sehepunkte 7 (2007), Nr. 11

Wolfgang Hardtwig (Hg.): Ordnungen in der Krise

Die Jahrhundertwende ist in. Lange Zeit dominierte Hobsbawms zweifellos Erkenntnis förderndes Konzept eines "langen 19. Jahrhunderts" relativ unangefochten. Ihm folgte auch jüngst noch Christopher A. Bayly in seiner viel gelobten Meistererzählung "The Birth of the Modern World". Bereits seit einigen Jahren mehren sich jedoch die Stimmen, die für neue Periodisierungskonzepte und damit auch für eine Verschiebung in der historischen Interpretation plädieren. [1] So votiert nun auch Wolfgang Hardtwig für eine Zäsur um die Jahrhundertwende und eine Periodisierung mit einem "kurzen 19. Jahrhundert" (11). Dies ist in die Konzeption eines voluminösen Sammelbandes eingegangen, der das Ergebnis einer 2004 an der Humboldt-Universität Berlin abgehaltenen Konferenz des Forschungsvorhabens "Politische Kulturgeschichte Deutschlands 1900-1933" ist.

Die Moderne wird darin in sechs Sektionen unter dem doppelten Fokus der Krise und der Versuche, diese zu ordnen, analysiert. Am Anfang stehen dabei die "Menschen und ihr Raum: Grenzraum, Naturraum, kolonialer Raum". Im ersten Beitrag analysiert Vanessa Conze die Weimarer Außenpolitik im Zeichen eines ihr zufolge die politische Kultur der Zwischenkriegszeit dominierenden Grenz-Diskurses und macht ein von ihr als regelrecht pathologisch beschriebenes "Grenz-Syndrom" (23) eine "Grenzmanie" (27) aus. Durch die Analyse von deren diskursiver Verfasstheit gelingt es ihr, eine neue Perspektive auf die deutsche Außenpolitik nach 1918 zu eröffnen. In den beiden folgenden Aufsätzen gehen Thomas Rohkrämer und Willi Oberkrome dem Natur- und Heimatschutz zwischen 1900 und 1950 nach. Beide argumentieren entgegen der gängigen Meinung, dass es keine Kontinuität von Natur- und Heimatschutz zum "Blut und Boden"-Kult des Nationalsozialismus gegeben habe und dass es nach 1933 zu keiner Stärkung heimatideologischer Vorstellungen gekommen sei.

Der zweite Abschnitt ist mit "Zeiterfahrungen und Zeitkonzepte" überschrieben. In ihm widersprechen Rüdiger Graf und Peter Fritzsche in ihren jeweiligen Beiträgen der konventionellen Überzeugung, in der Weimarer Republik habe eine pessimistische Grundstimmung dominiert. Graf zufolge erschien zwar die unmittelbare Gegenwart als verdüstert, für den Blick auf die Zukunft sei aber ein übergreifender "Gestaltungsoptimismus" (139) bezeichnend gewesen. Den weiteren Rahmen des Zeitempfindens in der Zwischenkriegszeit steckt Martin Geyer ausgehend von Kosellecks Überlegungen über "Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" ab. Geyer interpretiert die soziale und ideologische Disparität und Fragmentierung der Republik hinsichtlich des Umgangs mit Zeit: Bereits seit dem Krieg seien vermehrt Ungleichzeitigkeitsdiagnosen zu beobachten, die auf einer gesteigerten Sensibilität für die "Eigenzeiten" (179) von Individuen, Gruppen und sozialen Organisationen beruhten.

Noch stärker als die Zeiterfahrung wurden die Vorstellungen von Körperlichkeit durch den Krieg erschüttert. Sie sind Gegenstand des dritten Abschnitts, dessen Auftakt Ute Planert mit einem konzisen Überblick über "Kulturkritik und Geschlechterverhältnisse" macht. Anknüpfend an ihre Dissertation über "Antifeminismus im Kaiserreich" zeigt Planert wie bereits seit 1900 in den "Chiffren von Weiblichkeit und Männlichkeit" (193) eine Auseinandersetzung über die Moderne geführt wurde. Der Weltkrieg habe dann - anders als von konservativer Seite erwartet - keine "Epoche neuer Männlichkeit" eröffnet, sondern vielmehr als "Katalysator weiblicher Politisierung" (202f.) fungiert. Sei im Kaiserreich noch die Vorstellung von der Frau als Retterin vor der Moderne weit verbreitet gewesen, so habe die Moderne nach 1918 als weibliches Syndrom gegolten - in den Karikaturen des rechten Lagers war die Republik eine Frau. Stützt sich Planert vornehmlich auf kulturkritische Schriften, so wählt Martina Kessel in ihrem Beitrag über "Deutschen Humor" in den Weltkriegen eine andere Quellengattung: Anhand von massenkulturellen Zeugnissen wie Witzsammlungen fragt sie, welche Angebote die "Humorproduzenten" (230) den deutschen Soldaten und Zivilisten machten, ihr Vorgehen im Krieg einzuordnen und zu erzählen. Kessel stellt die These auf, dass der "Deutsche Humor" - im Gegensatz zur kritischen Satire auf Harmonieerzeugung angelegt - in den beiden Kriegen grundsätzlich andere Funktionen erfüllt habe: Im Ersten Weltkrieg sei es darum gegangen, die ausgeübte Gewalt in herkömmliche Vorstellungen von soldatischer Männlichkeit zu integrieren, im Zweiten jedoch darum, Gewalt zu verschweigen und insbesondere den Holocaust aus dem Krieg herauszuschreiben. Kessel beschränkt sich in ihrer Analyse auf die Angebote der "Humorproduzenten". Aussagen über deren Rezeption sind auf der Grundlage ihrer Quellenauswahl nicht möglich, wie sie selbst einräumt: "Ob Soldaten darüber lachten oder die Deutungen übernahmen, ist schwer herauszufinden." (245) Damit bleibt aber letztlich offen, inwieweit die von Kessel überzeugend nachgewiesenen Strategien erfolgreich waren und die in ihnen eingeschlossenen Narrative von ihren Adressaten angenommen wurden.

Thema der vierten Sektion ist der Dualismus von "Massengesellschaft und Individualität". Peter Leo stellt die These auf, dass sich seit dem Ersten Weltkrieg im intellektuellen und künstlerischen Diskurs Deutschlands das Sprechen über Individuum und Masse fundamental verändert habe. Erschienen beide Pole in den kulturkritischen Schriften der Jahrhundertwende als Antagonismus, sei dieser nach 1918 zunehmend irrelevant geworden. Die Betrachterposition der Vogelperspektive sei durch eine Binnenperspektive in der Masse ersetzt worden. Dennoch sei es aber keineswegs zu einer Auflösung von Individualität gekommen, wie Moritz Föllmer im folgenden Beitrag argumentiert. Ihm gelingt es anhand von Berliner Boulevardzeitungen zu zeigen, dass die Weimarer Gesellschaft keineswegs - wie oftmals behauptet - nur von kollektiver Mobilisierung geprägt war. Von einer Krise des Individuums kann seiner Meinung nach keine Rede sein. Dieses sei nicht durch kollektivistische Leitbilder ersetzt worden, sondern erscheine in den Quellen als "selbstverständlicher Ausgangspunkt und Beurteilungsmaßstab" (309).

"Gewalterfahrungen und Gewaltstrategien", jene Begleiterscheinungen jeder fundamentalen Krise, stehen im Mittelpunkt der fünften Sektion, die Martin Baumeister mit einem Beitrag über " Theatralische Kriegsdarstellungen in der Weimarer Republik" einleitet. Argumentierte er in seiner Habilitationsschrift über das "Kriegstheater", dass sich über die Geschichte des Theaters Verständnis und Einsichten in die grundlegenden Fragen des Ersten Weltkrieges gewinnen lassen, zeigt er hier, dass dasselbe auch für die Verarbeitung des Krieges und die Konflikte der Zwischenkriegszeit gilt. Sven Reichart wägt demgegenüber in einem eher theoretischen Beitrag die Vor- und Nachteile von totalitarismus- und faschismustheoretischen Konzepten gegeneinander ab. Für ihn sind beide Begriffe eher als "Komplementär- denn als sich gegenseitig ausschließende Konkurrenzbegriffe" (402) zu denken.

Keineswegs überraschend für eine politische Kulturgeschichte nach dem "iconic turn" schließt der Band mit einem Abschnitt über "Die Krise der Ordnungen und das Bild". Er enthält Beiträge über Aby Warburg (Jost Philipp Klenner), Wilhelm Uhde (Bernd Roeck) und das Verhältnis von Hochkultur, Avantgarde und Massenkultur am Beispiel der Werbung (Alexander Schug). Im letzten Beitrag des Bandes beschäftigt sich Thomas Mergel - ausgehend von dem berühmten, damals als skandalös empfundenen "Badehosenbild" von Friedrich Ebert - mit der "Visuellen Politik in der Weimarer Republik". Mergel argumentiert, dass diese sich - in bewusster Absetzung von der neuen visuellen Kultur - strikt gegen Personalisierungs- ebenso wie Visualisierungsversuche durch Fotografie, moderne Plakatkunst usw. verwehrte. Die Politik habe sich der Herausforderung einer Bildergesellschaft nicht gestellt, die politische Kultur der Weimarer Republik sei eine "weitgehend bilderlose, dafür symbolhaftige und textlastige" (557) gewesen. Leider greift Mergel die bisweilen geäußerte These von einer - durchaus auch visuell verstandenen - "Theatralisierung der Politik" [2] in der Weimarer Zeit nicht auf.

Der Band, der sich auf einem durchweg hohen argumentativen Niveau bewegt, bietet insgesamt anregende, zum Teil neue Blicke auf die ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Krise und Ordnungsversuche werden nicht auf simplifizierende Erklärungen heruntergebrochen, sondern bleiben mannigfaltig, oft widersprüchlich. Die Moderne behält ihre charakteristische Janusköpfigkeit. Kritisch ist anzumerken, dass Hardtwigs Vorgabe einer neuen Periodisierung von den einzelnen Aufsätzen nur unzureichend eingelöst wird.

Schon weil zwei Drittel der Beiträge sich schwerpunktmäßig mit der Weimarer Republik beschäftigen, gelingt es dem Band letztlich nicht, die Zeit zwischen der Jahrhundertwende und dem Jahr 1933 als eigenständige Epoche einer politischen Kulturgeschichtsschreibung zu etablieren. Ein solches Forschungsprogramm wird hier mehr projektiert als eingelöst. Ob Hobsbawms Konzept eines "langen 19. Jahrhunderts" doch immer noch mehr Überzeugungskraft hat, ob der Erste Weltkrieg eine unüberwindbare Zäsur und die Weimarer Republik ein zu eigenständiges Kapitel der deutschen Geschichte darstellen oder ob es einfach noch stärkerer Bemühungen um neue Interpretationsansätze bedarf, bleibt offen. "Ordnungen in der Krise" wird weitere Diskussionen darüber jedoch zweifellos befruchten.


Anmerkungen:

[1] So etwa kürzlich Werner Faulstich (Hg.): Das Erste Jahrzehnt, Paderborn 2006; zur Diskussion vgl. Paul Nolte: Abschied vom 19. Jahrhundert. Auf der Suche nach einer anderen Moderne, in: Wege der Gesellschaftsgeschichte, hrsg. von Jürgen Osterhammel / Dieter Langewiesche / Ders., Göttingen 2006, 103-132.

[2] Jost Hermand / Frank Trommler: Die Kultur der Weimarer Republik, München 1978, 200f. Vgl. auch David Blackbourn: Politics as Theatre. Metaphors of the Stage in German History, 1848-1933, in: ders.: Populists and Patricians. Essays in Modern German History, London u. a. 1987, 246-264.

Rezension über:

Wolfgang Hardtwig (Hg.): Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900-1933 (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit; Bd. 22), München: Oldenbourg 2007, 566 S., ISBN 978-3-486-58177-5, EUR 79,80

Rezension von:
Tobias Becker
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Tobias Becker: Rezension von: Wolfgang Hardtwig (Hg.): Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900-1933, München: Oldenbourg 2007, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 11 [15.11.2007], URL: https://www.sehepunkte.de/2007/11/12454.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.