier vorliegende Sammelband ist ebenfalls ein Produkt der Tätigkeit der Stiftung Sächsische Gedenkstätten. Er dokumentiert im Kern Vorträge einer deutsch-russisch-belorussischen Konferenz in Minsk im Dezember 2003, auf der die parallele Erforschung der Geschichte deutscher und sowjetischer Gefangener im Mittelpunkt stand. Derartige Projekttagungen dienen immer auch der eigenen Standortbestimmung. Von daher lesen sich die Beiträge zum Teil als mehr oder weniger aktuelle Forschungsübersicht beziehungsweise als detaillierte Beschreibung der Projektarbeiten und -aufgaben. Die erweiterten Archivmöglichkeiten werden aber zugleich eindrucksvoll durch die Aufarbeitung des Zeitzeugenberichts eines kriegsgefangenen Militärarztes, der mehrere Kriegsgefangenenlazarette in Belorussland durchlief, belegt. Daneben vertieft die Fokussierung auf belorussische Gefangene unsere Kenntnisse über den deutschen Umgang mit verschiedenen Nationalitäten der sich auf Kosten Polens ausdehnenden UdSSR. Dass die Sowjetunion im Zuge ihrer repressiven Nachbereitung des Zweiten Weltkriegs die in der britisch inspirierten Anders-Armee kämpfenden Sowjetbürger verfolgte, verdient ebenfalls Erwähnung. Analog hierzu ereilte im Übrigen auch langjährige deutsche Agenten der UdSSR wie den ehemaligen Presseattaché in Bukarest, Kurt Welkisch, und seine Frau Margarita, nach dem Krieg der Zorn der sowjetischen Staatssicherheit, da das Ehepaar keine weiteren Aufträge außerhalb Deutschlands annehmen wollte!

Generell gewähren die Beiträge zur Gefangenschaft Deutscher in der UdSSR ebenfalls unterschiedlich dichte, größtenteils allerdings isolierte Einblicke in die Politik der sowjetischen Gewahrsamsmacht. Regionalstudien zur Gefangenschaft in einer Republik - wie hier zu Belorussland - lassen wohl nur dann Rückschlüsse auf zentrale Anliegen zu, wenn sie eventuellen Besonderheiten und lokalen Einflüssen nachspüren. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang vor allem, dass der arg zerstörten Republik Belorussland mit gut 63.000 deutschen Gefangenen (Stand: Ende 1946) nur eine relativ geringe Anzahl deutscher Zwangsarbeitskräfte zugeteilt wurde. Deren Einsatz erfolgte, wie üblich, vor allem im Wiederaufbau der Industrie und erst an zweiter Stelle etwa im Wohnungswesen.

Einem weiteren Schwerpunkt sowjetischer Kriegsgefangenenpolitik sind zwei stellenweise sehr offiziös gehaltene Beiträge von Vertretern der russischen Hauptmilitärstaatsanwaltschaft gewidmet. Ihre Ausführungen werfen Schlaglichter auf den insgesamt äußerst problematischen Umgang der sowjetischen Justiz mit deutschen Kriegsverbrechen. Die Beiträge dokumentieren ihrerseits die Schwierigkeiten Russlands, mit seiner doppelten Vergangenheit als Opfer der deutschen Aggression sowie zugleich als Träger des Stalinismus, der sowjetische wie ausländische Bürger politischer Verfolgung unterwarf, zurecht zu kommen. Von den begrenzten Möglichkeiten einer Rehabilitierung haben mittlerweile 17.000 ausländische Staatsbürger profitiert, 5.000 Deutschen wurde die Rehabilitierung verweigert. (432, 506).

Die Aufsatzsammlung kann im Detail und auf speziellen Feldern die Kenntnisse zur Kriegsgefangenengeschichte erweitern und aktualisieren. Vor allem aber bietet der Band einen ausführlichen Überblick über das eingangs beschriebene Großprojekt mit seinen ambitionierten Vorhaben in den postsowjetischen Staaten. Es bleibt zu hoffen, dass diese in der geplanten Weise verwirklicht werden können. Die im Band angesprochene sukzessive Übersetzung zentraler russischer Werke wäre für eine integrierte Erforschung der Kriegsgefangenengeschichte von großem Wert. [4]


Anmerkungen:

[1] Vgl. hierzu bereits Reinhard Otto: Wehrmacht, Gestapo und sowjetische Kriegsgefangene im deutschen Reichsgebiet 1941/42, München 1998.

[2] Als aktuelle Gesamtdarstellung siehe Rüdiger Overmans: Die Kriegsgefangenenpolitik des Deutschen Reichs 1939 bis 1945, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 9,2: Jörg Echternkamp (Hg.): Ausbeutung, Deutungen, Ausgrenzung, München 2005, 729-875.

[3] Andreas Hilger u. a. (Hg.): Sowjetische Militärtribunale, 2 Bände, Köln 2001-2003.

[4] U. a. Viktor B. Konasov: Sud'by nemeckich voennoplennych v SSSR: diplomatičeskie, pravovye i političeskie aspekty problemy. Očerki i dokumenty, Vologda 1996; Maksim M. Zagorul'ko (Hg.): Voennoplennye v SSSR: 1939-1956. Dokumenty i materialy, bislang 4 Bände, Moskau 2000-2005.

Rezension über:

V. Selemenov / Ju. Zverev / K.-D. Müller / A. Haritonow (Hgg.): Sowjetische und deutsche Kriegsgefangene in den Jahren des 2. Weltkriegs, 2004, 512 S., ISBN 978-3-934382-12-1, EUR 15,00

Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft / Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. (Hgg.): Zeithain -Gedenkbuch sowjetischer Kriegsgefangener, 2005, 2 Bde., 457 S., ISBN 978-3-934382-15-2, EUR 49,00

Rezension von:
Andreas Hilger
Hamburg
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Hilger: Sowjetische und deutsche Kriegsgefangene in den Jahren des 2. Weltkriegs (Rezension), in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 5 [15.05.2006], URL: https://www.sehepunkte.de/2006/05/8625.html


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