Rezension über:

Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.): Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt. Das achtzehnte Jahrhundert - Supplementa (= Deutsche Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts; Bd. 11), Göttingen: Wallstein 2006, 408 S., ISBN 978-3-8353-0021-7, EUR 48,00
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Rezension von:
Antje Flüchter
Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Antje Flüchter: Rezension von: Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.): Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt. Das achtzehnte Jahrhundert - Supplementa, Göttingen: Wallstein 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 10 [15.10.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/10/11228.html


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Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.): Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt

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Die Aufklärung als die helle Seite der europäischen Vergangenheit und der Kolonialismus als ihr dunkles Gegenüber - zwischen diesen Polen oszilliert die populärwissenschaftliche Geschichtsbetrachtung des 18. Jahrhunderts, und den vielfältigen Zusammenhang dieser Phänomene behandelt dieser auf eine Tagung in Saarbrücken zurückgehende Sammelband. Die Kenntnisse über Außereuropa haben sich, so Lüsebrink in seiner Einleitung, im 18. Jahrhundert grundlegend gewandelt: Das Interesse an und damit auch das Wissen über Außereuropa sei gestiegen und habe neue Formen wissenschaftlicher Beobachtung generiert, gleichzeitig sei dieses Wissen Herrschaftswissen gewesen und als solches genutzt worden.

Den konzeptionellen Überlegungen des Herausgebers stellt Osterhammel in seinem Auftaktaufsatz ein provokatives Pendant gegenüber, indem er eine Weltgeschichte des 18. Jahrhunderts gerade mit dem Bezugspunkt 'Aufklärung' an sich problematisiert, da doch meist das europäische Phänomen darunter verstanden werde. Bei aller durchaus berechtigten Aufklärungskritik sei es verfälschend, die Bedeutung der Aufklärung für das europäische Verhältnis zu Außereuropa auf die Entstehung eines neuen, europäisch-arroganten Weltbildes und die Entstehung des modernen Rassismus zu beschränken. Die zwiespältige Nutzbarmachung von Wissen zwischen Aufklärung und Herrschaft beschäftigt viele der Beiträge.

Der erste Teil des Bandes versammelt elf Aufsätze, die die Organisation des Wissens über Außereuropa untersuchen. Eine wichtige Rolle nimmt die für das 18. Jahrhundert typische Form der Enzyklopädie ein. Diese seien, so C. Donato in ihrem Essay über den Transfer von Wissen über Spanien und die spanischen Kolonien, durch die Encyclopédie Diderots geradezu das "new rhetorical tool of empire" (111) geworden. Durch das päpstliche Verbot der Encyclopédie (1759) war Spanien lange von wichtigen Debatten isoliert, was Antonio de Sancha durch eine Übersetzung ins Spanische ca. 30 Jahre später revidieren wollte.

U. Fendler und S. Greilich arbeiten das Bild Afrikas in französischen und deutschen Enzyklopädien sowie die Interessensgebundenheit der Konstruktion dieses Wissens heraus. Die ambivalente Position etwa der französischen Aufklärung wird daran ersichtlich, dass d'Yverdon sehr viel deutlicher als die entsprechenden Artikel in der Encyclopédie gegen die Sklaverei Stellung bezog. C. P. Courtney betont die Bedeutung von Raynals Histoire philosophique des deux Indes - eines lange Zeit unterschätzten Werks - als wichtigen Beitrag zur intellektuellen Debatte. P. Stein beschäftigt sich mit der Schrift Christian Georg Andreas Oldendorps über die unter dänischer Herrschaft stehenden Jungferninseln und das dortige Wirken der Herrnhuter Brüdergemeinde und der Halleschen Pietisten.

Neben Enzyklopädien wurde Wissen in Reiseberichten vermittelt. H.-W. Blanke vergleicht die Behandlung Kanadas, Chinas und Japans in der Allgemeinen Historie der Reisen. Das Schreiben über Japan und Kanada wird in weiteren Beiträgen vertieft: T. Takashi stellt die herausragende Bedeutung des Japanberichts des Deutschen Engelbert Kaempfer dar, der in Deutschland erst verspätet, früher in England, Frankreich und den Niederlanden rezipiert, dann noch im 18. Jahrhundert auch ins Japanische übersetzt wurde. Eine arkane Form der Wissensverarbeitung und vor allem -verbreitung zeigt I. Probst am Beispiel der Berichte über die Hudson Bay. Die Erkenntnisse zirkulierten innerhalb der englischen Handelsgesellschaft, drangen aber kaum nach außen, sondern blieben vielmehr zum Zweck der eigenen Herrschaftsabsicherung geheim.

Das deutschsprachige Publikum konnte fast nur lesend an den Entdeckungen teilnehmen. Dieses Lesen konnte das Verlangen nach eigenen Erwerbungen stärken oder geradezu als hermeneutisches Privileg verstanden werden, das es erlaubt hätte, Alterität zu respektieren. Nach so verschiedenen Formen der literarischen Anteilnahme befragt H. Peitsch Texte von Herder und Georg Forster. Y.-G. Mix untersucht Herders "Neger-Idyllen" in ihrem Spannungsfeld zwischen gattungsbedingter Traditionsgebundenheit und zeitgenössischer Kolonialismuskritik. Kaum ein anderer deutscher Autor habe Kolonialisierung so drastisch aus der Blickrichtung der Betroffenen dargestellt. Besonders anregend erscheint der Beitrag von G. Loster-Schneider, die Polysemien und Ambivalenzen in Kleists Novelle "Die Verlobten auf St. Domingo" mit Homi Bhabhas Hybriditätsbegriff zu interpretieren: Ihr zufolge korrespondieren die historischen und modernen Hybriditätskonzepte nur begrenzt, ihr jeweiliges Erklärungspotential bedarf vergleichender Erforschung.

Nicht nur schriftlich diskursiv wurde das Wissen über Außereuropa organisiert und vermittelt. Am Beispiel der Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen in Halle zeigt A. Rieke-Müller, wie die Sachkultur und ihre Präsentation den Wandel der Weltkonzeptionen spiegeln. Der Götzenkasten mit Objekten aus der indischen Missionarstation Tranquebar verdeutlichte zunächst das besondere Bildverständnis des Halleschen Luthertums, während sich mit seiner Neuordnung im späten 18. Jahrhundert die neue Ordnung der Aufklärung niederschlug, nach der Natur und Kunst zunehmend getrennt und Außereuropa der Natur zugerechnet wurde.

Auch der zweite Teil betrachtet die literarische Weiterverarbeitung der Begegnung mit anderen Kulturen. B.-P. Lange behandelt William Jones als Protagonisten des frühen Orientalismus in Indien zu einem Zeitpunkt, als Anziehung von und Distanz zu einer fremden Kultur noch unentschieden nebeneinander standen. Gerade bei Jones wird die divergierende Bewertung vergleichbarer Phänomene in Indien und der englischen Heimat deutlich: Zu Hause war er ein Reformer, in Indien befürwortete er einen wohlwollenden Despotismus als der indischen Mentalität angemessen. Dieser Prozess des otherings zeigte sich auch in den antiquarischen Bemühungen, die alte indische Kultur zu restaurieren. Gerade darüber wurde der Orientalismus zu einem "Stützpfeiler imperialer Hegemonie" (282) A. Strugnel führt in Anlehnung an Edward Said am Beispiel früher englischer Historiker vor (v.a. Alexander Dow, Nathaniel Halhed), wie der früher als "unschuldig" geltende Orientalismus (287) als Ausgangspunkt europäischer Überlegenheitsgefühle gelten kann.

Die nächsten Beiträge widmen sich zwei Phänomenen, die immer wieder als Zivilisationsindikatoren herhalten mussten: Die Position der Frau und der Kannibalismus der Eingeborenen. Da in der Rezeption der Reiseberichte aus der Südsee die dortige sexuelle Freizügigkeit meist im Mittelpunkt stand, zählt Chr. Küchler Williams diese Berichte im weiteren Sinne zu der Sexualliteratur des 18. Jahrhunderts, als bürgerliches Pendant zu den erotischen Romanen für die Oberschicht. Diese "scheinbar natürliche Willigkeit der Frauen" (309) spiegelt auch die Verschiebungen in der Auffassung ihrer europäischen Geschlechtsgenossinnen wider: deren Entsexualisierung und scheinbar natürliche Frigidisierung. Wie sich die Rolle des Kannibalismus verändert, zeigt St. Arend: War der Kannibalismus gerade der frühen Reiseberichte ein Marker für die Grenze zwischen wild und zivilisiert, impliziert das Thema im Laufe der Frühen Neuzeit zunehmend übergeordnete Fragen nach dem Wesen des Menschen.

Im letzten Teil des Sammelbandes werden Sichtweisen der Anderen vorgestellt. M. Harbsmeier steuert einen Beitrag über den Besuch von Grönländern im frühen 18. Jahrhundert in Kopenhagen bei: Die pietistischen Missionare Hans und Paul Egede verschriftlichten einen Bericht über ihre Erfahrungen und verschafften damit den Stimmen der Grönländer in einer einzigartigen Weise Gehör.

W. Röben de Alencar Xavier stellt mit Tomás Antonio Gonzaga einen bikulturellen Europäer vor, aufgewachsen in Brasilien, ausgebildet in Portugal, tätig in Brasilien, der nicht zuletzt wegen seiner kritischen Cartas chilenas verbannt wurde. Mit seiner Position zwischen der Zustimmung zum aufgeklärten Absolutismus in Europa und der Kritik an den Missständen der Kolonialverwaltung stellte Gonzaga die Umsetzbarkeit europäischer Ideen in den Kolonien in Frage. Die Autorin arbeitet an diesem Beispiel die Dynamik und die Defizite "des Ideen- und Wissensaustauschs zwischen Brasilien und Europa im Zeitalter der Aufklärung" (377) heraus, Ergebnisse, die dazu einladen, sie bei anderen europäisch-außereuropäische Beziehungen zu testen.

Den Band beschließt J. Eslebens Beitrag über die Rekonstruktionsversuche indischer Sichtweisen in der deutschen Rezeption Kālidāsas Śakuntala, die sowohl einer wohlwollend-patriarchalischen Haltung entsprang, wie auch den Beginn einer Vermittlungsposition der deutschen Indologie darstellt, die nicht nur als "Komplizin des Imperialismus" (406) verstanden werden sollte.

An manchen Stellen leidet der anregende Band unter dem anscheinend vorhandenen Druck, den Unterschied des 18. Jahrhunderts zur vorangegangenen Zeit zu betonen. Manchmal hätte sich die Leserin gewünscht, dass das Mehr an Interesse oder die andere Form des Umgangs mit dem jeweiligen Wissen nicht nur postuliert, sondern auch erläutert wird. Anregend ist, wie manche Artikel die Ansätze der postcolonial studies aufnehmen und die Orientalismuskritik Edward Saids differenzieren sowie untermauern, dass Wissen und Wissensvermittlung sowohl der Vermittlung zwischen den Kulturen als auch der Herrschaftsstabilisierung dienen konnten und oft beide Funktionen zugleich erfüllten. Die Einordnung mancher Aufsätze unter den jeweiligen Kapiteltitel leuchtet nicht ein.

Doch das sind Probleme, vor dem viele Herausgeber von Sammelbänden stehen. Dies wird bei weitem dadurch ausgeglichen, dass die Beiträge ein beachtliches Kaleidoskop der vielen Möglichkeiten bieten, wie Wissen über Außereuropa im 18. Jahrhundert organisiert, präsentiert und instrumentalisiert wurde. Gerade dadurch wird nicht zuletzt deutlich, wie vielfältig und auch differenziert das Wissen der Aufklärung über China, Amerika oder die Südsee war, wie diese Weltregionen als distinkte Weltteile wahrgenommen wurden - anders als unser heutiger Begriff des einen Außereuropa.

Antje Flüchter