sehepunkte 10 (2010), Nr. 1

Cornelia Wilhelm: Deutsche Juden in Amerika

Diese Studie zur Geschichte zweier wichtiger Organisationen deutsch-jüdischer Einwanderer in den Vereinigten Staaten wertet eine Vielzahl bisher unbeachteter, größtenteils deutschsprachiger Quellen aus, und es gelingt ihr damit, einen bedeutenden Beitrag zur amerikanisch-jüdischen Geschichte zu leisten. Obwohl es sich bei dem Werk um eine chronologische Darstellung der Gründung, Aufgaben, Ideen, Ausbreitung und Aktivitäten des unabhängigen, jüdischen Ordens B'nai B'rith und dessen Frauenorganisation, dem Unabhängigen Orden Treuer Schwestern handelt, ist diese Arbeit mehr als nur eine Organisationsgeschichte. Vielmehr erweitert sie unser Verständnis dafür, wie jüdische Männer und Frauen im Amerika des 19. Jahrhunderts in einer Umgebung, in der es keine etablierten jüdischen Gemeinden gab, gemeindeähnliche Strukturen schufen, und wie auf dem Fundament deutscher Kulturzugehörigkeit, Fortschrittsglauben und progressiver Religiosität eine moderne amerikanisch-jüdische Identität entstand.

Das erste der fünf Kapitel führt in die Materie ein und umreißt kurz das jüdische Leben in Amerika zwischen 1820 und 1850 sowie die europäische Herkunft der Einwanderer und ist trotz einiger Missverständnisse zur europäisch-jüdischen Situation insgesamt nützlich.

Im zweiten Kapitel beschreibt Wilhelm in vielen relevanten und neuen Einzelheiten die Gründung des B'nai B'rith sowie die Zeremonien und das Gradensystem der Organisation. Wilhelm schildert zudem, wie der Orden von deutschen, deutsch-jüdischen und amerikanischen Vorbildern wie etwa Selbsthilfe- und Bildungsvereinen sowie Geheimlogen inspiriert wurde und sowohl von der jüdischen Reformbewegung als auch von den weltlichen Werten eines aufgeklärten Universalismus geprägt war. Weiterhin berichtet Wilhelm, dass der B'nai B'rith einige seiner Ideale und Ideen dem Einfluss einer Gruppe jüdischer Demokraten und Revolutionäre des Jahres 1848 verdankte, die Humanität, eine aktive Liebesreligion und Fortschrittsglauben propagierten und in enger Verbindung zur deutschen Frauenbewegung standen. In der Tat besteht eine der wichtigsten Leistungen dieses Buches darin, dass Wilhelm eine Darstellung der 1848 vorgenommenen Gründung und die Geschichte des ersten amerikanischen Frauenordens, den Treuen Schwestern, liefert. Jüdische Frauen in Amerika folgten also dem Beispiel deutscher Jüdinnen, die bereits in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts angefangen hatten, die Vorreiterrolle bei der Gründung und Organisation unabhängiger Frauenvereine zu übernehmen. Leider konnte Wilhelm jedoch diese jüngsten Ergebnisse deutsch-jüdischer Geschichte bei ihrer Besprechung der Treuen Schwestern nicht mit einfließen lassen.[1]

In ihrem dritten Kapitel über den Zeitraum zwischen 1850 und 1875 beschreibt Wilhelm, wie der B'nai B'rith, der die Eigenschaften eines Selbsthilfevereins mit dem Anspruch gesellschaftlicher Verantwortung, Ideen fortschrittlicher jüdischer Religiosität und Moral und einem Programm moralischer Veredelung und aktiver Persönlichkeitsbildung seiner Mitglieder verband, derart expandierte, dass er in allen Teilen des Landes Logen gründete und zur einzigen jüdischen Organisation wurde, die Juden in den USA auf nationaler Ebene vertrat. Der Orden, dessen Mitgliedschaft ausgesprochen heterogen war, baute nicht nur Krankenhäuser und jüdische Waisenhäuser auf, sondern auch öffentliche Bibliotheken, die attraktive Kulturprogramme boten. Wilhelm zeigt so auf, wie der B'nai B'rith Juden in der amerikanischen Gesellschaft ein öffentliches Profil verlieh und damit amerikanisch-jüdische Identität formte. Des Weiteren vertieft Wilhelms Darstellung unser Verständnis des in der Forschung bekannten Konflikts zwischen der deutsch-jüdischen Elite der Ostküste und der populistischeren Bewegung, mit der Isaac Mayer Wise in Cincinnati seine Ziele verfolgte.

Die Treuen Schwestern expandierten langsamer als der Orden der Männer, da die Organisation selektiver in der Aufnahme neuer Mitglieder blieb als der B'nai B'rith. In der Tat zeigt Wilhelm, dass die Treuen Schwestern, deren Mitglieder ihre Angelegenheiten selbstständig, mit großer Kompetenz und mit einem ausgeprägten Selbstbewusstsein erledigten, konsequent die Entstehung untergeordneter, den Männerlogen beigeordneter, so genannter women's auxiliaries verhinderten, die potentiell einen größeren Zulauf an Mitgliedern hätten haben können. Wie in Einzelheiten im vierten Kapitel über die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts ausgeführt, gaben die Treuen Schwestern die erste amerikanisch-jüdische Frauenzeitschrift heraus, bereiteten Frauen darauf vor, öffentlich zu sprechen, und betätigten sich in einer Reihe von weiteren, bedeutenden Projekten. Der Frauenorden spielte auch eine wichtige Rolle bei der Gründung eines bis zum heutigen Tage wichtigsten Verbände jüdischer Frauen, des National Council of Jewish Women.

Der B'nai B'rith selber durchlief nach 1875 eine ernsthafte Krise, die der Verband darauf zurückführte, dass er für seine Mitglieder eine obligatorische Lebensversicherung eingeführt hatte. Jedoch musste der Orden jetzt auch mit der Society for Ethical Culture und der nunmehr ebenfalls überregional organisierten Reformbewegung konkurrieren, und während er international nach Europa, Kairo und Jerusalem expandierte, sank seine Mitgliederzahl in den Vereinigten Staaten. Das fünfte Kapitel zeigt, wie sich der B'nai B'rith im frühen 20. Jahrhundert wieder erholte und als fortschrittlich-jüdische Organisation an Dynamik und Glaubwürdigkeit zurück gewann. In der Zeit vor dem ersten Weltkrieg war der Orden zumindest teilweise erfolgreich beim Anwerben neuer Mitglieder unter den jüdischen Einwanderern aus Osteuropa und er gewährte den Neuankömmlingen Unterstützung. Auch nutzten B'nai B'rith Veteranen wie Simon Wolf ihre persönlichen Kontakte zum Weißen Haus, um für ostjüdische Neueinwanderer zu intervenieren. Wie jedoch der Bericht Wilhelms über eine unglückselige Petition an den russischen Zaren im Jahre 1903 bezeugt, erwiesen sich die Methoden des B'nai B'rith zunehmend als überholt. Der Orden fand sich nur schwer damit ab, dass Zeitgenossen eine demokratischere Vertretung der amerikanischen Judenheit forderten und dass er mit dem neu gegründeten American Jewish Congress zusammenarbeiten musste. Dennoch hat der B'nai B'rith, diese Organisation einer nunmehr deutsch-jüdischen Elite, deren Selbstverständnis weiterhin von Ideen des 19. Jahrhunderts wie Fortschritt, Humanität und aufgeklärter jüdischer Religiosität bestimmt wurde, noch im frühen 20. Jahrhundert wegweisende amerikanisch-jüdische Institutionen wie die Anti-Defamation League und die Hillel Foundation für jüdische Universitätsstudenten gegründet.

Cornelia Wilhelm ist es gelungen, mit ihrer Studie entscheidend zur Geschichte des jüdischen Lebens in den Vereinigten Staaten beizutragen. Sie hat durch die Erschließung deutschsprachiger Quellen unseren Erkenntnisstand über die Geschichte des B'nai B'rith bedeutend verbessert, hat neues Licht auf eine Reihe wichtiger Themen der amerikanisch-jüdischen Geschichte des 19. Jahrhunderts geworfen und hat insbesondere die Geschichte der Treuen Schwestern aus der Vergessenheit hervorgeholt.


Anmerkung:

[1] Benjamin Maria Baader: Gender, Judaism, and Bourgeois Culture in Germany, 1800-1870, Bloomington 2006, 167-173.

Aus dem Englischen übersetzt von Lisa Shoemaker.

Rezension über:

Cornelia Wilhelm: Deutsche Juden in Amerika. Bürgerliches Selbstbewusstsein und jüdische Identität in den Orden B'nai B'rith und Treue Schwestern, 1843-1914 (= Transatlantische Historische Studien; Bd. 30), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2007, 372 S., ISBN 978-3-515-08550-2, EUR 48,00

Rezension von:
Benjamin M. Baader
University of Manitoba
Empfohlene Zitierweise:
Benjamin M. Baader: Rezension von: Cornelia Wilhelm: Deutsche Juden in Amerika. Bürgerliches Selbstbewusstsein und jüdische Identität in den Orden B'nai B'rith und Treue Schwestern, 1843-1914, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2007, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 1 [15.01.2010], URL: https://www.sehepunkte.de/2010/01/13474.html


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