sehepunkte 8 (2008), Nr. 7/8

Heinz Stübig: Nationalerziehung

Zweifelsohne zählen in Deutschland die Diskurse um die 'Erweckung' und Einigung der Nation zu den wirkmächtigsten des 'langen' 19. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt stand die Klärung der nationalen Identität als Voraussetzung einer politischen Einheit sowie die Frage nach den Möglichkeiten bürgerlicher Partizipation. Neben den politischen Debatten hat es auch zahlreiche pädagogische Diskussionen um die "deutsche Frage" gegeben, die um die Ziele einer nationalen Bildung kreisten. Nationalerziehungskonzepte haben allerdings in der deutschen Geschichtswissenschaft bislang wenig Beachtung gefunden, was angesichts einer breit aufgestellten und ausdifferenzierten historischen Nations- und Nationalismusforschung verwundert. Dieses Desiderat greift der Erziehungshistoriker Heinz Stübig mit dem ambitionierten Ziel auf, die Entwicklung des Nationalerziehungsgedankens im 19. Jahrhundert am Beispiel "hervorgehobener Vertreter" (16) zu erörtern.

Anhand von elf ausgewählten Exponenten, die in den pädagogisch-politischen Debatten ihrer Zeit nachhaltige Spuren hinterlassen haben, werden in eben so vielen Kapiteln die verschiedenen Konzepte und Realisierungsversuche einer nationalen Erziehung expliziert. Zeitlich setzt die Studie im ausgehenden 18. Jahrhundert an, als in Deutschland die Frage nach der Nation und den Merkmalen ihrer Bestimmung zunehmend zum Gegenstand öffentlicher Debatten wurde. Stellvertretend für die frühen Nationalerziehungspläne sind das Konzept zur Landschulreform des Pädagogen Friedrich Eberhard von Rochow angeführt sowie die Vorstellungen des Heeresreformers Hermann von Boyen zur Rolle der preußischen Armee im Nationalisierungsprozess. In diesen Entwürfen spiegelt sich das utilitaristische Denken des Philanthropismus wider, das durchgängig von dem "Spannungsverhältnis von allgemeiner Menschenbildung und Bildung zum Bürger" bestimmt war (81).

Die Nationalerziehungsdebatten, die während der napoleonischen Besatzung und in der Folgezeit geführt wurden, unterschieden sich grundlegend von den Überlegungen des späten 18. Jahrhunderts. Sie zielten auf eine Überwindung der französischen Fremdherrschaft und forderten einen deutschen Nationalstaat mit politischen Mitspracherechten. Wortführend waren nicht selten Teilnehmer der 'Befreiungskriege' und Angehörige der burschenschaftlich organisierten, akademischen Jugend, die sich von den Ideen Johann Gottlieb Fichtes und Ernst Moritz Arndts angezogen fühlten. Als 'Zeitzeugen' stellt Stübig u.a. den Pädagogen Wilhelm Harnisch vor. Er entwickelte seine Nationalerziehungsvorstellungen aus einer politischen Pestalozzi-Rezeption heraus und entwarf Unterrichtspläne für die Volksschule, die von der nationalpädagogisch orientierten Turnbewegung inspiriert waren.

Generell entsprangen die Nationalerziehungskonzepte im 19. Jahrhundert bis zur Reichsgründung der bürgerlichen Einheits- und Freiheitsbewegung, der gemeinhin ein patriotisch gesinntes, "föderatives Nationalbewusstsein" zugeschrieben wird (222). Dass die Erzeugung eines kollektiven Bewusstseins im Zentrum nationalerzieherischer Bestrebungen stand, zeigt Stübig am Werk des Lehrers und Schulpolitikers Adolph Diesterweg auf. Seine Charakterisierung der Nation als Sprach- und Abstammungsgemeinschaft, die auf ein gemeinsames historisches Erbe zurückblicken kann, steht paradigmatisch für essentialistische Nationsvorstellungen, die bis in die Gegenwart hineinreichen. Schulische Bildungs- und Erziehungsanstrengungen haben in Diesterwegs Konzept die Funktion, Vaterlandsliebe zu erwecken und nationale Identität zu stiften.

Mit der Bestimmung gemeinsamer, kultureller Merkmale ist allerdings erst eine Seite der Medaille nationalistischer, mithin nationalpädagogischer Bestrebungen beleuchtet. Mit der positiven Bewertung des eigenen Kollektivs ging eine bis zur Xenophobie gesteigerte Abgrenzung gegenüber anderen Nationen einher, insbesondere gegenüber Frankreich. Dieser Ethnozentrismus, so eine Zwischenbilanz Stübigs, "bestimmte nicht nur die Konstituierungsphase des deutschen Nationalbewusstseins während der Französischen Revolution und der napoleonischen Ära, sondern beeinflusste auch nach dieser Zeit weiterhin den politischen und pädagogischen Diskurs" (217). Dafür gibt es nicht nur bei Diesterweg aufschlussreiche Belege.

Mit der Reichsgründung von 1871 und der dadurch erreichten nationalstaatlichen Einheit Deutschlands wurden nationalerzieherische Bestrebungen keineswegs hinfällig; allerdings änderte sich die Stoßrichtung beträchtlich. Im Rahmen der Ausgestaltung und Festigung der 'inneren' Einheit wurde die Frage virulent, wer der 'Volksgemeinschaft' als zugehörig eingestuft werden könne und welche Bevölkerungsteile auszugrenzen bzw. in ihren Rechten einzuschränken seien - vorrangig Juden, Katholiken und Sozialisten. Zu denjenigen, die diese Debatte nachhaltig bestimmten, zählt der Kulturphilosoph Paul Anton de Lagarde - von seinen Zeitgenossen als "deutscher Prophet" verehrt (246). Lagarde, ein aggressiver Antisemit und Propagandist einer expansionistischen Ostkolonisation, entwickelte in seinen Schriften den abstrusen Entwurf einer 'germanischen Religion' als geeignetes Mittel nationaler Selbstfindung und Erneuerung.

Im Untertanenstaat des Kaiserreichs erfolgte verstärkt der nationalerzieherische Zugriff auf die heranwachsende Jugend. Bei der Schulkonferenz zur "Verhandlung über Fragen des höheren Unterrichts" im Dezember 1890 hatte Wilhelm II persönlich in seiner Einleitungsansprache die Notwendigkeit einer Nationalerziehung deutlich herausgestellt (274). Der Befund, dass sich auch liberale Reformpädagogen wie Ludwig Gurlitt an den Debatten um eine deutsch-vaterländische Erziehung und Bildung beteiligten, verweist auf die Ambivalenz wilhelminischer Mentalitäten zwischen Beharrung und Modernität, Rückständigkeit und Fortschritt.

Heinz Stübigs Untersuchung bietet einen fundierten und facettenreichen Einblick in die verschiedenen Spielarten des Nationalerziehungsgedankens und den Ansätzen ihrer Realisierung während des 'langen' 19. Jahrhunderts. Der ideengeschichtlich-kanonische Zugriff auf das Thema birgt allerdings das vom Autor angedeutete Manko, dass die Auswahl bestimmter Positionen "stets die Ausblendung der übrigen Vorstellungen" bewirkt (22). Diesem Problem begegnet Stübig zwar mit Skizzen zu den sozialgeschichtlichen Kontexten und Verweisen zu anderen Akteuren der Nationalerziehungsdebatte. Allerdings darf die Repräsentativität einzelner Protagonisten für ihre zeittypischen Diskurse durchaus in Frage gestellt werden. Für das Kaiserreich hätten die Schriften Georg Kerschensteiners zur staatsbürgerlichen Erziehung und sein Modell der Arbeitsschule eine gewinnbringendere Perspektive geboten als die Expertise des Engländers Michael Ernest Sadlers zum preußischen Bildungswesen. Auch rechtfertigt die Feststellung, dass es sich bei der Nationalerziehungsdebatte um einen "eindeutig männlich bestimmten Diskurs" (22) gehandelt habe, keineswegs die Ausblendung von Erziehungsentwürfen zur Nationalisierung von Frauen, wie sie etwa von der Pädagogin Betty Gleim formuliert worden sind [1]. So regt die lesenswerte Studie vor allem weiteres und eigenes Quellenstudium an.


Anmerkung:

[1] Gleim, Betty: Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts. Leipzig 1810.

Rezension über:

Heinz Stübig: Nationalerziehung. Pädagogische Antworten auf die "deutsche Frage" im 19. Jahrhundert, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2006, 350 S., ISBN 978-3-89974-230-5, EUR 28,00

Rezension von:
Wolfgang Gippert
Institut für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften, Universität zu Köln
Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang Gippert: Rezension von: Heinz Stübig: Nationalerziehung. Pädagogische Antworten auf die "deutsche Frage" im 19. Jahrhundert, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2006, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 7/8 [15.07.2008], URL: https://www.sehepunkte.de/2008/07/11315.html


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