Rezension über:

Ludger Schwarte / Christoph Wulf (Hgg.): Körper und Recht. Anthropologische Dimensionen der Rechtsphilosophie, München: Wilhelm Fink 2003, 427 S., ISBN 978-3-7705-3905-5, EUR 48,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Dagmar Ellerbrock
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld
Redaktionelle Betreuung:
Maren Lorenz
Empfohlene Zitierweise:
Dagmar Ellerbrock: Rezension von: Ludger Schwarte / Christoph Wulf (Hgg.): Körper und Recht. Anthropologische Dimensionen der Rechtsphilosophie, München: Wilhelm Fink 2003, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 7/8 [15.07.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/07/8500.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Ludger Schwarte / Christoph Wulf (Hgg.): Körper und Recht

Textgröße: A A A

'Die Würde des Menschen ist unantastbar', konstatiert Art. 1 des bundesdeutschen Grundgesetzes. Was jahrzehntelang erfolgreich als Orientierungspunkt westdeutscher Rechtsordnung fungierte, sei "angesichts der anthropotechnischen Wucht der neueren Biowissenschaft" radikal irritiert (211), so Stephan Rixen in einem Beitrag des Sammelbandes.

Ausgehend von solchen Fragestellungen führt ein von dem Berliner Philosophen Ludger Schwarte und dem Berliner Pädagogen Christoph Wulf herausgegebener Band zu 'Körper und Recht' ein weitgespanntes Tableau von Beiträgen zusammen, die "die wechselseitige Verschränkung von Körper und Recht" thematisieren. Dabei solle zum einen - so die Herausgeber - "der Einfluß von Rechtsbegriffen auf Körperbilder deutlich werden", zum anderen "Fragen nach der Würde und Natur des Körpers, nach dem Körper als Träger von Rechten" usw. analysiert werden (8). Kontext dieses überaus ambitionierten Unterfangens sei der enorme Aufschwung wissenschaftlicher Fragestellungen, in deren Mittelpunkt der Körper stehe.

Schwarte und Wulf thematisieren mit ihrem Sammelband in der Tat eine hochaktuelle Problematik. Ausgehend von den Fragestellungen wissenschaftlicher Disziplinen, die sich bisher gegenseitig kaum wahrnahmen, soll ein Analyserahmen abgesteckt werden, in dem kulturwissenschaftliche und juristische Überlegungen kohärent aufeinander bezogen werden. Welche enorme juristische, politische, gesellschaftliche und ethische Relevanz dieser Thematik inhärent ist, verdeutlichen Einzelbeiträge. Sterbehilfe, Klonen, Embryonenschutz, Lebensschutz, Menschenrechte und 'Self-ownership' sind nur einige der weit reichenden Gegenstände, die in der Schnittmenge von Körperlichkeit und Recht liegen.

Nach einer kurzen, skizzenhaften Einführung der Herausgeber ist der Band in drei Großkapitel gegliedert. Das erste widmet sich "Körper-Inszenierungen und Repräsentationen des Rechts", das zweite Kapitel analysiert "Biotechnologie und Rechte des Körpers", und das dritte betrachtet "Körper und Souveränität". Bereits diese Struktur lässt erkennen, dass der Band stark an Fragestellungen und Forschungstraditionen der Kulturwissenschaften und weniger an denen der Rechtswissenschaft orientiert ist.

Ausgehend also von der aktuellen Konjunktur körperwissenschaftlicher Fragestellungen sollen diese zum Recht in Beziehung gesetzt werden, da "das Verhältnis von Körper und Recht [...] bislang kaum thematisiert" wurde (8). Auch wenn die systematische Analyse der Beziehung zwischen Körper und Recht bisher kein detailliertes Forschungsfeld darstellt, so liegt doch eine Vielzahl von Studien vor, die diese Relation einbeziehen. Als grundlegend können z. B. Analysen aus dem Bereich der Genderstudien gelten, die verfolgen, wie körperbezogene Merkmale in soziale und auch rechtliche Sanktionierung übersetzt werden. Studien aus dem Bereich der Politikforschung bzw. politischen Philosophie beschäftigen sich ebenso mit rechtlicher Diskriminierung aufgrund körperspezifischer Merkmale, wie eine Vielzahl historischer Analysen, für die häufig juristische Dokumente den zentralen Quellenbestand bilden. Auch die Frage, wie körperbasierte Phänomene in die Genese rechtlicher Normen eingingen, ist aus historischer Perspektive bereits überzeugend geklärt. Für das 20. Jahrhundert belegen insbesondere jüngere Studien zur Bio- und Rassenpolitik eindrücklich, wie vermeintlich körperliche Merkmale in juristische Normen gegossen wurden und soziale Diskriminierung legitimierten. Das vorliegende juristische Schrifttum, in dem Berührungspunkte zwischen Körperlichkeit und Normen behandelt werden, findet sich zum Teil im Anmerkungsapparat der Einzelbeiträge, wird aber für die konzeptionelle Anlage des Gesamtbandes nicht systematisch berücksichtigt. Die Auswertung dieser bereits vorliegenden Arbeiten, von denen hier nur einige herausgegriffen wurden, wäre hilfreich gewesen, um konzisere Fragestellungen und Fokussierungen zu finden.

Der Forschungsstand zum Thema ist jedoch zweifellos fachspezifisch fragmentiert, d. h. die angestrebte interdisziplinäre Zusammenführung stellt tatsächlich ein Forschungsdesiderat dar. Ein Grund für die ausstehende interdisziplinäre Aufarbeitung liegt in den spezialisierten Fachkulturen, die sich nur schwer transdisziplinär übersetzen lassen. Genau an dieser Stelle führt der vorliegende Band aber leider mäßig produktive Wissenschaftstraditionen fort, anstatt sich um die explizite Übersetzung singulärer Fachsprachen und Anschlüsse zwischen segmentierten Fachgebieten zu bemühen.

Sinnvolle methodische Offerten, beispielsweise der Rechtssoziologie, werden ohne Not vergeben. Zwar werden Naturrechtstheorie, Rechtspositivismus, Legitimitätskonstrukte und Altmeister Kelsen in der Einleitung kurz gestreift - unklar bleibt dabei, warum gerade Kelsen gegenüber anderen Rechtssoziologen favorisiert wird. Systematische Überlegungen über die Relation von Recht und Gesellschaft, die Funktion von Recht als sozialem Steuerungsmedium bzw. als bloßem Abbild sozialer Deutungsschemata, die Selbstbezüglichkeit bzw. die Abhängigkeit rechtlicher Entwicklungen von gesellschaftlichen, wissenschaftlichen, politischen und ähnlichen Entwicklungen, d. h. die Verschränkung rechtlicher und sozialer Transformation, werden weder analysiert noch systematisiert. Diese Vorüberlegungen wären sinnvoll gewesen, um zu klären, in welcher Form "Recht" "Körperlichkeit" gestaltet, wo die Schanierstellen liegen, welche Rückwirkungen es umgekehrt von Körperlichkeiten auf rechtliche Normen und Praktiken gibt, welche weiteren Faktoren und Strukturen dieses Verhältnis prägen und beeinflussen usw.

Schwarte und Wulf begreifen den "Körper als Träger von Rechten". Diese Auffassung ist überaus provokant, genau darin liegt ihr Reiz. Wirklich überzeugen kann sie jedoch nur, wenn sie sorgfältig begründet wird. Ob die Rechte des Körpers gleichzusetzen sind mit den Rechten der Person oder ob das Recht zwar von 'Person' spricht, generell aber eigentlich 'Körper' meint, solche und ähnliche Fragen bleiben im Wesentlichen ungeklärt.

Partiell werden diese Defizite von Einzelbeiträgen aufgefangen: So differenziert Heike Branzke sorgfältig unter Rückgriff auf rechtsphilosophische Überlegungen zwischen "Person", "Körper" und "Würde" (366 ff.) und erläutert überzeugend, wann eine Parallelisierung der Begriffe sinnvoll und wann sie logisch sinnlos ist. Stefan Rixen präpariert den Körper als unhintergehbaren Bezugspunkt der Menschenrechte heraus und betont die Interpretationsabhängigkeit von Körperlichkeit. Auch der Beitrag von Ulrich Steinvorth vermittelt durch die Differenzierung zwischen 'Person' und 'Körper' am Beispiel der Legitimität des Klones grundlegende Einsichten.

Ist also die Gleichsetzung von 'Körper', 'Person' und 'Individuum' immer und überall möglich, wie Schwarte und Ludger es in ihrer Begriffsverwendung suggerieren? Ist es gleichgültig, ob von 'Körper' oder von 'Person' gesprochen wird?

Nicht überall dort, wo der Begriff 'Körper' verwendet wird, betreiben die jeweiligen Autoren auch originäre Körperanalyse. Versteht man unter Körperanalyse eine Betrachtung der 'Körper' in ihrem Spannungsverhältnis zwischen biologischer und kultureller Formung, so werden Untersuchungen, die sich primär mit kulturellen Prägungen beschäftigen, dem eigentlichen Gegenstand nur partiell gerecht. Immer wenn der Begriff des 'Körpers' durch den Begriff der 'Person' ersetzt werden kann, ohne dass es zu argumentativen Brüchen oder logischen Leerstellen kommt, wäre zu begründen, dass es sich um eine körperwissenschaftliche Analyse handelt.

Recht prägt, gestaltet und sanktioniert soziales Leben bis in die letzte biologische Zelle hinein. Um diese Einsicht in interdisziplinäre Forschungsfragen zu gießen, sind klare Begriffe und präzise Kontextualisierung notwendig. Dies zeigt der Beitrag Sigrid Graumanns, die im Vergleich von Abtreibung, Präimplantationsdiagnostik und embryonaler Stammzellenforschung darlegt, wie sich biologisch ähnliche Phänomene aufgrund unterschiedlicher Kontexte zu Sachverhalten entwickeln, die rechtlich ganz unterschiedlich zu gewichten sind.

Dass der 'Körper' nicht nur kulturwissenschaftlich ein umkämpftes Terrain ist, sondern auch in juristischer Perspektive kein einheitliches Erscheinungsbild mehr abzugeben vermag, illustriert Beate Hermann am Beispiel des "Verfügungsrechts am eigenen Körper". Der 'Körper' kann offensichtlich innerhalb spezifischer Rechtsdiskurse sowohl als Sache wie auch als Person gelesen werden. Das überzeugende Votum der Autorin, den 'Körper' als Person zu verstehen, fußt argumentativ auf einer konzeptionell sorgfältigen Definition und Distinktion von 'Körpern'. Dass rechtliche Verfahren schon lange auf Vorannahmen über Körperlichkeit beruhen und von politischen Zäsuren nur mittelbar und langsam tangiert werden, unterstreicht Maren Hoffmeister in ihrem Beitrag über die juristische Gewichtung von Lustmord. Der 'Körper', so kann sie zeigen, war "grundsätzlich Ort der Schuld" (353).

Der Band hinterlässt einen ambivalenten Gesamteindruck. Uneingeschränkt positiv ist zu gewichten, dass die Herausgeber ein hochaktuelles, gesellschaftlich und politisch brisantes Thema aufgegriffen haben. Mit großem Gewinn sind viele der Einzelbeiträge zu lesen, die hier nicht alle in ihren überzeugenden und provokanten Aspekten genannt werden konnten. Viele argumentieren auf hohem analytischen Niveau, mit profundem Sachwissen und auf der Basis einer umfangreichen Kenntnis des Forschungsstandes. Daneben finden sich Einzelbeiträge, die mit der übergeordneten Fragestellung nach Körperlichkeit wenig bis gar nichts zu tun haben.

Wünschenswert wäre ein resümierendes Schlusskapitel gewesen, das die Fäden der einzelnen Beiträge nochmals aufnimmt, sie bündelt, mit Blick auf die einleitenden Forschungsfragen akzentuiert, Desiderate der bisherigen Forschungslage präzise benennt und davon ausgehend Leitfragen zukünftiger Analysen offeriert.

Dagmar Ellerbrock