sehepunkte 9 (2009), Nr. 11

Kristin Böse: Gemalte Heiligkeit

Als im August 1308 im umbrischen Städtchen Montefalco die Äbtissin des Konvents von Santa Croce starb, veranlassten ihre Mitschwestern eine eingehende Obduktion. Jahrelang hatte die Verstorbene - sie ist heute unter dem Namen Chiara da Montefalco bekannt - von visionären Begegnungen mit Christus berichtet, die ihr heftige körperliche Schmerzen verursachten. Die Schwestern wollten nun wissen, ob sich Spuren davon im Inneren der Toten finden ließen. Tatsächlich führte das Aufschneiden des Herzens zu einer erstaunlichen Entdeckung: Es entpuppte sich als Bildbehälter, der einen Kruzifix sowie Zeichen der Arma Christi in sich barg.

Die von Chiaras Biografen Berengar überlieferte Geschichte des Bilderfunds im Herzen führt ins Zentrum der Fragestellung, der Kristin Böse in ihrem Buch über die Bilder neuer weiblicher Heiliger im Italien des ausgehenden Mittelalters nachgeht. Frauen wie Chiara, Fina da San Gimignano, Margherita da Cortona oder Giulia da Certaldo führten ein zurückgezogenes, asketisches Leben an den Rändern der städtischen Gesellschaft. Wenn nach ihrem Tod ein lokaler, 'unkanonischer' Heiligenkult einsetzte, dann hatten Bildmedien eine besonders schwierige Repräsentationsleistung zu erbringen: Ähnlich wie die Obduktion sollten sie jene übersinnlichen Erfahrungen und Mirakel sichtbar machen, die sich außerhalb der Sphäre des gesellschaftlich Sichtbaren zugetragen hatten.

Methodisch positioniert sich die Monografie an einer Schnittstelle mehrerer Forschungsinteressen, zu denen die Frage der geschlechterspezifischen Differenzierung von Heiligkeitsmodellen (vgl. die Studien von André Vauchez, Chiara Frugoni, Gabriella Zarri u.a.) ebenso gehört wie die nach der genuinen Rolle von Bildmedien bei der Markierung differenter Typen von Heiligkeit (vgl. die einschlägigen Beiträge von Klaus Krüger, Cynthia Hahn, Silke Tammen u.a.). Als Kernthema der Untersuchung erweist sich immer wieder die Übertragung visionärer Offenbarungen der Religiosen in materielle Bilder. Dabei steht für die Autorin weniger die Einlösung hagiografischer Topik im Vordergrund als die vieldimensionale Beziehung zwischen mehreren Raumordnungen des Sehens: den Räumen innerhalb der Bilder, den Räumen, die aus der Anordnung mehrerer Bilder entlang bestimmter Achsen resultieren, und den sozialen Räumen, deren Anbindung an die Bilder durch die architektonische Struktur von Konventen, Kapellen und Kirchen geregelt wurde.

Zum Reiz des sorgfältig recherchierten und ausführlich bebilderten Buches gehört es, dass es in seinen beiden Hauptteilen zwei unterschiedliche Optiken zusammenbindet: Der erste Teil nimmt ausschließlich die Bildproduktion zu Francesca Romana in den Blick, die im Laufe des 15. Jahrhunderts das Grab der Heiligen und den von ihr gegründeten Konvent Tor de' Specchi in Stätten der Erinnerung transformierte. In einer diachronen Analyse der verschiedenen Zyklen arbeitet Böse die wiederholte Umdeutung der Figur Francescas heraus und korreliert sie mit den jeweiligen Raumfunktionen sowie den unterschiedlichen Auftraggeber- und Rezipientenkreisen. Der zweite Teil nimmt eine vergleichende Sichtung von Bildensembles verschiedener Religiosen der Toskana und Umbriens vor. Stets handelt es sich um Kulte von lokaler Ausstrahlung, die auf die jeweilige Grabstätte der Frauen zentriert waren. Das Ziel dieser vergleichenden Betrachtung ist die Entwicklung einer Matrix zentraler Bildthemen, Bildzusammenhänge und Adressatengruppen, deren Anteile sich von Fall zu Fall verschieben konnten.

Die unregulierten Lebensformen der weiblichen Heiligen brachten es mit sich, dass ihre Bilder an eher peripheren, abgeschiedenen Orten platziert wurden, die später leicht in Vergessenheit gerieten. So führen die umfangreichen Freskenzyklen für Francesca Romana im Oblatinnenkonvent Tor de'Specchi nach wie vor ein Schattendasein in der Forschung zum römischen Quattrocento. Es ist daher ein wichtiges Verdienst von Böses Studie, die Ausmalungen der Chiesa Vecchia und des Antico Refettorio einer umfassenden Analyse unterzogen zu haben. Wie die Autorin auf der Grundlage auch des schriftlichen Quellenmaterials plausibel machen kann, war die causa pingendi primär eine Sicherung der Memoria Francescas als Gründerin des Konvents und ihre Zurichtung als ethisches Exempel im Ringen um fromme Lebensführung. Dabei berief man sich in den Fresken der Chiesa Vecchia auf das Modell eines älteren, heute nur noch partiell erhaltenen Ensembles aus Tafelbildern, das ursprünglich wohl für das Grab der Heiligen in einer Seitenkapelle der Olivetanerkirche Santa Maria Nova geschaffen wurde. Das dominante Thema dieser goldgrundigen Gemälde sind visionäre Erfahrungen, in denen Francesca einen "spirituellen Aufstieg" (24) absolviert und über ihre innige Beziehung zu Maria und Christus in ihrer Rolle als Mutter der Oblatinnengemeinschaft legitimiert wird. Im späteren Freskenzyklus wird diese Qualifizierung Francescas als visionär begabte Heilige beibehalten, aber nun um den für eine Kanonisierung unverzichtbaren Gegenpol thaumaturgischen Handelns ergänzt. Wie Böse zu Recht betont, war eine solche visionslastige Ausrichtung im fortgeschrittenen 15. Jahrhundert hoch problematisch, angesichts heftiger theologischer Debatten um die Kriterien einer Scheidung der Geister, die gerade den geschauten Offenbarungen der Frauen ein gesteigertes Misstrauen entgegenbrachte. Dass dieser Streit auch für die Bildproduktion nicht folgenlos war, kann die Autorin an verschiedenen Merkmalen bildlicher discretio festmachen, die die Abgrenzung der Wahrnehmungssphären sicherstellen und die Konformität der Bilder mit theologischen Visionslehren unterstreichen.

Der zweite, vergleichende Teil der Studie entwickelt sich entlang systematischer Leitfragen zu den Kernthemen, den medialen Strukturen und dem Publikum neuer weiblicher Heiliger im Italien des 14. und 15. Jahrhunderts. Die dabei herangezogenen Fallbeispiele fügen sich zu einem auf den ersten Blick eher heterogen erscheinenden Korpus, in dem komplette Raumensembles wie Santa Chiara in Montefalco neben fragmentarisch überlieferten Tafelbildern zu stehen kommen. Wie im Abschnitt "Bildmedien" zu erfahren ist, geht diese mediale Vielgestaltigkeit zu einem guten Teil auf das Konto der Rezeptionsgeschichte, etwa der allgemein üblichen Praxis der Zerlegung von Tafelbildern, aber auch der Zerstörung ganzer Freskenzyklen. Deutlich wird dann aber auch, dass jede der von Böse diskutierten Figuren der Mittelpunkt einer singulären Bild-Konstellation ist, deren unverwechselbare Gestalt aus dem Aufeinandertreffen spezifischer Trägergruppen des Kultes, räumlichen Gegebenheiten und den thematischen Eigenheiten der jeweiligen Vita resultiert.

Die stärksten der durchweg sehr differenziert vorgetragenen Analysen gelingen zweifellos dort, wo das räumliche Beziehungsgefüge der Bilder noch intakt ist. So kann Böse an der Ausmalung der Kreuzkapelle von Santa Chiara in Montefalco aufzeigen, wie eine kurze und lückenhafte Erzählung zur Gründerin der Reklusinnengemeinschaft pointiert und sinnträchtig durch Szenen aus dem Leben von frühchristlichen Märtyrerheiligen und aus der Passion Christi ergänzt wird. Der Körper Chiaras wird hier, wie Böse formuliert, als "Reliquiar" (92) deutbar, dessen Inhalt sich auf das Passionsgedenken bezieht.

Aus dem Vergleich der zusammengestellten Objekte leitet die Autorin weiterreichende Schlüsse zur Wertigkeit einzelner Trägermedien wie Wandmalerei oder Tafelbild ab, die die gängige Vorstellung eines Übergangs von der Pala zu ausfreskierten Räumen korrigieren sollen. Angesichts der geringen Zahl der Werke und ihrer weit auseinander liegenden Entstehungsdaten kann man durchaus Zweifel daran haben, ob das untersuchte Material in dieser Hinsicht wirklich tragfähig ist. Außerordentliche Beachtung hingegen verdienen die wegweisenden Überlegungen zur Kombination verschiedener Medien im Grabzusammenhang. Wie Böse herausarbeitet, fungierten die Bildensembles letztlich als kinetische Erfahrungsräume, die in der Bewegung der Gläubigen durch den Raum und um das Grab aktiviert wurden. Ein eigener Abschnitt zu bemalten Holzsärgen an den Gräbern der Religiosen präsentiert eine wichtige mediengeschichtliche Alternative zum bekannten Typus der Arca oder des nordalpinen Schreinreliquiars. Anders als diese nämlich waren die Särge wandelbare Objekte, die es erlaubten, den Körper der Religiosen herauszunehmen und sogar zu berühren.

In einer kurzen Zusammenfassung werden die beiden Teile der Untersuchung noch einmal miteinander verknüpft und zu einigen gut pointierten Schlussfolgerungen verdichtet. Gemessen am Ertrag der vorausgegangenen Abschnitte hätte diese Verklammerung sicher noch etwas ausführlicher ausfallen können. Aber auch so darf festgehalten werden, dass die von Böse vorgelegte Studie ein faszinierendes Bild von den räumlichen und visuellen Dimensionen pikturaler Hagiografie entwirft. Nach wie vor ist unsere Vorstellung von gemalter Heiligkeit im Spätmittelalter allzu sehr von offiziell anerkannten Figuren wie Franziskus beherrscht, die die größtmögliche institutionelle Rückendeckung durch Papst und Orden erfuhren. Doch bieten die Bilder zu Francesca, Chiara, Fina oder Margherita, wie die Autorin zeigen kann, weit mehr als eine bloße Bildgeschichte 'der anderen'. Die spezifische Sichtbarkeitsproblematik dieser Bildkulte macht aus Böses Buch einen wichtigen Beitrag zur Visualitätsgeschichte des Mittelalters.

Rezension über:

Kristin Böse: Gemalte Heiligkeit. Bilderzählungen neuer Heiliger in der italienischen Kunst des 14. und 15. Jahrhunderts (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte; 61), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2008, 223 S., 111 Abb., ISBN 978-3-86568-301-4, EUR 39,95

Rezension von:
David Ganz
Zukunftskolleg, Universität Konstanz
Empfohlene Zitierweise:
David Ganz: Rezension von: Kristin Böse: Gemalte Heiligkeit. Bilderzählungen neuer Heiliger in der italienischen Kunst des 14. und 15. Jahrhunderts, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 11 [15.11.2009], URL: https://www.sehepunkte.de/2009/11/14771.html


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