Rezension über:

Michael Jung: Marathon und Plataiai. Zwei Perserschlachten als "lieux de mémoire" im antiken Griechenland (= Hypomnemata. Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben; Bd. 164), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, 427 S., ISBN 978-3-525-25263-5, EUR 69,90
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Rezension von:
Kostas Buraselis
Fachbereich Geschichte und Archäologie, Universität Athen
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Kostas Buraselis: Rezension von: Michael Jung: Marathon und Plataiai. Zwei Perserschlachten als "lieux de mémoire" im antiken Griechenland, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 2 [15.02.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/02/10605.html


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Michael Jung: Marathon und Plataiai

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Diese auf die Münsteraner Dissertation von Michael Jung zurückgehende Monografie gilt der historischen Erinnerung an die zwei großen griechischen Landsiege in den Perserkriegen, also deren späterer, allmählicher Ausgestaltung. Wie im Untertitel der Arbeit angedeutet und im ersten Kapitel (13-26) ausgeführt, geht das hier zugrunde gelegte Konzept eines 'lieu de mémoire' auf die neuhistorischen Forschungen von Pierre Nora zurück und steht in Zusammenhang mit den ebenfalls auf neuzeitlichen Beispielen fußenden Arbeiten des Soziologen Maurice Halbwachs zum "kollektiven Gedächtnis" sowie den Ausführungen von Jan Assman zum "kulturellen Gedächtnis" im Kontext des pharaonischen Ägypten. Die vorliegende Studie wird von diesen Denkmodellen befruchtet, folgt ihnen jedoch nie sklavisch. Ganz im Gegenteil: Sie basiert auf und besteht aus hauptsächlich durchaus solider detaillierter Quellenarbeit.

Der erste Teil der Arbeit (27-224) ist Marathon gewidmet. Zunächst wird der direkte Niederschlag des Sieges in nachfolgenden kultischen Entwicklungen in Athen untersucht (27-71), wie im Programm der marathonischen Herakleia, die von einem eher lokalen zu einem gesamtathenischen Fest aufgestiegen zu sein scheinen, in der Einführung des Pan-Kults und in den Änderungen in Sinn und Funktion schon bestehender attischer Kulte, wie z.B. im nunmehr eng mit der Erinnerung an die Schlacht zusammenhängenden Agrotera-Fest. Ein schon im 5. Jahrhundert einsetzender Totenkult für die Gefallenen wird aufgrund der nicht eindeutigen archäologischen Quellenlage verneint. Insgesamt scheinen diese als erste Reaktion auf den Sieg eingeführten kultischen Neuerungen eine festere Integration Attikas in den gesamtathenischen Staat und die Überwindung von "lokale[n] Identitätsbestimmungen" (71) verfolgt zu haben.

Die "steingewordene Erinnerung" an Marathon, also die noch klassischen Weihmonumente, die durch die Schlacht veranlasst wurden, bilden den Stoff eines weiteren Kapitels (72-125). Der Reihe nach werden die Aussagen des Kallimachos-Anathems auf der Akropolis, der sogenannten 'Marathon-Epigramme', des Athener Schatzhauses mit seinen begleitenden Weihungen anlässlich Marathons in Delphi und - wohl des 'Kronzeugen' - der Poikile Stoa auf der Agora besprochen. Haupttenor der Ergebnisse ist, dass diese Monumente meist die Funktions- und Widerstandsfähigkeit der noch jungen athenischen Demokratie (genauer: des kleisthenischen Isonomia-Systems), aber kaum bereits den panhellenischen Charakter des athenischen Erfolgs gegenüber Persien herausstellen sollten. Speziell die 'Marathon-Epigramme' werden mit dem Salamissieg in Verbindung gebracht, während im figürlichen Plan der Stoa Poikile zu Recht Elemente der kimonischen Politik der 460er Jahre erkannt werden. Über verschiedene Teilthesen hinaus (wie der Interpretation von Paus. 10.10.1, wo u.a. die Statuen von Athena, Apollon und Miltiades gegen die Aussage des Periegeten als spätere, nicht direkt vom Zehnten der Marathonbeute erfolgte Weihungen angenommen werden) stimmt hier besonders die Ablehnung jedes panhellenischen Bezugs dieser Monumente bedenklich. Schon die Errichtung zumindest einer Reihe von Statuen in Erinnerung an Marathon im delphischen Schatzhaus der Athener hatte sicherlich auch den Sinn, den athenischen Sieg vor einem panhellenischen Publikum zu feiern, gerade in der Nähe anderer Schatzhäuser von Inselpoleis (z.B. der Naxier), die von den Persern im Rahmen des Datisfeldzugs ebenfalls bedroht bzw. unterjocht worden waren. Der in der literarischen Überlieferung (Ael. Arist. II 162 Keil; vgl. Felix Jacoby: Hesperia 14 (1945), 160, Anm. 17, und Denys L. Page: Epigrammata Graeca, Oxford 1975, Sim. XXI mit Komm.) Simonides zugewiesene Vers "Ἑλλήνων προμαχοῦντες Ἀθηναῖοι Μαϱαθῶνι [...]" wird in diesem Kontext kaum erörtert. Darüber hinaus wird die panhellenische Dimension der Mythen sowohl des Trojanischen Krieges wie auch der Amazonomachie, die gewissermaßen die Einleitung zur Marathon-Darstellung in der Poikile Stoa waren, nicht berücksichtigt.

Marathon und der Begriff der Marathonomachoi als Ideal und Kontrastbild des klassischen Athen werden anschließend (126-169) gewürdigt. Der Versuch der Athener, Marathon emphatisch als den ersten großen Akt der Perserabwehr zu präsentieren, wird ebenso genau nachgezeichnet wie auch verschiedene Elemente der sich stets anreichernden Marathon-Sage wie das Psephisma des Miltiades oder die gelegentliche Behauptung, den Sieg in heldischer Isolation (also ohne Erwähnung der Platäer) errungen zu haben. Theopomps Polemik (FGrH 115, 153) gegen die gezielte Selbstglorifizierung der Athener in puncto Marathon wird gewürdigt; hier wäre allerdings auch die politische Position dieses Historikers, eines militanten (und darum aus seiner Heimat Chios exilierten) Sparta-Freundes mit zu erwägen gewesen. Die Tradition und der Mythos Marathons durchlaufen weitere Stadien im Hellenismus und in der Kaiserzeit (170-224): In der ersteren Periode analysiert Jung insbesondere die Entstehung der antiken Marathonlaufsage, in der letzteren wird eingehend der enge Zusammenhang zwischen der lokalen Herkunft des Herodes Atticus und der Projektion Marathons als Erinnerungsort beleuchtet, wobei die verständliche Doppelherme einer geschickten Integration in die römischen Interessen bei der Auseinandersetzung mit den Parthern wie auch der einhergehenden Sicherung der griechischen Eliten aufgrund ihrer Ahnenglorie erscheint.

Plataiai und die Entstehung und Aufarbeitung seiner Tradition werden im zweiten großen Teil des Werkes (225-383) analysiert. Zunächst wird die erste Formierung der Erinnerung an das Ereignis in Dichtung (neue Simonides-Elegie), einigen Elementen des platäischen Kultrituals und Kunst (delphischer Dreifuß und sonstige Votiven) untersucht (225-271). Schon bei Simonides weist die ausdrückliche, in eine Trojakriegsszenerie eingehüllte Führungsposition Spartas sowohl den programmatisch panhellenischen Charakter als auch die früh einsetzenden "Dividendenansprüche" der Hauptsieger auf. Besonders die Zusammenarbeit der Protagonisten Sparta und Athen bei der erfolgreichen Schlussabwehr der Perser war das problematische Fundament des späteren platäischen Schicksals. Exemplarisch zeigt sich dies in der überlieferten Spannung bezüglich des Epigramms am delphischen Dreifuß, wo die ursprüngliche Nennung des Pausanias entfernt bzw. durch eine andere "Siegesautorschaft" ersetzt worden sein soll (246-247). Aber auch die Reihenfolge der am Sieg beteiligten griechischen Städte, wie sie an der berühmten Basis-Schlangensäule des Monuments aufgeschrieben wurde, allen voran Sparta, Athen und Korinth, drückte dieselbe Tendenz aus, den panhellenischen Erfolg für die machtpolitischen Interessen der griechischen Hauptmächte in der Folgezeit zu beanspruchen. Ein verwandtes, ausführlich erörtertes Problem ist (271-281), welchen eventuellen Grad an Authentizität man der in Plutarch (Arist. 21) überlieferten Gründung eines "Hellenenbundes" in Plataiai zuschreiben darf, die ein bestimmtes Programm nicht nur zur Erhaltung des Ereignisgedächtnisses durch periodische Versammlungen griechischer Abgeordneter und Abhaltung eines penteterischen Festes der Eleutheria, sondern auch zur Bildung einer gemeinsamen griechischen Streitmacht beinhaltet hätte. Mit berechtigter Skepsis begegnet Jung diesem Großplan, zumal er die Form eines von Aristeides vorgeschlagenen Beschlusses angenommen haben soll (281). Andererseits scheint hier zumindest ein Kern von Wahrheit zu stecken - nämlich in Bezug auf die privilegierte Position Plataias ab 479 und dessen Rolle als gemeinsamer "Gedächtniswärter" der Griechen: diese Rolle war für die kleine böotische Stadt, die sich stets unter dem drohenden Schatten Thebens befand, existenzwichtig, und der Dialog der Plataier mit Archidamos zu Beginn des Peloponnesischen Krieges bei Thukydides (2,71ff.) legt meines Erachtens nahe, dass zumindest die Eleutheria trotz des Mangels an weiteren Zeugnissen eine von den Plataiern ab 479 nach Möglichkeit (also sehr wahrscheinlich: irregulär) weiter gepflegte Institution gewesen sein könnten. Auch für den Hellenismus wäre uns die Pflege, d.h. die Erneuerung, dieser Tradition unbekannt geblieben, wenn nicht inschriftliche Zeugnisse diesen Neuansatz bis zu einem Zeitpunkt im ersten Jahrhundert nach Alexander gerückt hätten.

Hauptzeugnis ist das bekannte Dekret des platäischen Hellenenbundes zu Ehren des athenischen Staatsmanns Glaukon, des Bruders des Chremonides. Jung widmet der Aussage dieses Textes eine wertvolle Analyse (299-320). Er datiert ihn richtig in die Periode 250-245 (übrigens genau wie der Rezensent 1984, in einer hier offensichtlich missrezipierten neugriechischen Publikation), also in eine Zeit, als die Achäer Arats mit ptolemäischer Rückendeckung die Auffrischung der panhellenischen Ideologie gegen das antigonidische Makedonien betrieben. Die Einrichtung eines Homonoiakultes in Plataia möchte Jung richtig von Philipp II. und Alexander abkoppeln und mit Initiativen griechischer Städte im Hellenismus verbinden, vorzugsweise aber in die Zeit des Lamischen Krieges zurückführen (338-340). Man darf sich aber fragen, ob die Zeit des Chremonideischen Kriegs nicht doch einen besseren Hintergrund bilden könnte (besonders bei der Betonung des Begriffes der homonoia im Chremonidesdekret), wozu man auch den präzisen Zeitpunkt des Glaukondekrets innerhalb der Karriere des Geehrten (vor oder nach seinem Tod, was Jung kategorisch ausschließen möchte) mit Gewinn berücksichtigen könnte.

In einem weiteren Kapitel (344-383) verfolgt Jung die Entwicklung Plataias und seiner Eleutheria in der späthellenistischen und römischen Zeit. Er arbeitet die allmähliche Erweiterung des geografischen Horizonts der teilnehmenden Athleten und die Bereicherung des Festprogramms heraus. Wichtig ist sein Studium der prosopografischen und ideologischen Verbindung des platäischen Panhellenenfestes mit der Institution des Kaiserkults (360-368) und insbesondere seine einleuchtende Annahme einer Inspiration des hadrianischen Panhellenions durch das blühende Fest der Panhellenen in der böotischen Stadt (368-377). In einem Schlusskapitel (384-397) werden die Ergebnisse der Arbeit, auch in vergleichender Perspektive (Marathon vs. Plataiai), festgehalten, wobei eine feine Feststellung hervorzuheben ist: "Die Erinnerung und Identitätsbestimmung der Polis blieb gegenüber möglichen übergreifenden 'panhellenischen' Deutungen stets dominant" (396). Ein Quellen- und ein Literaturverzeichnis schließen die reichhaltige Arbeit ab.

Jung weist insgesamt einen klaren, aber etwas selbstwiederholenden Stil auf, das alte Motto "in der Kürze liegt die Würze" würde hier nicht überall passen. Die griechischen Texte in der Arbeit sind zwar für heutige Maßstäbe relativ sorgfältig wiedergegeben, trotzdem erscheinen an verschiedenen Stellen Fehler, wie z.B. im Falle des Glaukon-Dekrets (299-300), wo außer fünf Druckfehlern auch eine ganze Zeile (Z. 16) ausgelassen wurde. Zu den "technischen" Nachteilen des Buches muss man das Fehlen richtiger Kreuzverweise auf bestimmte Seitenzahlen (statt der kaum gleich hilfreichen Zitierung von Teilen und Unterteilen der ganzen Arbeit) und den Mangel an Registern jeglicher Form rechnen, die dem Leser erst die Lokalisierung einer jeweils wichtigen Stelle gerade bei der so tüchtig erreichten Materialfülle erlaubt hätten.

Abschließend kann man festhalten, dass trotz der angezeigten Unvollkommenheiten dem besprochenen Werk eine neue - längst nötige - sowohl theoretisch wie auch quellenmäßig erfreulich fundierte und eingehende Behandlung der allmählichen Formierung der Tradition über diese so bedeutenden Schlachten der klassischen griechisch-persischen Auseinandersetzung gelungen ist. Die künftige Forschung zu diesen oft komplizierten, aber wichtigen Fragen wird hier sicherlich ein gründlich erarbeitetes Werkzeug und ein reiches Spektrum stets nützlicher Denkanstöße finden.

Kostas Buraselis