Rezension über:

Bruno Thoß: NATO-Strategie und nationale Verteidigungsplanung. Planung und Aufbau der Bundeswehr unter den Bedingungen einer massiven atomaren Vergeltungsstrategie 1952-1960 (= Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland; Bd. 1), München: Oldenbourg 2006, IX + 774 S., ISBN 978-3-486-57904-8, EUR 39,80
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Rezension von:
Susanna Schrafstetter
University of Nebraska, Lincoln, NE
Empfohlene Zitierweise:
Susanna Schrafstetter: Rezension von: Bruno Thoß: NATO-Strategie und nationale Verteidigungsplanung. Planung und Aufbau der Bundeswehr unter den Bedingungen einer massiven atomaren Vergeltungsstrategie 1952-1960, München: Oldenbourg 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 3 [15.03.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/03/10853.html


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Bruno Thoß: NATO-Strategie und nationale Verteidigungsplanung

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"Im Falle eines heißen Krieges zwischen Sowjetrußland und den Vereinigten Staaten [sind wir] das europäische Schlachtfeld und wenn wir in der Atlantikpaktorganisation sind, dann sind wir dieses Schlachtfeld nicht mehr", rechtfertigte Bundeskanzler Adenauer 1954 die Entscheidung für den NATO-Beitritt der Bundesrepublik (555). Die vorliegende Studie von Bruno Thoß erläutert auf nahezu 800 Seiten, warum diese Aussage Wunschdenken blieb. Im Rahmen der Strategie der massiven Vergeltung würde die NATO einen Angriff der Sowjetunion aufgrund unzureichender konventioneller Streitkräfte mit dem sofortigen Einsatz von Atomwaffen beantworten. Pläne, die ursprüngliche NATO-Verteidigungslinie entlang von Rhein und Ijssel weiter nach Osten zu verlagern, konnten im Laufe der 1950er-Jahre nur ansatzweise verwirklicht werden. Somit wurde das Szenario, das die Bundesrepublik als atomares Schlachtfeld eines neuen Krieges sah, zu einem bestimmenden Faktor der westdeutschen Verteidigungspolitik.

Thoß gliedert seine Arbeit in zwei Teile. Im ersten Teil werden die Entwicklung der Strategie der massiven Vergeltung und die Frage diskutiert, wie der westdeutsche Verteidigungsbeitrag im Rahmen dieser Strategie aussehen sollte. Thoß beginnt mit dem zentralen Dilemma der westlichen Verteidigungsplanung der frühen Fünfzigerjahre, dem Dilemma zwischen "angenommener Bedrohung" durch die Sowjetunion und "finanzierbarer Verteidigung" (39). Die Lösung dieses Problems sah man in der nuklearen Abschreckung.

Im Rahmen dieser Nuklearisierung der NATO sollten zwölf bundesdeutsche Divisionen das Gros der ersten Verteidigungslinie bilden. Gleichzeitig war der von Adenauer angebotene Verteidigungsbeitrag mit der Erwartung einer Sicherheitsgarantie für bundesdeutsches Territorium verbunden. Im Falle eines sowjetischen Angriffs, so die militärische Einschätzung, konnte allerdings bestenfalls von einer westlichen Verteidigungslinie am Rhein ausgegangen werden. Hieraus ergaben sich für die Bundesrepublik zwei wesentliche Probleme. Erstens, so zeigt Thoß, erwartete Bonn, dass mit dem Aufbau ihrer Streitkräfte die Verlegung der Verteidigungslinie nach Osten beschleunigt wurde, während die kontinuierliche Reduzierung der verbündeten Truppen in der Bundesrepublik genau das gefährdete (74). Zweitens verdeutlichten NATO-Planspiele wie Carte Blanche, dass bei einem Einsatz taktischer Atomwaffen die Bundesrepublik zum nuklearen Schlachtfeld werden und hauptsächlich deutsche Soldaten, als tripwire forces, die gefährlichsten Aufgaben übernehmen würden. Aus diesem Grund klammerte sich General Heusinger an eine konventionellere Ausrichtung der Bundeswehr und wollte den Grad der Nuklearisierung der Allianz nicht wahrhaben. Dies hing allerdings nicht nur mit dem atomaren Vernichtungsszenario zusammen, sondern auch "mit nach rückwärts gewandtem operativem Denken" (133).

Der schleppende Aufbau der Bundeswehr resultierte auch aus der Divergenz zwischen Aufstellungszielen und finanziellen Mitteln. Hier geht Thoß vor allem auf die Rolle von Bundesfinanzminister Schäffer ein, der die Kosten so gering wie möglich halten wollte und sich zu der Argumentation verstieg, Soziallasten für Kriegsopfer seien als "indirekte Verteidigungslasten" zu verstehen (174). Der erste Teil der Darstellung fasst bereits bekannte Forschungsergebnisse zusammen und überzeugt durch souveräne Sachkenntnis ebenso wie durch sicheres Urteilsvermögen. Allerdings hätten die zentralen Ausgangspunkte insgesamt bündiger dargestellt werden können.

Im zweiten Teil seiner Arbeit analysiert Thoß den Aufbau der Bundeswehr sowie Verteidigungs- und Zivilschutzplanung vor dem Hintergrund der massive retaliation und der sich mit den technologischen Fortschritten der Sowjetunion verändernden Rahmenbedingungen. Zunächst geht es dabei um die Zusammenarbeit mit den unmittelbaren Nachbarn bei der Verteidigung der NATO- Flanken und des Vorpostens West-Berlin. Besonders interessant ist hier das Kapitel über Dänemark, wo Thoß zeigt, inwieweit die Erinnerung an die deutsche Besatzung der Zusammenarbeit klare Grenzen setzte. Leider ist dies das einzige Kapitel, in dem vergangenheitspolitische Faktoren eingehend analysiert werden.

Dann betritt Thoß wieder sehr viel bekannteres Terrain und wendet sich der westdeutschen Diskussion um die atomare Bewaffnung der Bundeswehr und die Stationierung amerikanischer Atomwaffen sowie der Frage nach nuklearer Mitbestimmung zu. Hier wird gezeigt, dass die Konsequenzen der Nuklearisierung der NATO innerhalb der Bundeswehrführung keineswegs unumstritten waren. Deutsche Generäle mussten jedoch bei NATO-Übungen feststellen, dass Briten und Amerikaner großzügig Atomwaffen einsetzten, während die deutschen Kollegen zur "Sparsamkeit" mahnten (352, 540). Auch wenn Thoß hier alternative Verteidigungsstrategien skizziert, die innerhalb der Bundeswehrführung diskutiert wurden, würde man gerne mehr darüber erfahren, inwieweit und mit welchen Vorschlägen (alte und neue) Generäle sich an dieser Diskussion beteiligten. Die Vorstellungen innerhalb der Bundeswehr bleiben insgesamt stark auf die Ideen der Protagonisten Speidel und Heusinger begrenzt.

In der Debatte um die nukleare Mitsprache im Bündnis erörtert Thoß vor allem die Pläne zur nuklearen Zusammenarbeit zwischen Frankreich, Italien und Deutschland, die mit General de Gaulles Rückkehr an die Macht 1958 ein jähes Ende fanden. In der zentralen Frage, ob dieser europäische Weg zur nuklearen Beteiligung nur eine Station auf dem Weg zur nationalen Verfügungsgewalt über Atomwaffen hätte darstellen sollen, kommt Thoß zu dem angesichts der Forschungslage nicht überraschenden Schluss: Dass "Strauß [...] wie ihm immer wieder zugetraut wurde, wirklich auf den nationalen Besitz von Atomwaffen zugesteuert habe, dafür fehlen die Belege" (496). 1958 wurde auch klar, dass die Verlegung der Verteidigungslinie nach Osten (von der Rhein-Ijssel- an die Weser-Lech-Linie) zwar auf dem Papier vollzogen wurde, aber wegen des noch immer schleppenden Aufbaus der Bundeswehr und der Reduzierung alliierter Kontingente wenig mehr war, als ein Schritt zur Beruhigung des deutschen Partners. Das zentrale Dilemma, dass man im Kriegsfall in Schutt und Asche hätte legen müssen, was man doch verteidigen wollte, blieb ungelöst.

Zu mindern versuchte man die potenziellen Kriegsfolgen mit Planungen zum Zivilschutz, auf die Thoß in seinem letzten Kapitel eingeht. Nicht nur im Bezug auf die Bundesrepublik hat die Forschung zum Problemkreis Zivilverteidigung noch Lücken aufzuweisen. Dies gilt ebenso für die übrigen NATO-Partner, was auch darauf zurückzuführen ist, dass zum Teil Aktenbestände noch nicht oder erst seit Kurzem zugänglich sind. Dieses Kapitel stellt den interessantesten Teil der Studie dar. Hier gelingt es Thoß eindrucksvoll, die völlig unzureichenden Vorkehrungen auf den Gebieten Luftschutz, Evakuierung und Nahrungsmittelversorgung der Zivilbevölkerung zu belegen. Inwieweit Zivilschutz überhaupt möglich war, darüber lässt sich streiten, aber selbst praktikable Maßnahmen wurden nicht realisiert. Sogar in der Kriegsbevorratung für die Truppen fehlte es an allen Ecken und Enden. Dass man die Bevölkerung angesichts der mehrheitlich ablehnenden Haltung gegenüber Atomwaffen und der Erfahrungen des letzten Krieges nicht über die wirklichen Folgen eines atomaren Konflikts aufklären wollte, hätte noch deutlicher gemacht werden können. Nicht nur in den USA erklärte Bert, die Schildkröte, in einem Film über den Katastrophenschutz an Schulen, dass man sich durch "duck and cover" bestens vor den Gefahren einer Atombombe schützen könne; ähnliche Verharmlosungen sind auch in Deutschland verbreitet worden.

Insgesamt hätte die neueste Forschungsliteratur in noch größerem Umfang berücksichtigt werden können. [1] Der darstellerischen Leistung tut dies indes keinen Abbruch. Thoß hat mit dieser Arbeit eine beeindruckend kenntnisreichende Synthese vorgelegt, die auch in einigen Punkten mit neuen Forschungsergebnissen aufwarten kann.


Anmerkung:

[1] So hätten z.B. Monographien und Sammelbände von Hubert Zimmermann, Alaric Searle, Hope Harrison, Andreas Wenger, Wolfgang Krieger, Ronald Granieri, Detlef Bald und Alice Holmes Cooper Beachtung finden können.

Susanna Schrafstetter