sehepunkte 6 (2006), Nr. 10

Birgit Emich: Territoriale Integration in der Frühen Neuzeit

Mit Birgit Emichs Habilitationsschrift, einer Studie über die Integration des Herzogtums Ferrara in den Kirchenstaat, liegt eine weitere Arbeit aus der Freiburger Schule um Wolfgang Reinhard vor, die sich der Erforschung wesentlicher Prozesse der Staatsbildung und der Politikgestaltung am exemplarischen Beispiel des Kirchenstaates zur Zeit des Pontifikats Pauls V. Borghese verschrieben hat. Emich will am Beispiel der Integration des 1598 als erledigtes Lehen an den Kirchenstaat heimgefallenen Ferrara einen "Grundvorgang der neuzeitlichen Geschichte" (1) und zugleich neuzeitlicher Staatsbildung untersuchen. Zu Recht streicht die Autorin Integration von Territorien als einen Fundamentalvorgang des frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozesses hervor - erinnert sei nur an das Verschwinden zahlreicher italienischer Staaten zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert. Angesichts der bislang nur wenig systematisch vorangetriebenen Forschung zum Themenkomplex will Emich sowohl ein "Modell territorialer Integration in der Frühen Neuzeit" entwickeln als auch die Überprüfung des Modells am konkreten Beispiel leisten.

Wie sieht nun ihr Modell aus? Emich arbeitet ihre Theorie territorialer Integration durch Abgrenzung und Kennzeichnung der Differenzen zu existierenden Konzepten neuzeitlicher Integrationsvorgänge heraus (1-51). Drei Eigenheiten prägen demnach die frühneuzeitliche Integration: Der Kompromiss mit einem Teil der neuen Untertanen, das Fehlen einer tief greifenden gesellschaftlichen Mobilisierung und einer "integrativen Großideologie" (18). Daraus leiten sich für die Frühe Neuzeit als wesentliche Untersuchungsgegenstände von Integration ab: 1. die Untersuchung der Fundamente der Staatsgewalt in der Provinz, 2. die Einbeziehung der unmittelbaren Epoche nach der Einverleibung in die Analyse, und 3. gelte es die "mentale Umorientierung" als "dynamischen Faktor" des Integrationsprozesses zu skizzieren (19). Als Ersatz für die "neuzeitliche Integrationsideologie" wird vorgeschlagen, die spezifische "politische Kultur" der Frühen Neuzeit zu rekonstruieren (21-23), die wesentlich durch die von Wolfgang Reinhard vielfach untersuchte "Mikropolitik" der "Netzwerke" geprägt werde. Deren Erforschung eröffne den Zugang zu den Themenfeldern einer zeitgemäßen Absolutismus-Forschung, in der bekanntlich immer stärker das "Nicht-Absolutistische" im Absolutismus herausgestellt wird. Wesentliches Treibmittel der Staatsbildung war demzufolge weniger die Entstehung von Institutionen (Zentralbehörden etc.), sondern Verflechtung: "Staatsbildung" erfolgte durch "Verflechtung" (31) - dergestalt, dass die Verflechtung lokaler Eliten mit den Vertretern der Zentralgewalt Voraussetzung für ihre Akzeptanz und Durchsetzung wird. Zu prüfen, ob dies auch für die territoriale Integration von neugewonnenen Territorien gilt, ist Emichs Anliegen.

Das Instrument hierfür ist die Untersuchung von "Mikropolitik", die Emich anders als Reinhard allgemein definiert, als "die Aktivitäten, mit denen Individuen und Gruppen eigene Ziele verfolgen, gleichviel, ob [sc. sie] dies mit den Mitteln der Verflechtung oder mit anderen Techniken tun, und ebenso gleichgültig, ob es um die Vergabe von Stellen oder um ein anderes Feld der Politik geht" (35). Gegenstand der Erforschung territorialer Integration seien "politische Makroprozesse" auf der Mikroebene (36). Für das gewählte Exempel bedeutet dies die Erforschung der Institutionen (hier: Einrichtung einer Provinzverwaltung), die Verteilung ökonomischer Gewinne (hier: Eingliederung Ferraras in die Steueradministration des Kirchenstaates) sowie die Netzwerkanalyse (hier: die Personalpolitik des Papstes in Ferrara).

In drei umfangreichen Kapiteln, die jede für sich den Umfang einer Monografie erreichen und mit zum Teil umfangreichen (Zwischen-)Bilanzen schließen, ermöglicht sie mit dem Mikroskop einen Einblick in frühneuzeitliche politische Kultur und zeigt weit mehr als nur eine exemplarische Analyse, wie ein Territorium in einem anderen aufging. Da das Detailreichtum ihrer "dichten Beschreibung" hier nicht einmal in Ansätzen wiedergeben werden kann, sei einzig auf die Ergebnisse eingegangen.

Am Beispiel der "Wasserpolitik" - für das im Mündungsbereich des Po liegende und einerseits von regelmäßigen Überschwemmungen und andererseits von der zunehmenden Versandung und Versumpfung bedrohte Herzogtum eine existenzielle Frage - konstatiert Emich das Scheitern einer Integration über Institutionen. Die päpstliche Administration erwies sich langfristig als nicht in der Lage, mit den Nachbarn (der ebenfalls dem Kirchenstaat zugehörenden Provinz Bologna und der Republik Venedig) und Ferrara eine einvernehmliche Lösung der oben genannten Probleme zu finden. Dafür lassen sich am Verhalten des Legaten, der die Balance zu halten hatte zwischen den Interessen der Ferrareser Eliten und der Zentrale in Rom, wesentliche Strukturmerkmale kirchenstaatlicher Regierungspraxis aufzeigen. So kann Emich drei Handlungsebenen der Kommunikation zwischen Provinz und Zentrale identifizieren: die der Sachfragen, der Klientelpolitik und der Privatinteressen. Über alle drei Kanäle versuchte man Interessen durchzusetzen, Erfolg versprach aber vor allem letzterer: Die Kurie unter dem Borghesepapst Paul V. reagierte dann schnell, wenn die finanziellen Interessen des Papstnepoten bedroht waren - konkret: wenn das Hochwasser die Ländereien einer Pfründe bedrohte. "Sachfragen der Staatsverwaltung wurden von Beziehungen und Privatinteressen entschieden" (361). Die Ferrareser Eliten arrangierten sich schnell mit diesen Spielregeln der Politik im Kirchenstaat: "Partikularinteressen rangierten an oberster Stelle, klienteläre Bindungen und Beziehungen strukturierten das politische Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie, sachliche Erwägungen spielten die geringste Rolle" (364). Von einer Integration durch die Arbeit der Administration kann keine Rede sein.

Integration erfolgte vielmehr, dies ist Gegenstand der zwei folgenden Großkapitel, über Gewinnbeteiligung und Verflechtung. Die Ferrareser Eliten wurden in ihren Steuerprivilegien bestätigt, ausgewählte Mitglieder erhielten Zugang zur Wirtschaft des Kirchenstaates über die Zuteilung von Lizenzen zum Getreideexport (nach Rom). Die gesamte Wirtschafts- und Steuerpolitik stand unter dem Zeichen des Klientelismus - ein erfolgreiches Mittel, die Loyalität der Ferrareser zu erzwingen und zu sichern. Binnen weniger Jahre war die neugewonnene Provinz in die Klientelpolitik der Papstfamilien integriert: Wer aus Rom dorthin kam, hatte weniger die Lösung von lokalen Problemen im Auge als vielmehr die eigene Bereicherung.

Voraussetzung der "Integration durch Verflechtung" war die "Aufnahme der lokalen Patrone in die Klientel der Papstfamilie" (1077), denn dadurch konnte Rom - bzw. die regierende Familie - Kontrolle über lokale Machtstrukturen erlangen, ohne allzu sehr und allzu offensichtlich in diese intervenieren zu müssen. So richtete sich mit der Zeit in Ferrara jegliche Karriereplanung nach Rom aus, denn nur über die Kurie führte der Weg zu Wohlstand und Einfluss. Auf der Strecke blieben die politischen Traditionen der Stadt, die Erinnerung an ihre einstige Blüte unter den Este und die "regionale Identität" der Bevölkerung (zusammenfassend: 1075-1081). Der eigentliche Verlierer des päpstlichen Herrschaftssystems aber war die Masse der Bevölkerung, die die Kosten der Integration zu tragen hatte: eine erhöhte Steuerbelastung bei gleichzeitiger Zementierung der Privilegien des Adels, höhere Preise für Getreide, schlechtere Lebensbedingungen aufgrund der Unfähigkeit, die Wassermassen des Po zu kontrollieren.

Der Mythos von der Dekadenz Ferraras, ausgelöst durch den Heimfall an das Papsttum, muss daher, so Emich, differenziert werden: Denn der unbestrittene Niedergang von Stadt und Provinz - verursacht durch "Erstarrung in Privileg und traditionellen Wirtschaftsformen" (1090) - ist das Resultat einer erfolgreichen Integration in den Kirchenstaat mithilfe von Verflechtung. Verantwortlich dafür war nicht nur das Papsttum, sondern in hohem Maße auch die Ferrareser Eliten, die das Angebot der Integration in die politische Kultur der Kurie annahmen und davon profitierten - eben "Integration durch Gewinnbeteiligung".

Emich schließt ihre Untersuchung mit einem Plädoyer für die von ihr gewählte Methode der Verknüpfung der Erklärungsansätze zur Erforschung politischer Integration, deren Stärke - hier ist ihr zuzustimmen - in der Verbindung von Makro- und Mikrogeschichte liegt. Es wird sich zeigen, ob ihr Modell tatsächlich "auf jede andere Untersuchung territorialer Integration in der Frühen Neuzeit" übertragbar ist (1096). Alles in allem stellt Emichs Studie eine beeindruckende Leistung dar, durchgehend flüssig geschrieben, wobei hervorzuheben ist, dass eingeschobene Zusammenfassungen ein Sich-Verlieren in der Fülle der Details verhindern. So bleibt der rote Faden erhalten, wenn auch um den Preis einiger Wiederholungen.

Rezension über:

Birgit Emich: Territoriale Integration in der Frühen Neuzeit. Ferrara und der Kirchenstaat, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005, XIII + 1178 S., 3 s/w-Karten, ISBN 978-3-412-12705-3, EUR 99,90

Rezension von:
Sven Externbrink
Philipps-Universität, Marburg / Forschungsinstitut Europäische Aufklärung, Potsdam
Empfohlene Zitierweise:
Sven Externbrink: Rezension von: Birgit Emich: Territoriale Integration in der Frühen Neuzeit. Ferrara und der Kirchenstaat, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 10 [15.10.2006], URL: https://www.sehepunkte.de/2006/10/7892.html


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