sehepunkte 8 (2008), Nr. 12

Jörg Erdmann: "Quod est in actis, non est in mundo"

An der seit dem 15. Jahrhundert erst in polemischer Absicht, dann zunehmend aus historischem Interesse gestellten Frage, wie groß der Einfluss des Papsttums auf das kirchliche und gesellschaftliche Leben im spätmittelalterlichen Deutschland gewesen ist, haben sich in der deutschen Mediävistik seit jeher die Geister geschieden. Dieser Diskussion können die gewaltigen Aktenberge, die eine emsige kuriale Verwaltung seit dem Hochmittelalter aufgetürmt hatte, eine feste (Quellen-)Basis geben. Die päpstlichen Briefregister sind gerade in ihren deutschen Betreffen mittlerweile editorisch so weitgehend erschlossen, dass wir tatsächlich die "für das Mittelalter nahezu einmalige Chance haben, einen großen Teilbereich des damaligen gesellschaftlichen Lebens auch mit Hilfe statistischer Methoden zu beschreiben" (Erdmann, 278). Und so stellt sich Jörg Erdmann in seiner 2004 in Mainz angenommenen Dissertation - nicht als Erster, aber doch mit einer bisher seltenen Konsequenz - die Frage, wie es denn nun bestellt war um den päpstlichen Einfluss auf die kirchlichen Belange im Reich, konkret: auf die Besetzung der Prälaturen sowie der Domkanonikate. Untersuchungszeitraum ist eine etwas weiter gefasste avignonesische Epoche (1294-1378), mithin die Zeit, in der nach landläufiger Auffassung der "kuriale Pfründenschacher" seinen ersten und eigentlichen Höhepunkt erreichte.

"Quod est in actis, non est in mundo" - es scheint so, als wollte Erdmann die Quellengrundlage seiner eigenen Untersuchung mit dem Titel des Buches sogleich in Frage stellen. Ein Quäntchen Ironie kann ja zuweilen nicht schaden - pikanterweise arbeitet Erdmann selbst in der Universitätsverwaltung -, tatsächlich aber passt dieses Motto zu den Prämissen und dem Ergebnis seiner Studie nur schlecht. Wenn der Titel suggeriert, dass die vatikanischen Quellen dem Historiker eine Scheinwelt vorgaukeln, die mit der Realität des mittelalterlichen Pfründenwesens nichts zu tun hat, so zeichnet die Arbeit selbst ein ganz anderes Bild. Man vermeint hier als Folge seiner Recherche eine echte "Konversion" des Autors zu spüren: Mag er die Erfolgsträchtigkeit päpstlicher Rechtstitel auf Pfründen zunächst recht skeptisch beurteilt haben - "non est in mundo" - so zeigt seine Untersuchung gerade, dass die vom Papst ausgestellten Gratialbriefe eben doch alles andere als Makulatur waren. Auf diese Weise vermittelt Erdmanns Studie zwischen Positionen, die sich in der deutschen Mediävistik oft recht konträr gegenübergestanden haben - und schon das ist in der Tat ein sehr wertvolles Ergebnis.

Erdmanns Verfahren, um den Einfluss der Kurie auf die kirchliche Personalpolitik im Reich zu bestimmen, besteht im Abgleich der überlieferten päpstlichen Eingriffsversuche mit der Zahl der insgesamt nachweisbaren Stellenbesetzungen. Natürlich weist dieser Weg Risiken hinsichtlich der statistischen Repräsentativität der Quellen auf, aber es gibt gute Gründe, ihn für gangbar zu halten (23-29 u.ö.). Es ist dies ein einfaches Konzept, das seine Grenzen allein in der Forschungsökonomie findet - weniger hinsichtlich der Papstregister als einer seriellen Quelle par excellence als vielmehr hinsichtlich der bisher noch keineswegs erschöpfenden Erfassung der Heimatüberlieferung. Und Erdmann führt es mit einer solchen methodischen Bedachtsamkeit und (soweit erkennbar) Akribie durch, dass die so gewonnenen Ergebnisse unser vollstes Vertrauen verdienen. Als interessante Neuerung ist es zu bewerten, dass der Autor die prosopografische Datenbasis seiner Analyse zwar nicht im Druck, aber via Internet dem Leser zugänglich macht, nämlich über die Homepage des DHI in Rom. [1]

Relativ viel Raum reserviert Erdmann für die Erörterung der rechtlichen Rahmenbedingungen des päpstlichen Benefizialwesens (Kapitel I sowie 147-178). Er fügt damit dem Forschungsstand nichts Neues hinzu, doch ist es zweifellos notwendig, den Leser auf diesem Feld zu orientieren, zumal die einschlägigen Studien (etwa von Andreas Meyer, Tobias Ulbrich oder jüngst von Brigitte Hotz) doch zuweilen allzu sehr die Anmutung einer "Geheimwissenschaft" haben, was Erdmann - um den Preis einiger Vereinfachungen - erfolgreich vermeidet.

Im umfangreichen Kapitel II widmet sich Erdmann der Besetzung der Bistümer und der Benediktinerabteien im Reich. Als gering erweist sich, wenig überraschend, der päpstliche Einfluss auf die Abtseinsetzungen (wie steht es eigentlich um Kommendierungen?). Sehr viel massiver stellt sich für Erdmann hingegen der päpstliche Einfluss auf die Bischofserhebungen dar. Bei der Betrachtung von insgesamt 389 Besetzungsfällen ordnet Erdmann 232 (ca. 60 Prozent) der ordentlichen, 162 (ca. 40 Prozent) hingegen der außerordentlichen Kollatur zu (73f.). Das heißt, dass zwar die Mehrheit der Fälle "vor Ort", also durch die Wahlgremien der Domkapitel entschieden wurde, die Päpste aber immerhin in einer starken Minderheit der Fälle den Ausschlag gaben und zudem dort, wo sie eingriffen, zumeist (zu ca. 90 Prozent) auch erfolgreich waren. Mehr als die Hälfte der "ordentlich" gewählten Bischöfe holte zudem eine päpstliche Bestätigung ein, sodass der Kurie eine starke Mitwirkung an den Bischofseinsetzungen keineswegs abzusprechen ist, eine Mitwirkung, die zudem im Verlauf des 14. Jahrhunderts immer mehr zunahm und zuletzt hundertprozentig wurde (Abbildung 8 auf 83). Ist diesem generellen Befund durchaus zuzustimmen, so kann Erdmanns notgedrungen recht schematisches Verfahren, die päpstliche Beteiligung an den Bischofseinsetzungen zu messen, doch auch nicht immer überzeugen. Wenn etwa die päpstliche Zustimmung zu einem vom Kapitel gewählten Kandidaten de facto als Nichteinfluss gewertet wird (61f.), so verunklart dies den grundsätzlichen Anspruch auf die plenitudo potestatis, den der Papst doch gerade auch mit seinem Konsens manifestieren konnte. Umgekehrt kann es auch nicht befriedigen, wenn Erdmann etwa die Absetzung Heinrichs von Virneburg und Ernennung Gerlachs von Nassau zum neuen Erzbischof von Mainz (April 1346) als eine "echte" motu proprio-Entscheidung klassifiziert (55) - jeder weiß doch, dass es sich hierbei nicht um eine "einsame Entscheidung" Clemens' VI. handelte, sondern dass diese Aktion Teil der Übereinkunft zwischen dem Papst und den Luxemburgern war, die zur Königswahl Karls IV. führen sollte. An solchen Stellen kann der Zwang zu Formalisierungen und Klassifizierungen, welcher statistischen Verfahren zumeist innewohnt, der Komplexität historischer Vorgänge erkennbar nicht gerecht werden.

In Kapitel III werden 2.228 Kanonikatsbesetzungen in insgesamt 18 deutschen Domkapiteln einer näheren Analyse unterzogen. Erdmann führt hier als Kenngrößen die Provisions-, Wirksamkeits- und Erfolgsquote ein: Die erste ist das Zahlenverhältnis zwischen päpstlichen Rechtstiteln und den tatsächlich vakanten Stellen in einem Domkapitel, die zweite gibt an, in wie viel Prozent aller Stellenbesetzungen ein päpstlich Providierter tatsächlich zum Zuge kam, und die dritte, die Erfolgsquote, bemisst den Anteil päpstlicher Rechtstitel, die tatsächlich zum Pfründenerfolg führten. Anhand dieser durchaus sinnvollen Maßzahlen werden die Stellenbesetzungen im Reich räumlich und zeitlich differenziert analysiert - insgesamt zu beobachten ist eine sehr deutliche Tendenz zur Zunahme der päpstlichen Eingriffe (bei allerdings eher etwas absinkender Erfolgsquote aufgrund der "Vermassung" der päpstlichen Gnaden), sowie eine ausgeprägte räumliche Differenzierung: Sehr stark von päpstlichen Kandidaten überschwemmte Domkapitel wie Konstanz stehen neben Kapiteln, die aus verschiedenen Gründen nur geringen kurialen Einflüssen ausgesetzt waren. Die so gewonnenen allgemeinen Befunde führen uns zu der Eingangsfrage nach dem Umfang der päpstlichen Einflussnahme zurück, dass nämlich 1.) "im Gesamtdurchschnitt [...] von den Päpsten niemals mehr als die Hälfte der Kanonikate mittels kurialer Rechtstitel besetzt worden ist" und 2.) "dass [...] wenigstens ein Drittel, meist sogar mehr als die Hälfte der [päpstlicherseits] ausgestellten Mandate zu einem Pfründenbesitz führten" (beide Zitate 268).

Wirksamkeits- und Erfolgsquoten von ca. 50 Prozent (und für die Bistümer gilt ja ähnliches, siehe oben) - für Erdmann ist dies Anlass zu dem Resümee, der päpstliche Einfluss auf die Stellenbesetzungen in Deutschland sei "eher moderat" gewesen (274). Und doch ist Erdmann mit seinen statistischen Ergebnissen meilenweit von jenen Autoren entfernt, die bis in die jüngste Zeit die Bedeutung der päpstlichen Kollatur "heruntergerechnet" haben. Der Rezensent neigt zu der Ansicht, eine fünfzigprozentige Erfolgschance päpstlicher Gratien für ausgesprochen beachtlich und doch zugleich realistisch zu halten (da er selbst für das 15. Jahrhundert zu ähnlichen Ergebnissen gekommen ist). Bildlich gesprochen: Sieht Erdmann das Glas für halb leer an, kann man es doch genauso gut für halb voll erklären. Damit aber könnte der Streit um die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit der päpstlichen Benefizialpolitik ein für allemal entschieden sein: Wenn (wenigstens) die Hälfte aller höheren kirchlichen Stellen mittels päpstlicher Rechtstitel besetzt wurden und der einzelne Rechtstitel eine durchaus beachtliche Realisierungschance hatte, dann sollte die Forschung ein für allemal akzeptieren, dass sich die Geschichte der deutschen Kirchen im Spätmittelalter ohne ein intensives Studium der römischen Kurie und ihrer Überlieferung nicht schreiben lässt!


Anmerkung:

[1] http://www.dhi-roma.it/erdmann.html

Rezension über:

Jörg Erdmann: "Quod est in actis, non est in mundo". Päpstliche Benefizialpolitik im sacrum imperium des 14. Jahrhunderts (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom; Bd. 113), Tübingen: Niemeyer 2006, X + 340 S., ISBN 978-3-484-82113-2, EUR 48,00

Rezension von:
Robert Gramsch
Friedrich-Schiller-Universität, Jena
Empfohlene Zitierweise:
Robert Gramsch: Rezension von: Jörg Erdmann: "Quod est in actis, non est in mundo". Päpstliche Benefizialpolitik im sacrum imperium des 14. Jahrhunderts, Tübingen: Niemeyer 2006, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 12 [15.12.2008], URL: https://www.sehepunkte.de/2008/12/13103.html


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