sehepunkte 7 (2007), Nr. 5

Thomas Kühne: Kameradschaft

Den überwiegenden Teil ihrer Gesamtverluste erlitt die Wehrmacht erst in der Endphase des Zweiten Weltkriegs, als die Niederlage längst unabwendbar geworden war. Dass die deutschen Truppen buchstäblich auf verlorenem Posten bis zuletzt weiterkämpften und die Auflösungserscheinungen in ihren Reihen selbst in dieser aussichtslosen Lage begrenzt blieben, werteten schon ihre Gegner als Ausweis einer außergewöhnlichen Kohäsion. In seiner Studie über die "Kameradschaft" untersucht Thomas Kühne das mythische Leitbild, das dem Zusammenhalt in der Wehrmacht zugrunde lag. In Weiterführung der Primärgruppentheorie zeigt Kühne, dass dieser Zusammenhalt mehr als nur das Ergebnis der Personalpolitik der Wehrmacht war, sondern auf einer weithin verinnerlichten sozialen Praxis beruhte, deren Ideologie das Kameradschaftsideal lieferte.

Diese Sozialkultur war keine Erfindung der Nationalsozialisten, sondern knüpfte an eine weiter zurückreichende Tradition an und blieb selbst nach der Zäsur von 1945 tragfähig. An dieser Kontinuitätslinie orientiert sich der Aufbau der Studie. Im ersten Teil analysiert Kühne den Diskurs über die Kameradschaft und die Entstehung des Mythos in der Zwischenkriegszeit anhand zeitgenössischer Publizistik. Der zweite Teil, der vor allem auf Selbstzeugnissen basiert, widmet sich der Erfahrungsgeschichte der Soldaten während des Zweiten Weltkriegs. Abschließend untersucht Kühne, welche Rolle der Kameradschaftsmythos in der Verarbeitung des Krieges nach 1945 gespielt hat.

Dass das Kameradschaftsideal erst in der Erinnerung zur Realität verklärt wurde, daran lässt Kühne keinen Zweifel. Zwar half die Kameradschaft vielen Soldaten, die Schrecken des Krieges zu ertragen. In beiden Weltkriegen aber bildete die "absolute Kameradschaft" eher die "Ausnahme von der Regel militärischer Vergesellschaftung", in der "Intrigen, Stänkereien und Reibereien [...] an der Tagesordnung" waren (149). Dass die Kameradschaft dennoch zum Leitbild avancierte, erklärt sich durch das allgemeine Bedürfnis nach Sinnstiftung, das aus dem "Durcheinander disharmonischer und widersprüchlicher Kriegserlebnisse" das Bild von "Ordnung, Sinn und Gemeinschaft" formte. Die Komplexität der Realität wurde auf die soziale Dimension reduziert, um mit der "Vergangenheit leben und die Zukunft gestalten zu können" (50). Der Gegenwartsbezug des Kameradschaftsmythos lag nicht zuletzt in seiner exkulpierenden Funktion, die den Veteranen beider Weltkriege half, ihre persönliche Verantwortung für die Gewaltorgien mit ihrem Selbstbild in Einklang zu bringen und sich in die Zivilgesellschaft reintegrieren zu können. Denn wer die "Menschlichkeit der Kameradschaft" (232) bewiesen hatte, der "konnte kein schlechter Mensch, kein Verbrecher gewesen sein" (278), lautete die Logik.

Nachdem die Kameradschaft in den Zwanzigerjahren noch umstritten geblieben war, vollzog sich etwa um 1930 ihre Apotheose, bevor sie im "Dritten Reich" schließlich zur Staatstugend aufstieg, was ein deutsches Spezifikum war. Begünstigt wurde die Etablierung des Kameradschaftsmythos "durch die kollektive Arbeit an den Lasten" des Ersten Weltkriegs, die das Individuum überforderte und zu einem allgemeinen Paradigmenwechsel führte. An die Stelle der christlich geprägten Gewissenskultur, die auf die individuelle Verantwortung setzte, trat die an der Gemeinschaft orientierte Schamkultur, die dem Konformismus vorarbeitete (89 f.).

Der Begriff der Kameradschaft war zwar Wandlungen unterworfen, blieb aber zu jedem Zeitpunkt vielgestaltig und zog nicht zuletzt aus dieser Polyvalenz seine große Integrationskraft. Die Kameradschaft kompensierte die Zerrissenheit der Masse der "gezogenen Soldaten" und integrierte selbst Weichheit und Weiblichkeit in das Konzept der männlichen Härte. Die Hierarchie der Werte blieb freilich unangetastet. Den höchsten Wert bildete stets die Gemeinschaft, die jeden Einzelnen kompromisslos verpflichtete, "das eigene Ich auf dem Opferaltar des Wir darzubringen" (126). Diese Gruppenkultur förderte die rigorose Ausgrenzung aller Abweichler und generierte Konformitätsdruck. Wer mitzog, hatte Aussicht auf soziales Prestige und Geborgenheit; wer ausscherte, dem drohte der "soziale Tod" (88). Die Kameradschaft bildete den quasi-sakralen Überbau für eine "Moral des Mitmachens", in der alles gerechtfertigt war, "was der Vergemeinschaftung nützte" (204). Damit ging einher, dass der Einzelne von der Moral des Gewissens dispensiert wurde. Die Gemeinschaft wurde zur obersten Richtinstanz, die das Individuum von jeder Verantwortung entlastete, solange es "mit den anderen handelte". In besonderem Maße galt dies für die Mitwirkung an Verbrechen.

Da das Konzept der Kameradschaft mit einem Imperativ zum Mitmachen versehen war und gleichzeitig Legitimationsstrategien bereithielt, wirkte es stets auch "als Motor der Gewalt, und zwar der regulären wie der verbrecherischen" (272). Die meisten Soldaten führten Erschießungsaktionen wohl nur widerwillig durch. Doch wer sich der "unangenehmen Pflicht des Mordens" entzog, "verstieß gegen das Kameradschaftsgebot der gleichmäßigen Lastenverteilung" (187). Zudem bedeutete jede Nachsicht gegenüber den propagandistisch dämonisierten äußeren Feinden letztlich die Leugnung des Primats der Binnengruppe (108). Insbesondere galt dies für die Gewalttaten, die als Vergeltungsaktionen auf Verbrechen der Gegenseite legitimiert wurden. Wenn die "Gruppenehre [...] nach Rache schrie", war es die Umkehrung der "Menschlichkeit, welche die Gruppe im Inneren pflegte", die den "Dispens der Humanität gegenüber dem Gegner" lieferte (151 ff.). Inmitten der Bedrohungsszenarien des Vernichtungskrieges trug auch die tief wurzelnde "Sehnsucht nach Gemeinschaft" dazu bei, dass sich die Soldaten am kollektiven Normbruch beteiligten, der in höchstem Maße soziale Verdichtung schuf. Diese Form der Vergemeinschaftung entlarvten freilich schon manche Zeitgenossen als "kriminelle Komplizenschaft" (135). Tatsächlich konnte die Kameradschaft die Soldaten sowohl in Humanität und Altruismus als auch in Gewalt und Unmenschlichkeit vereinen. Wie Kühne herausstellt, waren dies keine Widersprüche, sondern nur verschiedene Ausprägungen der gleichen janusköpfigen Sozialkultur.

Die Veteranen, die nach 1945 die Arbeit am Mythos fortführten, reduzierten die Kameradschaft erneut auf ihre humanitäre Dimension und prägten eine viktimisierende Erinnerungskultur, die bis in die Siebzigerjahre kaum hinterfragt wurde (230). Erst seit den Achtzigerjahren, als die Veteranen auch aus demografischen Gründen die Deutungshoheit verloren, ließ die "reinigende Wirkung" der Kameradschaft zunehmend nach; seitdem trat ihre Kehrseite als "psychosozialer Motor" von Gewalt und Verbrechen ins öffentliche Bewusstsein (263 ff.).

Kühnes Studie zieht ihre Überzeugungskraft aus der Kombination von militärgeschichtlicher Hermeneutik mit diskursanalytischen, kulturhistorischen und sozialpsychologischen Perspektiven. Ihre Ergebnisse stützen sich auf eine reichhaltige und aussagekräftige Materialsammlung. Kühnes äußerst gewinnbringende Studie wirft neues Licht auf die Ursprünge der Bereitwilligkeit der Deutschen, Hitlers Vernichtungskrieg zu realisieren. Wie Kühne zeigt, lagen die Wurzeln des Konformismus, der die Willfährigkeit der Wehrmacht gewährleistete, schon in der Zivilgesellschaft der Weimarer Republik; sie waren so kräftig, dass sie bis in die Nachkriegszeit hielten.

Rezension über:

Thomas Kühne: Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 173), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, 327 S., ISBN 978-3-525-35154-3, EUR 39,90

Rezension von:
Felix Römer
Freiburg/Brsg.
Empfohlene Zitierweise:
Felix Römer: Rezension von: Thomas Kühne: Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 5 [15.05.2007], URL: https://www.sehepunkte.de/2007/05/10611.html


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