Rezension über:

Greg Anderson: The Athenian Experiment. Building an Imagined Political Community in Ancient Attica, 508-490 B.C., Ann Arbor: University of Michigan Press 2003, xvii + 307 S., 26 fig., ISBN 978-0-472-11320-0, GBP 34,00
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Rezension von:
Karl-Wilhelm Welwei
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Mischa Meier
Empfohlene Zitierweise:
Karl-Wilhelm Welwei: Rezension von: Greg Anderson: The Athenian Experiment. Building an Imagined Political Community in Ancient Attica, 508-490 B.C., Ann Arbor: University of Michigan Press 2003, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 7/8 [15.07.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/07/8111.html


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Greg Anderson: The Athenian Experiment

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Die Hauptthese dieses Buches lautet, Attika und Athen seien erst in der Zeit von den Reformen des Kleisthenes bis zur Schlacht bei Marathon zu einem funktionsfähigen Gemeinwesen auf regionaler Basis zusammengewachsen. Anderson will sowohl die politischen als auch die ideologischen Dimensionen dieser Entwicklung darlegen.

Er geht davon aus, dass nach dem Scheitern des Isagoras 508/07 führende Athener von der Notwendigkeit einer völligen Neuordnung überzeugt gewesen seien und ihre Vorstellungen auch der breiten Masse der Athener wirkungsvoll vermittelt hätten. Hierdurch sei ein kollektives Gemeinschaftsgefühl entstanden, von dem starke Impulse zu weiteren Veränderungen ausgegangen seien (10). Allerdings räumt er ein, dass nicht einmal die Motive und Überlegungen des Kleisthenes in den Einzelheiten verlässlich überliefert sind. Methodisch ist es freilich bedenklich, wenn er in der Spezialliteratur zur Entstehung "moderner Nationen" Vergleichsmöglichkeiten zum Verständnis der von ihm untersuchten Ereignisse im archaischen und klassischen Athen zu finden glaubt.

Des Weiteren will Anderson eine Reihe von Gründen aufzeigen, die dazu geführt hätten, dass eine politische Einigung Attikas erst spät erreicht worden sei. Als Barriere für einen frühen Zusammenschluss der Bewohner Attikas vermutet er, dass bereits lange Zeit vor Solon lokale Abhängigkeiten armer Landbewohner von einer kleinen, Land besitzenden Schicht einflussreicher "clans" entstanden seien (17 f.). Lokale Eliten im archaischen Attika können indes nicht als "clans" bezeichnet werden. Dieser Begriff ist hier inadäquat. Außerdem lassen Solons Eunomia-Elegie und sein "Rechenschaftsgedicht" wohl kaum den Schluss zu, dass die von Anderson vermuteten Abhängigkeitsformen sich bereits in den 'Dark Ages' überall in Attika herausgebildet hatten.

Auch gibt es kein überzeugendes Argument für Andersons Auffassung, dass Drakons Gesetz zur Regelung des Verfahrens nach einem Tötungsdelikt und Solons Nomothesie nicht für alle Regionen Attikas Gültigkeit hatten. Bereits im homerischen Schiffskatalog (Ilias 2,546-556) figuriert Athen im Verhältnis zu Attika gleichsam als pars pro toto.

Andersons These vom "Partikularismus" im archaischen Attika ist aus mehreren Gründen nicht zutreffend. Sie bildet aber in seiner Argumentationskette die Prämisse für seine weitere Annahme, dass auch Peisistratos und seine Söhne keine effektiven Maßnahmen zur Herstellung einer politischen Einheit Attikas getroffen hätten und daher kein funktionierendes Gemeinwesen auf der gesamten Halbinsel vor den Reformen des Kleisthenes 508/07 existiert habe.

Dementsprechend ist für Anderson die historische Einordnung der Reformen des Kleisthenes das eigentliche Problem. Es stellt sich für ihn die Frage, inwieweit die Konstituierung des kleisthenischen Systems der Demen, Trittyen und Phylen mit dem Beginn der Demokratie zu verbinden ist. Er betont, dass Kleisthenes durch die Demen- und Phylenordnung und durch die Zusammensetzung der neuen Boulé der 500 das Gemeinschaftsbewusstsein der Athener zu stärken suchte. Um Missverständnisse zu vermeiden, möchte er aber in diesem Kontext den Demokratiebegriff nicht verwenden, sondern die von Kleisthenes initiierte Ordnung lieber als "popular government" klassifizieren (52). Er versteht hierunter nichts anderes als die Herrschaft der in der Volksversammlung präsenten Bürger. Mit der von ihm gewählten Bezeichnung stiftet er freilich erst recht Konfusion, da mit dem modernen Terminus "government" auch die Vorstellung von "Regierung" und "Regierungsgewalt" verbunden wird, die es nach heutigen Kriterien in Athen nicht gab.

Als Markstein der mit Kleisthenes beginnenden Entwicklung wertet Anderson das athenische Salamisdekret (Inscriptiones Graecae I3 1). In der Fixierung jenes Volksbeschlusses sieht er eine wichtige Innovation im Rahmen der kleisthenischen Ordnung (54). Dies besagt jedoch keineswegs, dass die Ekklesia durch Kleisthenes prinzipiell neue Kompetenzen erhalten hat.

Anderson betont aber mit Recht (66), dass nach den Reformen des Kleisthenes die Mehrheit der Teilnehmer an einer Ekklesia von einem Antragsteller für einen bestimmten Beschluss gewonnen werden musste. Um die Bedeutung des durch Kleisthenes erreichten Fortschritts in der Entscheidungsfindung zu verdeutlichen, konfrontiert Anderson die neuen Verhältnisse mit der Situation in der Zeit Solons und in den folgenden Jahrzehnten bis Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Solon kaum daran interessiert war, der großen Mehrheit der einfachen Athener größeres politisches Gewicht zu verleihen. Solon habe in erster Linie intendiert, diesen Leuten Schutz vor den "Mächtigen" zu bieten und das damalige System zu stabilisieren. Ein starker Einfluss der Maßnahmen Solons auf das politische Leben in Athen sei nicht erkennbar (75). Den von Solon ausgehenden Impulsen wird Anderson mit dieser Interpretation nicht gerecht. Solons Thesmoi waren für die athenischen Polisorgane von großer Bedeutung, wenn auch die politischen Spielregeln um die Mitte des 6. Jahrhunderts noch "relativ locker" waren, wie Anderson betont (76).

Eine Antwort auf die Frage nach den Voraussetzungen für die durch Kleisthenes initiierten Veränderungen im politischen Leben der Athener will Anderson durch Aufarbeitung einer beachtlichen Materialfülle finden, indem er Ergebnisse der Archäologie und mentalitäts- und militärgeschichtliche Studien berücksichtigt sowie zahlreiche Nachrichten zu Kulten und Festbräuchen einbezieht und detailliert Probleme der Überlieferung analysiert. Erfreulicherweise übernimmt er in diesem Zusammenhang mehrfach neuere Korrekturen an älteren Thesen und Forschungsergebnissen. Vor allem ist hier seine Kritik an der im angelsächsischen Sprachraum vielfach üblichen Übersetzung des griechischen Begriffs Phylé mit dem Wort "tribe" zu erwähnen. Er weist darauf hin, dass die griechischen Phylen keine Relikte prähistorischer Stammesgesellschaften waren, sondern Großgruppen innerhalb griechischer Polisgemeinschaften bildeten (123-146). Überzeugend ist des Weiteren seine Spätdatierung des athenischen Gründungsmythos, in dem Theseus zum Vollstrecker der 'staatlichen' Einheit Attikas stilisiert wurde (Thukydides 2,15,1-2). Gut herausgearbeitet ist von Anderson auch die Entstehung der Fiktion, dass die Demokratie durch die Tyrannis des Peisistratos und seiner Söhne nur eine Unterbrechung erfahren habe (206-209).

Gewagt sind hingegen die Schlüsse, die Anderson aus der so genannten Rückerinnerung der Athener zieht. Nach seiner Überzeugung hat man in Athen unmittelbar nach den Reformen des Kleisthenes überhaupt noch nicht erkannt, dass durch die neue Ordnung 508/07 v. Chr. die Polis fast über Nacht durch eine Vision von oben ("vision from above") eine ganz andere Struktur erhalten habe (81). Durch seine Interpretation der spärlichen Nachrichten zur Entstehung des athenischen Geschichtsbildes und der Konzeption vom politischen Synoikismos in Attika unter der Herrschaft des Theseus sieht Anderson sogar seine zentrale These bestätigt, dass die politische Einigung Attikas erst durch die Ereignisse der Jahre 508/07 vollendet worden sei, und die Entwicklung der folgenden Jahre bis 490 in ihrer Bedeutung mit großen historischen Transformationsprozessen wie der Entstehung des römischen Prinzipats und der Herausbildung nationaler Identitäten in der Neuzeit verglichen werden könne.

Die Strukturen der attischen Phratrien und der vier vorkleisthenischen Phylen zeigen aber, dass diese Verbände nicht lokal auf Athen und auf die Ebene von Athen begrenzt waren. Da an der Siedlungskontinuität in Athen von der mykenischen Palastzeit bis zu den 'Dunklen Jahrhunderten' kein Zweifel besteht, kann man davon ausgehen, dass die Kommunikation zwischen Athen und den wenigen nachmykenischen Siedlungen in Attika kaum unterbrochen war. Diese Beziehungen dürften sich im Zuge der von Athen ausgehenden Siedlungsaktivitäten seit dem späten 10. Jahrhundert verstärkt haben. Die Astoi der Gedichte Solons bildeten jedenfalls eine Gemeinschaft, die aus dem Demos und einer Oberschicht bestand, die ihre Besitzungen nicht nur in der näheren Umgebung von Athen hatten.

Anderson hat bei seiner Aufarbeitung der Geschichte Athens bis 490 immer wieder eingefahrene Gleise verlassen und neue Lösungen für alte Probleme zur Diskussion gestellt. Seine eigenen pointierten Thesen vermögen aber mehrfach nicht zu überzeugen.

Karl-Wilhelm Welwei