sehepunkte 7 (2007), Nr. 2

Dietmar Neutatz / Volker Zimmermann (Hgg.): Die Deutschen und das östliche Europa

Der Osteuropahistoriker Detlef Brandes leitet seit 1991 das "Institut für die Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa" an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Die ihm gewidmete umfangreiche Festschrift spiegelt Forschungsthemen wider, die Brandes zum Aufgabenbereich seines Instituts gemacht hat. Dessen Denomination sowie die anfängliche Förderung durch das Bundesinnenministerium weisen auf die Spezifik der Institution, aber auch generell der Beschäftigung mit dem östlichen Europa in Deutschland hin: Wissenschaftliches Interesse sowie politische Förderung beruhten sehr häufig auf der besonderen beziehungsgeschichtlichen Konstellation Deutschlands und seiner östlichen Nachbarn - dies bedeutete für den Beginn der historischen Osteuropaforschung im 19. Jahrhundert eine starke Konzentration auf das Russische Reich sowie für die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg eine Fokussierung auf die ehemaligen Siedlungsgebiete deutscher Bevölkerung in Mittel- und Osteuropa, die durch die Ereignisse im und nach dem Zweiten Weltkrieg zum Schauplatz umfassender bevölkerungs- und systempolitischer Neuordnungen geworden waren.

Die Festschrift bündelt in sieben Themenblöcken zwanzig Beiträge, die von Schülern und Mitarbeitern sowie von einigen wissenschaftlichen Weggefährten des Geehrten stammen und die vor allem drei Forschungsfelder berühren: zum einen die Kriegs- und Nachkriegszeit in Ostmitteleuropa, gekennzeichnet durch nationalsozialistische Besatzungs- und Vernichtungspolitik sowie durch die Vertreibung und Zwangsaussiedlung der deutschen Bevölkerung nach dem Krieg, des Weiteren die Geschichte der deutschen Bevölkerungsgruppe(n) in Russland und der Sowjetunion (beide Themenblöcke stellen auch den Kern des wissenschaftlichen Werkes von Brandes dar) und schließlich die deutsch-polnische Beziehungsgeschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

Wenn an dieser Stelle nur einige Beiträge exemplarisch vorgestellt werden, so hängt deren Auswahl mit der Frage nach der gegenwärtigen wissenschaftlichen Ausrichtung des Faches Osteuropäische Geschichte zusammen. Eine solche Perspektive wird dem Band durch den Beitrag Manfred Hildermeiers, "Zukunftsperspektiven und historische Verantwortung. Das Beispiel der Osteuropäischen Geschichte", quasi vorangestellt. Hildermeier gibt wichtige Parameter für eine innerfachliche Selbstbefragung vor. Er nennt "Zeitgeist", "globale Großereignisse" sowie "Verwissenschaftlichung" als Faktoren, die den Rahmen für die disziplinäre Entwicklung des Faches Osteuropäische Geschichte bildeten und bilden. Positiv vermerkt er, dass sich das Fach von seinen "politischen" Ursprüngen zunehmend gelöst habe, und fordert ein, neuere methodologische und theoretische Perspektiven stärker in die Forschungspraxis dieser Regionalwissenschaft zu integrieren. Den Ertrag einer solchen methodologischen Modernisierung macht zum Beispiel der Beitrag von Dmytro Myeshkow zur Sozialkontrolle in russlanddeutschen mennonitischen Gemeinden zu Beginn des 19. Jahrhunderts deutlich. Die mikrogeschichtliche Analyse von Devianz und sozialer Kontrolle fördert neue Erkenntnisse zu Alltagspraktiken im Spannungsfeld von Familie - Gemeinde - Staat hervor und hebt sich damit entschieden von älteren Forschungen zur Geschichte der Russlanddeutschen ab, die statt der alltagsgeschichtlichen Untersuchung von Herrschaft als sozialer Praxis häufig ein deutschtumszentriertes Lokalkolorit in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen rückten. Ebenso weiterführende Erkenntnisse verspricht der Ansatz von Volker Zimmermann, der in seinem Beitrag Diskurse über die Ursachen für die Kriminalität im Osten des Deutschen Kaiserreiches zum Gegenstand der Analyse macht. An einem konkreten Beispiel wird hierbei deutlich, welchen Erkenntnisgewinn die bislang häufig nur theoretisch geforderte Betrachtung des Kaiserreiches als eines multiethnischen Staates zeitigen kann. Die Analyse der verflochtenen Diskurse über Kriminalität, Rasse und Nationalität macht eindringlich klar, wie Fremdheit in der Gesellschaft des Kaiserreiches auf unterschiedlichen Ebenen und mit (neuen) Wissenskategorien konstruiert und erklärt wurde.

Verflechtung und Transfer als gerade in jüngster Zeit viel diskutierte geschichtswissenschaftliche Themen spielen in einigen der beziehungsgeschichtlich orientierten Beiträge des Bandes eine Rolle. So kann etwa Stefan Lehr anhand des Streits über die Rückgabe von preußischen Akten aus Warschauer Archiven während des Ersten Weltkriegs deutlich machen, wie eng deutsche und polnische Geschichte auch im Hinblick auf die materiellen Träger der historischen Erinnerung verflochten sind. Severin Gawlitta zeigt in seiner Analyse des Bildes der deutschen Kolonisten in kongresspolnischen Zeitungen vor allem der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie Fremdheit sowohl national-kulturell als auch sozioökonomisch konturiert wurde und wie zugleich Lebenswelten durch beziehungsgeschichtliche Überformungen im internationalen Mächtesystem bestimmt wurden.

Ein Teil der Beiträge ist der Untersuchung kommunistischer Herrschaftspraktiken in Osteuropa seit 1917 bzw. seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gewidmet. Dabei erweist sich vor allem ein Zugriff als weiterführend, der Kommunismus bzw. Staatssozialismus nicht als feststehende Herrschaftssysteme voraussetzt, sondern analysiert, inwieweit die jeweiligen politischen Formationen nationale, konfessionelle und soziale Konfliktlagen in den unterschiedlichen Transformationsprozessen für sich nutzbar machten, damit aber auch durch diese geformt wurden. Überzeugend plädiert so Andreas Wiedemann am Beispiel der Neubesiedlung der ehemaligen Sudetengebiete für eine integrierte Erforschung von Migrationsprozessen und Systemwandel. Alena Mišková kann anhand der Nationalen Treuhandverwaltungen in der Nachkriegstschechoslowakei deutlich machen, wie der sozial- und der nationalitätenpolitische Umbau des Staates auch institutionell miteinander verknüpft war. Victor Dönnighaus zeigt am Beispiel der Sowjetunion der Zwanzigerjahre, wie die Nationalitätenpolitik in jenen ersten Jahren der Sowjetherrschaft gerade in ihrer inhaltlichen Flexibilität zu einem wichtigen Element der Herrschaftskonsolidierung wurde. Dieser Befund, der die Wichtigkeit einer analytischen Verknüpfung der Kategorien Klasse und Nation belegt, wird auch im Beitrag von Thorsten Pomian deutlich, der nach der Funktion der "nationalen Rayons" der deutschen Minderheit in der Ukraine in den Jahren 1924-1939 fragt.

Weitere Beiträge betreffen das Thema Zwangsmigration generell und vor allem die Zwangsaussiedlung der Deutschen aus Ostmitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Frage nach der "historischen Notwendigkeit" der Vertreibung und Zwangsaussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei, die Dietmar Neutatz stellt, und die Einordnung dieser Vorgänge in eine umfassende historisch-soziologische Forschungsmatrix, die Jan Křen vornimmt, zeigen, dass bei allen tagespolitischen Konflikten, die das Thema noch immer umgeben, die geschichtswissenschaftliche Forschung bereits auf beachtliche Erträge zurückgreifen kann, die solche synthetisierenden Stellungnahmen erst ermöglichen. Der Beitrag, den der mit dieser Festschrift Geehrte zu diesem Forschungsstand geleistet hat, wird nicht zuletzt durch das beeindruckende Schriftenverzeichnis, das den Band beschließt, deutlich.

Rezension über:

Dietmar Neutatz / Volker Zimmermann (Hgg.): Die Deutschen und das östliche Europa. Aspekte einer vielfältigen Beziehungsgeschichte. Festschrift für Detlef Brandes zum 65. Geburtstag, Essen: Klartext 2006, 394 S., ISBN 978-3-89861-629-4, EUR 34,90

Rezension von:
Claudia Kraft
Universität Erfurt
Empfohlene Zitierweise:
Claudia Kraft: Rezension von: Dietmar Neutatz / Volker Zimmermann (Hgg.): Die Deutschen und das östliche Europa. Aspekte einer vielfältigen Beziehungsgeschichte. Festschrift für Detlef Brandes zum 65. Geburtstag, Essen: Klartext 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 2 [15.02.2007], URL: https://www.sehepunkte.de/2007/02/11517.html


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