Rezension über:

Peter Collin / Thomas Horstmann (Hgg.): Das Wissen des Staates. Geschichte, Theorie und Praxis (= Rechtspolitologie; Bd. 17), Baden-Baden: NOMOS 2004, 498 S., ISBN 978-3-8329-0889-8, EUR 79,00
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Rezension von:
Michael C. Schneider
Institut für Geschichte der Medizin, Heinrich Heine-Universität, Düsseldorf
Empfohlene Zitierweise:
Michael C. Schneider: Rezension von: Peter Collin / Thomas Horstmann (Hgg.): Das Wissen des Staates. Geschichte, Theorie und Praxis, Baden-Baden: NOMOS 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 6 [15.06.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/06/8096.html


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Peter Collin / Thomas Horstmann (Hgg.): Das Wissen des Staates

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Von verschiedenen unlängst erschienenen Publikationen zu ähnlichen Themenfeldern unterscheidet sich der Sammelband "Das Wissen des Staates" durch seinen zeitlich, regional und Disziplinen übergreifenden Zugriff. Zwar beeindruckt die große inhaltliche und die aus dem multidisziplinären Zugang des Bandes sich ergebende methodische Bandbreite; fraglich bleibt nach der Lektüre jedoch, ob so unterschiedliche Ansätze wie der juristische, historische und verwaltungswissenschaftliche nicht doch eher jeweils für sich gewinnbringend zu rezipieren sind. Immerhin ist die zentrale Frage des Bandes nach drei Basisdimensionen staatlichen Wissens, wie die Herausgeber sie in der Einleitung erläutern, für alle Perspektiven relevant: Einmal die Dynamik, der jedes Wissen unterliegt, sodann seine Ausrichtung an einem spezifischen Handlungsbedarf, und schließlich die unterschiedlichen Formen, die staatliches Wissen annehmen kann, wie es beispielsweise mit Schlagworten wie "Dienstwissen", "tacit knowledge" u. Ä. gefasst werden kann. Einem derart weit gespannten Wissensbegriff entspricht auch ein breiter Staatsbegriff, der etwa auch die kommunale Ebene umfasst.

Einen visuellen Einstieg in das Thema bietet der erste Beitrag mit Fotografien von Kai-Olaf Hesse, die jedem Besucher des Bundesarchivs in Berlin-Lichterfelde wohl vertraut sind: Sie gewähren Einblicke in verschiedene Archivsituationen: gebündelte Akten, Aktenregale, moderne Magazine und machen den für vorelektronische Verhältnisse vergleichsweise raschen Zugriff auf gespeichertes Wissen geradezu augenfällig, ganz im Widerspruch zu dem begleitenden Text von Cornelia Vismann, der dem Archiv gerade diese Eigenschaften absprechen will. Freilich hätte man sich eine bessere Reproduktionsqualität als den vorliegenden groben Rasterdruck gewünscht, der die hohe Qualität der Fotografien etwas überschattet.

Während Achim Landwehr nochmals die plurale Dimension des für den Staat relevanten Wissens betont, entwirft Birger P. Priddat in seinem Beitrag zur "2nd order-democracy. Politikprozesse in der Wissensgesellschaft" offenbar ein in der Zukunft liegendes, allenfalls im Entstehen begriffenes Bild einer "Wissensgesellschaft". Die "Demokratie zweiter Ordnung" ist demnach eine Demokratieform, in der die Bürger nicht nur durch punktuelle Wahlen den Gang der Politik beeinflussen, sondern insbesondere in der Periode zwischen den Wahlgängen jenen Einfluss ausüben können, der derzeit noch effizient arbeitenden Lobbyorganisationen vorbehalten ist. Eine demokratische Regierung wäre in einem derartigen Szenario in die Lage versetzt, mit den Bürgern in einen ständigen und durch die Möglichkeiten eines (nicht näher konkretisierten) "E-Government" auch zu bewältigenden Aushandlungsprozess zu treten. Freilich mutet dieses Szenario ebenso visionär wie in seinem Optimismus ein wenig naiv an - diesen Einwand scheint der Autor selbst gesehen zu haben, schraubt er doch die Möglichkeiten des bürgerschaftlichen Einflusses sogleich zurück, wenn er allein eine Erhöhung des Legitimationsdrucks bei politischen Entscheidungen in Aussicht stellt, der durch "E-Government" eintreten könnte. Insgesamt leidet der Beitrag nicht nur unter einer mitunter opaken Argumentation, sondern auch darunter, dass der Bezug dieser demokratietheoretischen Überlegungen zur übergreifenden Frage der "Wissensgesellschaft" nur stellenweise nachvollziehbar bleibt.

Im Gegensatz hierzu bietet Jochen Steinbicker einen instruktiven und für den gesamten Band relevanten Überblick über verschiedene Ansätze, das Verhältnis des Staates zur Wissens- und Informationsgesellschaft konzeptionell schärfer zu fassen: Angefangen bei frühen Versuchen Peter Druckers (1969), die moderne Gesellschaft als Wissensgesellschaft zu begreifen, über die systemtheoretisch fundierte Staatstheorie Helmut Willkes: Dieser macht einen zunehmend geringer werdenden Einfluss des Staates auf Wissensressourcen aus, die sich immer mehr in multiple "centers of expertise" verlagerten (100). Ferner stellt er Daniel Bells Konzept der "post-industriellen Gesellschaft" vor, um schließlich den an Netzwerk-Vorstellungen orientierten Zugriff Manuel Castells auf seine Aussagekraft für das Verhältnis von Staat und Wissensgesellschaft hin zu prüfen. So unterschiedlich die theoretischen Voraussetzungen dieser Autoren auch sind: Bei allen findet sich eine ähnliche Problemdiagnose insofern, als die zunehmende Komplexität der Gesellschaft einerseits den Staat vor neue Anforderungen stellt, andererseits derselbe Prozess "der Steuerungsfähigkeit des Staates vermehrt Grenzen setzt" (115).

Die Autoren des zweiten Abschnitts wenden sich dem Themenkomplex "Staatsbildungsprozesse" in historischer Perspektive zu: Hier beleuchtet Jörg Peltzer in seinem Beitrag zu England nach 1066 die sich wechselseitig verstärkende Bedeutung von Information und ihrer Umsetzung in effizientes Regierungshandeln, während Karin Gottschalk in ihrem aspektreichen Aufsatz vor allem für das 18. Jahrhundert am Beispiel der Landgrafschaft Hessen-Kassel die Bemühungen des Landesherrn verdeutlicht, ein verlässliches Steuerregister zu erstellen, und auch die vielen Hindernisse beschreibt, die einer verlässlichen Katastrierung des Territoriums im Wege standen. Auch an anderen Beispielen erhellt sie den Prozess der Informationsgewinnung vor Ort und räumt der Interaktion der unteren Verwaltungsebene mit der Bevölkerung einen angemessen großen Raum ein. Mit dem verwandten Interesse, "Spuren der organisierten Wissensarbeit zu finden", wendet sich Friso Ross dem Beispiel der spanischen Justizverwaltung zwischen 1830 und 1930 zu. Ihm geht es um soziale Faktoren, die den Charakter des Informationsflusses zwischen Peripherie und Zentrale in sich wandelnder Weise prägten - wenngleich dieses Grundinteresse deutlich wird, so erschwert es eine Reihe von chronologischen Sprüngen (ein Phasenmodell wäre hilfreich gewesen) doch, der Argumentation zu folgen.

Unter der Überschrift "Verwissenschaftlichungsprozesse" stehen zwei Beiträge: Zunächst bietet Alexander Pinwinkler einen nützlichen und informativen Überblick über neuere Forschungen zur Rolle der amtlichen Statistik in Westeuropa, insofern es um ihr Verhältnis zum demografischen Interesse der sie unterhaltenden Staaten geht; die vor allem im 20. Jahrhundert an Bedeutung gewinnende Wirtschaftsstatistik tritt demgegenüber in den Hintergrund. Pinwinkler unterstreicht den Beitrag der amtlichen Statistik zur "Konstruktion" etwa von Nationen und ihrer inneren Schichtung im Rahmen des in diesem Forschungsfeld gängigen Paradigmas von "Wirklichkeit" als etwas "sozial Konstruiertem", macht aber zugleich deutlich, dass der Prozess der Verwissenschaftlichung dieses Wissensbereiches immer noch vielfach im Dunkeln liegt. Daran schließt sich ein umfangreicher Beitrag von Wilfried Rudloff an, der die Herausbildung wissenschaftlicher Politikberatung in der Bundesrepublik der 1960er-Jahre untersucht: Von der Diagnose, Politik könne einer wissenschaftlichen Fundierung nicht länger entbehren, über die unterschiedlichen organisatorischen Konsequenzen dieser Einsicht (Heranziehung externen oder internen Sachverstandes) bis hin zur Ausdehnung der Ressortforschung im Untersuchungszeitraum beleuchtet der Autor detailliert und umfassend die Folgen der wechselseitigen Einflussnahme von Wissenschaft und Politik auf beide Bereiche: So skizziert er beispielsweise den allmählich uneinholbaren Wissensvorsprung der Exekutive gegenüber dem Parlament oder - auf der Seite der Wissenschaft - ihren Anspruch, auch tatsächlich in Entscheidungsprozesse eingebunden zu werden und nicht nur als "legitimationsstiftendes 'Feigenblatt'" (238) zu dienen. Zu Recht betont der Autor, dass sich Erfolg oder Misserfolg nur am "konkreten Einzelbeispiel" (239) feststellen lassen, an welchen in diesem Beitrag auch kein Mangel herrscht.

Da sich der Band auch als Beitrag zur aktuellen Debatte zur Reform staatlicher Wissensorganisation versteht, versammelt er auch eine Reihe von Beiträgen, die entweder von Autoren aus der Verwaltungspraxis stammen oder aktuelle Beispiele wissensbasierten Verwaltungshandelns heranziehen. So behandelt Gesine Hofinger am Beispiel der Errichtung eines Biosphärenreservats nördlich von Berlin in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre die komplexen Herausforderungen, vor die sich die Verwaltung gestellt sah, sowie die eingeschlagenen Lösungsstrategien, um insbesondere die Akzeptanz des Naturschutzes in der betroffenen Bevölkerung sicherzustellen. Eher an ein juristisch vorgebildetes Publikum richtet sich der Beitrag von Uwe Zepf, der sich mit der Frage befasst, wie die Planungsverwaltung mit der unvermeidlichen "Informationsflut" umgeht. Gewissermaßen komplementär zu den anderen Beiträgen dieses und vergleichbarer Bände geht dagegen Peter Wehling vor: Ihn interessiert das "Nichtwissen" des Staates - jene Bereiche unvermeidlicher Unzugänglichkeit, die von den "Grenzen der etablierten kognitiven Wahrnehmungs- und Erwartungshorizonte" (317) markiert werden. Auf der Basis einer begrifflichen Abgrenzung des "Nichtwissens" von "Ungewißheit" und "Risiko" verfolgt Wehling an den Beispielen der Chemikalienbewertung und der "grünen Gentechnologie" Strategien, mit diesen Bereichen des Nichtwissens umzugehen. Weitere aus der verwaltungswissenschaftlichen Praxis stammende Beiträge können hier nur angerissen werden: Veith Mehde untersucht aus verwaltungsjuristischer Perspektive "Rechtliche Deutungsmuster des Wissensgefälles zwischen Politik und Verwaltung" und widmet sich damit einem ähnlichen Thema wie Peter Wehling, wenngleich in weniger klarer Argumentationsführung. Engagiert plädiert Lothar Beyer für eine verstärkte Berücksichtigung von "Wissensmanagement" in der öffentlichen Verwaltung, verstanden als die "Gesamtheit organisationaler Strategien zur Schaffung einer 'intelligenten' Organisation" (365) - im Wesentlichen skizziert Beyer hierzu die große Bandbreite von dem Unternehmensmanagement entlehnten Konzepten einer dezentralen, dabei vernetzten Speicherung von Wissen sowie der Gewährleistung seiner Zugänglichkeit. Ebenfalls mit "Wissensmanagement", aber zugespitzt auf die Möglichkeiten und Probleme des "E-Governments", befasst sich Harald Mehlich. Alle diese Beiträge eröffnen interessante Perspektiven; freilich muss der Leser bereit sein, den aktuellen Management-Jargon mit seinen anglisierenden Wortungetümen und Neuschöpfungen ("Wissens-Sharing", 388) in seiner ganzen Breite zu erdulden. Manche der Beiträge (so etwa jener von Alfred Reichwein zu Möglichkeiten "strategischer Steuerung auf kommunaler Ebene") lösen sich in der Diktion kaum von den PowerPoint-Präsentationen, die ihnen offenkundig zu Grunde gelegen haben, und begeben sich leider zu Gunsten vieler Spiegelstrich-Auflistungen der Möglichkeit einer ruhigeren und fundierten Argumentation.

Einer aktuellen Entwicklung, der Privatisierung und Ökonomisierung besonders von Bereichen der kommunalen Leistungsverwaltung, nehmen sich die Beiträge von Alessandro Pelizzari ("Ökonomisierungstendenzen am Beispiel des Zürcher Spitalwesens"), Lothar Becker ("Die Verlagerung von Aufgaben auf kommunale Unternehmen in Privatrechtsform") sowie schließlich von Katharina Peters (zu "betriebswirtschaftliche[n] Methoden in der öffentlichen Verwaltung") an. Während Pelizzari am Beispiel der diagnosis related groups (diagnosebezogene Fallgruppen) eine vorrangig an betriebswirtschaftlichen Kriterien orientierte Neuorganisation des Gesundheitswesens sehr kritisch beurteilt und auch Becker zu einem skeptischen Fazit kommt, was den tatsächlichen Ertrag der Ausgliederung kommunaler Unternehmen in privatrechtliche Formen angeht, nähert sich Katharina Peters der Berliner Verwaltung in den Jahren 1996/97 mit der ethnologischen Methode der teilnehmenden Beobachtung. Ihr Beitrag beschließt den Band, indem er in einem zwar fiktiven, aber auf teilnehmender Beobachtung beruhenden Gespräch zwischen der Reformbeauftragten, dem Politiker, dem Unternehmensberater und dem Verwaltungspraktiker die unterschiedlichen Blickwinkel auf Notwendigkeit und Möglichkeit einer umfassenden Verwaltungsreform in einem von Finanzkrisen geprägten Bundesland freilegt.

Insgesamt bietet der Band ein außerordentlich breites Spektrum an Zugängen - von der fundierten, quellengesättigten historischen Untersuchung über die Vorstellung theoretischer Konzepte bis hin zur künstlerischen Auseinandersetzung mit dem "Wissen des Staates" -, sodass er ganz unterschiedlich gearteten Forschungsinteressen wertvolle Anregungen zu geben vermag.

Michael C. Schneider