sehepunkte 7 (2007), Nr. 5

Lucien Febvre: Der Rhein und seine Geschichte

Lucien Febvres "Rheinbuch" ist ein paradigmatischer Essay der französischen "Annales"-Geschichtsschreibung. Der Autor selbst gab ihn 1935 gründlich überarbeitet neu heraus, nachdem er als Teil einer Firmenfestschrift erstmals 1931 erschienen war. [1] Mehr als ein halbes Jahrhundert später machte Peter Schöttler [2] den Text einem breiten deutschsprachigen Publikum zugänglich. Selbst in der Übersetzung wirkt Febvres Rheinbuch durch seinen glänzenden, gelegentlich polemischen oder auch ironischen Stil. Sein Spannungsbogen setzt an bei den natur- und kulturräumlichen Gegebenheiten und schwingt sich über eine im Kern kultur-, sozial- und - im geringeren Maße - auch wirtschaftshistorische Darstellung hinweg bis hin zu den politisch aufgeladenen Debatten der 1930er-Jahre.

Mit lockerer Hand argumentierend zeichnet Febvre ein Erklärungsmodell, das die damals herrschenden Thesen nationalistisch geleiteter Geschichtsschreibung widerlegen sollte: Der Rhein - die "natürliche Grenze" oder gar ein Strom Frankreichs? Der Rhein - die Grenze Deutschlands oder gar ein "deutscher Strom"? Seine Antwort: "Die große Besonderheit des Rheins - von den Anfängen der menschlichen Geschichte bis zur Entfaltung der modernen Zivilisation - besteht in seiner Fähigkeit zu verbinden und anzunähern" (186).

Zunächst klärt der Autor Grundsätzliches: Der Rhein ist nicht nur Naturphänomen oder Ergebnis einer zunehmend vom Menschen geprägten Landschaft, er ist auch, so Febvres These, eine Erfindung des Menschen. Die Auswahl jener Teile dieses weit verästelten Fluss-Systems, die als "Rhein" bezeichnet wurden, trafen Menschen, die Orientierung suchten, auf ihren Wegen von der Nordsee bis nach Italien (17). Keinesfalls sei der Rhein eine "natürliche Grenze". Er diente antiken Autoren und Strategen lediglich als bequemes Hilfsmittel, in der Vielfalt der Volksgruppen jenseits der Alpen Ordnung zu schaffen. Eine ethnische, "rassische" Trennung zwischen Kelten und Germanen sei hier nicht auszumachen, vielmehr eine wechselseitige Durchdringung und Symbiose keltischer, germanischer und romanischer Bevölkerungsgruppen und verschiedenster kultureller Einflüsse (40). Das Rheinland sei ein Grenzgebiet, eine Zone des Übergangs mit eigenem Gewicht (31), in der eine überaus heterogene und ungleichzeitige Kombination verschiedener "Kräfte" wirkte (41).

Das Rheinland entstand, so Febvre, aus dem Zusammenspiel von drei "Fermenten": der "Romania", der "Barbaren" und der "Kirche". Die Städte am Rhein gingen aus den befestigten Lagern der römische Rheinarmee hervor (51). Die aus allen Himmelsrichtungen zugewanderte oder abkommandierte Bevölkerung brachte ihre Gottheiten mit, die römisch umgedeutet wurden. Die germanische Eroberung, die "Barbarisierung" der Rheinlande vom dritten bis zum fünften Jahrhundert schildert Febvre als Bruch und Niedergang der lateinischen Kultur, betont aber auch die Kontinuitäten der nachfolgenden germanischen Kulturen mit der römischen Zivilisation. Das Latein, die Sprache des Römischen Imperiums, überdauerte in den Kanzleien der Herrscher und vor allem in der Kirche. Irische und angelsächsische Missionare stärkten die spätantiken christlichen Wurzeln des Rheinlandes, streitbare Bischöfe und wohl organisierte Mönche schufen eine Kirchenorganisation, die zur Ausgangsbasis für die Entstehung Deutschlands wurde (93).

Die Städte am Rhein mit ihren römischen, germanischen und christlichen Wurzeln, ihren religiösen Zentren, ihrer Handelsmacht, ihren Gewerben und ihrer privilegierten Bevölkerung ragten wie Inseln aus dem Meer des ländlichen Raumes, der den Territorialfürsten unterworfen blieb. Bei der Darstellung einer prinzipiell richtig beobachteten Dichotomie von ländlicher und städtischer Gesellschaft in den Rheinlanden zeigt Febvre, dass auch er nicht frei von Vorurteilen schreibt: "So bildeten sich zwischen den Städten riesige Landflächen, wo weder gleiches Recht noch gleiche Kultur noch gleiche Interessen herrschten. Dort lebten gleichsam die 'wilden Tiere': ein roher, halbwilder Menschenschlag, dessen exzessive Freß- und Trinkgelage, dessen eintönige, mit den Absätzen gehämmerte Tanzschritte an Riten primitiver Völker erinnern. Und die dunklen Gedanken, die unter diesen dicken, ungehobelten Schädeln keimten, werden wohl immer ein Geheimnis bleiben". (134). Hier wird Febvre der Landbevölkerung - und nicht nur jener des Rheinlandes - nicht gerecht.

Der Nationalstaat neuen Typs erreichte den Rhein erst mit den Folgen der Französischen Revolution nach 1789. Dies skizziert Febvre im letzten Kapitel der Darstellung, das er der Ausgabe von 1935 neu hinzufügte. Durch Eroberung wurde der Rhein zur Grenze der Französischen Republik, dann zum Bestandteil des Französischen Kaiserreichs, an das sich nach Osten hin die Satellitenstaaten des Rheinbundes anschlossen. Nachdem er im Wiener Kongress internationalisiert worden war, machten ihn die Einigung der deutschen Staaten unter der Führung Preußens und die Annexion des Elsass zumindest partiell zum "deutschen Rhein". Dies wurde durch die Versailler Friedensverträge von 1919 und nach der endgültigen deutschen Niederlage 1945 rückgängig gemacht. Febvre betrauert den Untergang der rheinischen Städte als Konsequenz des erneuten Versuchs, diese Rückannexion zu korrigieren (209-217). [3]

Implizit ist die zeitgenössisch hochbrisante Debatte um die Frage der Zugehörigkeit des Rheinlandes immer präsent. Dabei stützten Vertreter des Bonner Instituts für Geschichtliche Landeskunde die Ziele der NS-geführten deutschen Politik historisch-argumentativ ab. [4] Lucien Febvres "Rheinbuch" dagegen richtet sich gegen chauvinistische und rassistische Deutungen der Geschichte der Rheinlande nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich. Auf lange Sicht hat sich sein Modell als tragfähig erwiesen.


Anmerkungen:

[1] Febvre (1878-1956), einer der großen Historiker des 20. Jahrhunderts, lehrte an der Universität Straßburg, am Collège de France und an der von ihm mitbegründeten sechsten Abteilung der École Pratique des Hauts Études in Paris. Bei der Neuausgabe seines Textes verzichtete Febvre auf jenen Teil der Festschrift, für den der Koautor Febvres, der Geograf Albert Demangeon, verantwortlich zeichnete. Aus diesem Grunde fallen die wirtschaftshistorischen Passagen in Febvres Essay sehr knapp aus.

[2] Peter Schöttler ist Professor am Forschungszentrum CNRS in Paris.

[3] In Febvres 1953 vorgelegter Skizze "Überlegungen zur Wirtschaftsgeschichte des Rheins", die Schöttler im Anhang des Rheinbuchs veröffentlicht hat.

[4] Auch diese Auseinandersetzung dokumentiert der Herausgeber im Anhang des Buches: Der zentrale Vorwurf des Rezensenten Gottfried Pfeiffer lautete, dass Febvre "die eine große und entscheidende Tatsache, die der Zugehörigkeit der Rheinlande zum deutschen Volks- und Kulturboden, nicht eingestehen" wolle; Nachwort Peter Schöttlers, insb. 245-248, Zitat 246. Die bekannten Historiker Franz Petri und Paul Wentzcke hoben zwar hervor, dass Febvre "die früher übliche Charakteristik des Rheines als natürliche Grenze" aufgegeben habe, kritisierten jedoch, dass er stattdessen den Gedanken einer Mittlerrolle des Rheins zwischen West und Ost "als neues Schlagwort" eingeführt habe; ebd., 246 f.

Rezension über:

Lucien Febvre: Der Rhein und seine Geschichte. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Peter Schöttler (= Campus Bibliothek), 3., durchgesehene Aufl., Frankfurt/M.: Campus 2006, 265 S., 18 Abb., 3 Karten, ISBN 978-3-593-38002-5, EUR 19,90

Rezension von:
Norbert Franz
Universität Trier
Empfohlene Zitierweise:
Norbert Franz: Rezension von: Lucien Febvre: Der Rhein und seine Geschichte. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Peter Schöttler, 3., durchgesehene Aufl., Frankfurt/M.: Campus 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 5 [15.05.2007], URL: https://www.sehepunkte.de/2007/05/11179.html


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