sehepunkte 10 (2010), Nr. 4

Thomas Foerster: Vergleich und Identität

Aus semantischer Sicht bilden Identität und Alterität ein Gegensatzpaar: Die Adjektive 'fremd' und 'eigen' sind Komplementäre, die einander ausschließen. Aus historischer Sicht geht das Verhältnis des Eigenen zum Fremden jedoch weit über Abgrenzung, Abwertung und Ablehnung hinaus. Im Gegenteil: Die Anderen können nicht nur als Gegenspieler, sondern auch als Partner, ja als nachahmenswerte Vorbilder für die eigene Gruppe begriffen werden. Eine solche, semantisch offene Perspektive auf das Fremde tritt überall dort zutage, wo explizit oder implizit verglichen wird - wo die Konstruktion von Fremdbildern also nicht von vornherein auf den Gegensatz zur jeweils eigenen Identität reduziert wird (15).

Diese wichtigen Überlegungen stellen den namengebenden Ansatzpunkt der hier zu besprechenden Heidelberger Dissertation (2008) von Thomas Foerster dar. Deren Gegenstand bilden die Vergleiche zwischen dem skandinavischen Norden und den südlicheren Gefilden Alteuropas, die in den Werken fränkischer, englischer, sächsischer, dänischer und isländisch-norwegischer Autoren vor allem des 12. und 13. Jahrhunderts zum Tragen kommen. Wie verorten skandinavische Autoren ihre eigene Identität innerhalb Europas? Und wo beziehen etwa englische Geschichtsschreiber die nördlichen Fremden in ihre historische Selbstdeutung ein?

Mit der Integration des hochmittelalterlichen Nordens in die europäischen Kulturräume behandelt Foerster ein Thema, das in der jüngsten historischen Forschung auf großes Interesse gestoßen ist. Dies betrifft zum einen die prosopographische Aufarbeitung einschlägiger Kulturkontakte, wie sie im Blick auf die skandinavische Seite beispielhaft von Dominik Waßenhoven [1] geleistet worden ist. Zum andern aber und vor allem gilt es für Untersuchungen, die sich am Paradigma von Identität und Alterität orientieren. So haben Volker Scior [2] und David Fraesdorff [3] zwei umfängliche Studien zur Wahrnehmung des Nordens in hochmittelalterlichen norddeutschen Quellen vorgelegt.

Seinen eigenen Untersuchungsansatz konturiert Foerster zum Teil in bewusster Abgrenzung von diesen Arbeiten. Mit Carla Meyer und Christoph Dartmann sowie Lars Boje Mortensen betont er die Bedeutung von Krisenerfahrungen und Kontinuitätsbrüchen für die Neuformierung und schriftliche Fixierung von Identitäten. [4] Das Begriffspaar von 'Identität und Krise' tritt so neben das auf anderer Ebene angesiedelte Paradigma von 'Identität und Alterität'. Foerster fragt daher vor allem danach, wie der Vergleich mit dem - nördlichen beziehungsweise südlichen - Anderen angesichts der Erfahrung von Brüchen und Krisen für die Konstruktion frühnationaler Identitäten fruchtbar gemacht wird. Zu diesem Zweck untersucht er Texte, die zum größeren Teil in einer besonderen Beziehung zur sich verfestigenden Königsgewalt in Dänemark, Norwegen und im normannischen England stehen.

Die Analyse der Quellen führt Foerster in zwei großen Untersuchungsabschnitten durch. Dabei betrachtet er zunächst den Blick "alteuropäischer" Historiografen auf den Norden. Das erste Kapitel dieses Abschnitts behandelt als "Prolog" verschiedene fränkische und angelsächsische Annalen sowie die historiographischen Werke, die dem Umfeld der Hamburger Kirche entstammen (22-43). Da die Autoren dieser Texte "keine Konstruktion von Identitäten wie etwa spätere 'nationalgeschichtliche Gesamtdarstellungen'" anstreben, spiele "das Wechselverhältnis von Alterität und Identität hier keine dominierende Rolle" und komme "dem Vergleich kaum Bedeutung zu". Die "Darstellung von Fremdheit" beschränkt sich nach Foersters Ergebnissen auf die "Gegenüberstellung von Heiden und Christen"; explizite Vergleiche fehlten. Im abschließenden Fazit möchte er für diese Texte daher nicht von "Vergleichen, sondern eher von Kontrastierungen" sprechen (43).

Im zweiten Kapitel bespricht Foerster nach einem Überblick über die anglo-normannische Nationalgeschichtsschreibung seit 1066 vor allem die Chroniken Heinrichs von Huntingdon und Wilhelms von Malmesbury (44-74). Dabei betont er die Bedeutung von Kontinuitätsbrüchen für die Formierung historiographischer Identitätskonstruktionen. Für Heinrich von Huntingdon etwa wird die englische Identität grundlegend durch die Erfahrung feindlicher Invasionen geprägt, deren schlimmste die "dänische Plage" ist (58). Auf diese Weise gelingt es dann auch, die ambivalente Erfahrung der normannischen Eroberung zu verarbeiten. Diese stellt zwar ebenfalls eine Plage dar; gegenüber den heidnischen und barbarischen Dänen heben sich die Normannen als "Gottes auserwähltes Volk" aber positiv ab (61).

Im zweiten, umfangreicheren Untersuchungsabschnitt wird der skandinavische "Blick nach Süden" analysiert. Hier betrachtet Foerster mit den hagiographischen Königsviten zunächst die frühesten Zeugnisse der skandinavischen Historiografie (79-101). Ein zweites und drittes Kapitel beschäftigt sich dann mit der lateinischen Chronistik Norwegens (101-115) und Dänemarks (115-150); das besondere Augenmerk gilt dabei dem Werk des Saxo Grammaticus. Schließlich werden auch die in der Volkssprache verfassten Königssagas des 12. und 13. Jahrhunderts (151-170) analysiert. Auch dieser Abschnitt wird knapp zusammengefasst (170-176).

Am Beispiel der skandinavischen Texte entwickelt Foerster das Konzept zweier grundlegender Modi des Vergleichs. So verwenden die frühen nordischen Texte zunächst vor allem den - zumeist diachron ausgerichteten - integrativen Vergleich, der "die Egalität des Eigenen mit den lange zuvor christianisierten Räumen des 'Alten Europa'" mittels biblischer, klassischer und historischer Vergleiche aufzeigt (170f.). In den Gesta Danorum des Saxo Grammaticus erkennt Foerster hingegen vor allem den Modus des distinktiven Vergleichs, der auch in der Synchronie durchgeführt wird und auf Abgrenzung vom römisch-deutschen Reich im Süden zielt (150 und öfter).

Foersters Dissertation enthält eine Reihe anregender Beobachtungen und Denkanstöße. Dies gilt sowohl für seinen Ansatz, der die mittelalterliche Fremdwahrnehmung nicht auf den bipolaren Gegensatz von Identität und Alterität reduziert, wie auch für (vertiefungsfähige) Sachbeobachtungen zu den einzelnen Quellen: Sehr oft lässt sich etwa die konkrete Ausformung des interkulturellen Vergleichs durch gattungsspezifische Merkmale erklären. Gleichwohl geht die inhaltliche Vielfalt bisweilen mit einem Mangel an begrifflicher und methodischer Stringenz einher. So ist die Bedeutung der verwendeten Termini auch in zentralen Bereichen mitunter erst aus dem Argumentationsgang zu rekonstruieren: Was unterscheidet etwa 'Kontrastierung' und echten Vergleich? Zugleich ist auch das Postulat einer Dominanz 'nationaler' Identitätsmuster in den Texten des 12. und 13. Jahrhunderts noch einmal kritisch zu hinterfragen (14). Auch wenn Foerster die Existenz anderer "(Teil-) Identitäten" anerkennt, fällt seine Arbeit in diesem Punkt methodisch hinter die Forschungen Sciors zurück, der gerade die Vielschichtigkeit der Selbst- und Fremdzuweisungen hervorgehoben hatte.

Die Arbeit hat das Verdienst, den Vergleich als Hilfsmittel der Identitätskonstruktion herauszustellen. Zugleich liefert Foerster selbst eine vergleichende Analyse wichtiger Quellenbestände. Seine Dissertation ergänzt so andere Untersuchungen zu den Selbst- und Fremdbildern des mittelalterlichen Nordens.


Anmerkungen:

[1] Dominik Waßenhoven: Skandinavier unterwegs in Europa, 1000-1250. Untersuchungen zu Mobilität und Kulturtransfer auf prosopographischer Grundlage (= Europa im Mittelalter; 8) Berlin 2006.

[2] Volker Scior: Das Eigene und das Fremde. Identität und Fremdheit in den Chroniken Adams von Bremen, Helmolds von Bosau und Arnolds von Lübeck (= Orbis medieavalis; 4), Berlin 2002.

[3] David Fraesdorff: Der barbarische Norden. Vorstellungen und Fremdheitskategorien bei Rimbert, Thietmar von Merseburg, Adam von Bremen und Helmold von Bosau (= Orbis mediaevalis; 5) Berlin 2005.

[4] Carla Meyer / Christoph Dartmann: Einleitung, in: Identität und Krise? Zur Deutung vormoderner Selbst-, Welt- und Fremderfahrungen (= Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme; 17), hg. von Carla Meyer / Christoph Dartmann, Münster 2008, 9f. und 22; Lars Boje Mortensen: Sanctified Beginnings and Mythpoietic Moments. The First Wave of Writing on the Past in Norway, Denmark, an Hungary, c. 1000-1230, in: The Making of Christian Myths in the Periphery of Latin Christendom (c. 1000-1300), hg. von Lars Boje Mortensen, Kopenhagen 2006, 247-273.

Rezension über:

Thomas Foerster: Vergleich und Identität. Selbst- und Fremddeutung im Norden des hochmittelalterlichen Europa (= Europa im Mittelalter; Bd. 14), Berlin: Akademie Verlag 2009, 228 S., ISBN 978-3-05-004613-6, EUR 59,80

Rezension von:
Georg Jostkleigrewe
SFB 496, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Empfohlene Zitierweise:
Georg Jostkleigrewe: Rezension von: Thomas Foerster: Vergleich und Identität. Selbst- und Fremddeutung im Norden des hochmittelalterlichen Europa, Berlin: Akademie Verlag 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 4 [15.04.2010], URL: https://www.sehepunkte.de/2010/04/16498.html


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