Rezension über:

György Németh: Kritias und die Dreißig Tyrannen. Untersuchungen zur Politik und Prosopographie der Führungselite in Athen 404/403 v. Chr. (= HABES. Heidelberger Althistorische Beiträge und Epigraphische Studien; Bd. 43), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, 203 S., ISBN 978-3-515-08866-4, EUR 39,00
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Claudia Tiersch
Institut für Geschichte, Technische Universität, Dresden
Redaktionelle Betreuung:
Mischa Meier
Empfohlene Zitierweise:
Claudia Tiersch: Rezension von: György Németh: Kritias und die Dreißig Tyrannen. Untersuchungen zur Politik und Prosopographie der Führungselite in Athen 404/403 v. Chr., Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 11 [15.11.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/11/10664.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

György Németh: Kritias und die Dreißig Tyrannen

Textgröße: A A A

In den Forschungen zur Tyrannis der Dreißig in Athen (404-403 v. Chr.) nehmen die prosopographischen Untersuchungen von György Németh einen wesentlichen Stellenwert ein. Dieses Buch bietet eine Zusammenfassung seiner Analysen. Als vorteilhaft erweist sich, dass so die Resultate einiger seiner nur auf Ungarisch publizierten Aufsätze nun auf Deutsch einem breiteren Leserkreis zugänglich sind. Bedauerlich ist allerdings, dass Németh seine äußerst ertragreichen Einzelforschungen nicht zu einer monographischen Synthese verdichtet hat, sondern sie weitgehend unverbunden nebeneinander stehen lässt. So bietet bereits das Vorwort lediglich eine knappe, auf eine Seite beschränkte Zusammenfassung seiner Thesen. Eine inhaltliche oder konzeptionelle Einleitung in die Thematik der Dreißig fehlt völlig.

Den Hauptteil bestimmen drei Kapitel mit systematischen Überlegungen zur personellen und sozialen Zusammensetzung der Elitebürgerschaft, wie sie die Terrorherrschaft des Kritias intendierte. Das erste Kapitel weist sogar noch darüber hinaus. Der Autor widmet sich hier weniger, wie angekündigt, der Struktur der Dreißig, sondern vielmehr Fragen wie: Warum entschied sich Kritias für eine Führungsgruppierung von dreißig Mann? Welche Machtdynamik herrschte innerhalb dieser Clique? Wie ist der scheinbar widersprüchliche Werdegang des Kritias zu erklären? Hier vermag der Autor überzeugend nachzuweisen, dass die Zahlen der Führungselite weniger Anklänge an die spartanische Gerusia bieten als vielmehr einen Rekurs auf genuin athenische Vorgänger, wie etwa die dreißig Syngrapheis von 411. Weiterhin zeigt Németh, dass von einer Einheit der Verschwörergruppe keine Rede sein kann. So gelang es Kritias nie, eine Position völliger Dominanz aufzubauen, da er eher Theoretiker als Realpolitiker war. Zudem richtete sich die zerstörerische Logik des Putsches auch gegen einzelne Mitglieder der Führungsschicht, die als unzuverlässig galten. Deren Entmachtung und Ermordung ist ein weiteres Indiz für mangelnde Kohärenz. Gewiss hat bereits Xenophon durch seine Schilderung des Konflikts um Theramenes die brutalen Auseinandersetzung innerhalb der Spitze der Dreißig exemplarisch deutlich gemacht. Dennoch lenkt Németh den Blick zu Recht darauf, dass die Tyrannis der Dreißig sich keineswegs nur gegen die Bürger Athens richtete, sondern auch eine erhebliche zerstörerische Eigendynamik entwickelte. Besonders interessant ist seine Analyse der zuweilen widersprüchlich erscheinenden politischen Entwicklung des Kritias. Immerhin stellt sich die Frage, warum der gleiche Mann, der 404 einen brutalen oligarchischen Putsch lancierte, 411 mit den Radikaldemokraten bei der prozessualen Abrechnung mit Phrynichos, dem verhassten Mitglied der 400, kooperierte, und er zuerst für die Rückberufung des Alkibiades aus der Verbannung eintrat, ihn dann aber 404 hinrichten ließ. Der Autor zeigt hier die innere Logik eines Aristokraten, der immer schon eine mentale Distanz zur Demokratie aufwies, sich gleichwohl mit ihr eine Zeitlang arrangierte. Bot ihm die Unterstützung des Alkibiades dann die Hoffnung auf Etablierung einer Alternative zur Demokratie, vernichtete er ihn, als Alkibiades die politische Funktionalisierung verweigerte und seine Popularität gefährlich für den Putsch des Kritias zu werden drohte.

Das zweite Kapitel befasst sich mit den Hopliten in Athen. Es berührt damit, wie allerdings durch die mangelnde Stringenz der Argumentation erst nach längerer Lektüre erkennbar wird, die Struktur der dreitausend Aktivbürger, die Kritias als Fundierung seines elitären Staatsgebildes ansah. Für die Frage, ob es sich hierbei wirklich um eine Holitenpoliteia habe handeln können, versucht Németh anhand der damaligen Preise einer Panoplie zu ermitteln, wie viele Männer sich eine Rüstung für 70-80 Drachmen hätten leisten können, um somit unter den Holiten zu rangieren. Allerdings stellt der Autor zutreffend fest, dass die tatsächliche Zahl der Hopliten 404 v. Chr. nicht ermittelbar ist, zumal im 5. Jahrhundert sehr wahrscheinlich keine zentrale Hoplitenliste existierte und derartige Katalogoi oft nach eher politischen Prämissen aufgestellt wurden. Auch die Dreißig stellten ja die angekündigte Hoplitenliste nie endgültig fertig und nutzten Veränderungen der geheimgehaltenen Liste gezielt als Druckmittel. Angesichts dieser zutreffenden Erkenntnisse überraschen die weiteren numerischen Spekulationen des Autors zur Breite der Phalanx in der Schlacht von Munychia und zur Größe der Armee der Dreißig Tyrannen, da sie nicht nur aus Mangel an Datenbasis spekulativ bleiben müssen, sondern auch in ihrer Sinnhaftigkeit für den Argumentationsgang nicht erkennbar werden. Wesentlich überzeugender erscheint deshalb, dass Németh die Gründe für die Anzahl der 3000 Aktivbürger letztendlich sowohl im funktionalen wie im symbolischen Bereich sieht. So sollte die gewählte Zahl kleiner als die Hoplitenpoliteia der 5000 von 411 sein, aber gleichzeitig eine hinreichende Massenbasis gewährleisten. Zudem entsprach diese Zahl, wie das spätere Phormisiosdekret zeigt, möglicherweise nicht nur der Zahl der landbesitzenden Hopliten in Attika, sie markierte zugleich auch ein Vielfaches der 30 Tyrannen sowie der 300 Ritter, welche den Tyrannen als Leibgarde dienten. Hier werden Anklänge an die numerischen Konstrukte sophistischer Staatsmodelle erkennbar.

Ähnliche Überlegungen zur Verzahnung von sozialer Schichtung und politischer Rolle entwickelt der Autor im 3. Kapitel für die Ritter in Athen. So geht der Verfasser zuerst den quantitativen Veränderungen der Ritterschaft von der Archaik bis zum Ende des Peloponnesischen Krieges nach, um anschließend deren Aktivitäten und politisches Engagement stärker zu präzisieren. Er verweist darauf, dass die Ritter in der Zeit des Peloponnesischen Krieges mit der Demokratie keineswegs einverstanden waren, aristokratische und spartanische Traditionen pflegten und nachweislich sowohl den oligarchischen Putsch von 411 als auch den von 404 v. Chr. unterstützten. Dennoch unterstützten keineswegs alle von ihnen die oligarchischen Regimes. Es waren offenbar vor allem junge Reiter (300 Hippeis), welche die Eliteklasse in der Zeit der Dreißig Tyrannen bildeten und deshalb durch die wiederbegründete Demokratie mit Misstrauen verfolgt wurden. Interessant ist Némeths Verweis darauf, dass die Ritter während der Zeit der Zehn eine provisorische Sonderregierung bildeten, die noch radikaler war als die Oligarchie der Dreißig. Gleichwohl wurden sie anschließend günstiger beurteilt als die Dreißig, weil ihnen letztendlich der Ausgleich mit Sparta und den siegreichen Demokraten gelang.

Den zweiten Teil des Buches bestimmen prosopographische Untersuchungen zu Tätern und Opfern der Oligarchie der Dreißig. So vergleicht der Autor im vierten Kapitel die Namen der Tyrannen mit denen von Amtsträgern, Beteiligten des Putsches der Vierhundert von 411 sowie der liturgischen Schicht, um hierdurch zu klären, welche Mitglieder bzw. Anhänger der Dreißig der politischen und finanziellen Führungsschicht Athens angehörten. Hierbei vermag Németh nachzuweisen, dass sich die Tyrannen keineswegs gleichmäßig auf die zehn Phylen verteilten, wie in der älteren Forschung angenommen. Prosopographisch bestimmt werden von ihm die Mitglieder der Dreißig, der Elf, der Zehn und der Dreitausend, weitere Magistrate, Denunzianten, sonstige Mitglieder der Dreitausend, Personen, die Zusammenarbeit verweigerten. Nur partiell zu überzeugen vermag allerdings seine These, wonach nur ca. ein Drittel der dreißig Oligarchen auch bei der Verschwörung der Vierhundert mitgewirkt habe und der liturgischen Schicht angehörte. Zumindest der zweite Teil seiner Annahme ist insofern problematisch, als er sich auf die Ausübung eines Amtes stützt, das ein Mindestvermögen voraussetzte. Hiergegen ist einzuwenden, dass es, ebenso wie zuvor durch ihn für die Ritter geschildert, möglicherweise Angehörige der liturgiepflichtigen Schicht gab, die kein Amt ausüben wollten, bzw. über die wir vor 404 einfach nichts wissen.

Weitere prosopographische Untersuchungen bietet Németh im fünften Kapitel zu den Opfern, wobei ihn vor allem die Frage interessiert, welche Personengruppen (Metöken, Ausländer, Einwohner von Eleusis, Aixone und Salamis, athenische Bürger, Sykophanten oder demokratische Funktionäre wie Strategen und Taxiarchen) vorzugsweise durch die Dreißig und ihre Schergen verfolgt wurden. Seine Erkenntnis, dass die Opfer der Dreißig oftmals erheblichen Reichtum aufzuweisen hatten und deshalb meist materielle Gründe für deren Verfolgung ausschlaggebend waren, überrascht zwar grundsätzlich nicht. Dennoch vermögen seine detaillierten Untersuchungen Beweise dafür zu erbringen, dass es sich hierbei oftmals um einen Vernichtungsfeldzug innerhalb der athenischen Oberschicht handelte, also auch in diesem Bereich die von Kritias apostrophierte "Herrschaft der Besten" eine reine Farce war.

Abschließend untersucht der Autor anhand von Poletendekreten die Informationen zum Immobilienvermögen der Dreißig und ihrer Anhänger. Er zeigt, dass viele Tyrannen nur mittelmäßige Grundstücke besaßen. Möglicherweise ist hier eine Ursache für die zügellose Geldgier der Putschisten zu suchen, die sich in einer enormen Verfolgungsintensität reicher Mitbürger Bahn brach und in kurzer Zeit zu erschreckend hohen Opferzahlen führte. Insgesamt bieten die Ausführungen Némeths, bedingt durch die fehlende stilistische Zusammenführung der Aufsätze zu monographischer Form, ein eher sperriges Lesevergnügen, und die Argumentation ist oft nicht stringent geführt. Dennoch trägt dieses Buch, das durch ein Orts- und ein Personenregister abgerundet wird, erheblich zur Kenntnis jener furchtbaren Episode der athenischen Geschichte und gerade auch zur Dekonstruktion ihrer Mythen und Ideologeme bei.

Claudia Tiersch