sehepunkte 10 (2010), Nr. 4

Eckhard Trox / Ralf Meindl (Hgg.): Preußen - Aufbruch in den Westen

Die 'Borussia' mag im östlichen Ruhrgebiet, einem Teil der ehemaligen preußischen Grafschaft Mark, in aller Munde sein, doch dürfte sich das Wissen um die historischen Wurzeln dieses Begriffs im allgemeinen Geschichtsbewusstsein in Grenzen halten. Der Anfall von Kleve-Mark-Ravensberg an Brandenburg im Jahre 1609 war daher Anlass, vierhundert Jahre später unter dem Titel 'Wir sind Preußen' dessen Spuren im Westen und damit auch den Anfängen des 'Bindestrichlandes' Nordrhein-Westfalen nachzuspüren. Begangen wurde dieses Jubiläum unter anderem mit einer Ausstellung des Vereins für die Geschichte Preußens und der Grafschaft Mark im Geschichtsmuseum der Stadt Lüdenscheid, zu der ein umfangreicher Katalog erschienen ist.

Entstehung und Entwicklung der brandenburgischen Erbfolge in der Mark beschreibt Michael Kaiser im ersten Aufsatz dieses Bandes. Abseits der traditionellen Dichotomie von Fürst und Ständen zeichnet er das Bild einer Landschaft, in der der Landesherr - angesichts einer verworrenen politischen und militärischen Situation - seine Herrschaft kaum zur Geltung bringen konnte. Adel und Städte bemühten sich in schwierigen Zeiten um Schutz und Schirm des Landes und erprobten dabei auch ungewohnte Wege der Selbstorganisation. Dass ein solches Vorgehen nicht offensiv gegen die eigentliche Landesherrschaft gerichtet war, ist ebenso Teil der vielschichtigen Realität im Dreißigjährigen Krieg wie das eifrige Bemühen der Kurfürsten nach Friedensschluss, die Stände von solchen Selbständigkeiten wieder abzubringen.

Den Schritt ins 18. Jahrhundert geht dann Johannes Bracht mit einem Beitrag über die Reise Friedrich Wilhelms II. in den preußischen Westen im Jahre 1788. Das Besuchsprogramm und die königlichen Reaktionen auf die präsentierten Manufakturen und geplanten Großprojekte erlauben Einblicke in konkretes Herrschaftshandeln und eröffnen allgemeine Perspektiven auf das Funktionieren von vormoderner Herrschaft. Wenn der König in drei Tagen durch die Grafschaft eilte, überall den solennen Ereignissen inklusive Aufmärschen, Ehrengaben und Festessen beiwohnte und dann noch ein Besichtigungsprogramm mit steten Bitten nach Geld und Gunst zu absolvieren hatte, dann stellt sich die Frage, wie intensiv denn überhaupt eine Beschäftigung des Herrschers mit Land und Leuten ausfallen konnte. Die mageren Ergebnisse der Reise scheinen für eine Unzeitgemäßheit einer solchen 'Reiseherrschaft' zu sprechen, auch wenn der Besuch ihres Königs für die Märker, die bis dato wenig Aufmerksamkeit seitens des preußischen Herrscherhauses genossen hatten, sicherlich integrierend wirkte.

Zwei speziellen Personengruppen widmen sich dann die folgenden Aufsätze. Ein Desiderat füllt Oliver Schulz mit seinem Beitrag über den Adel der Grafschaft Mark um 1800, hat dieser doch nur selten das Interesse der Forschung auf sich gezogen. Die dortigen Familien liegen zwar nicht gänzlich im Dunkel der Historiographie, können aber keine strukturierte Gesamtbetrachtung vorweisen. Einen solchen Ansatz liefert Schulz mit kurzen Blicken auf klassische adelige Themen von Grundherrschaft bis Militär, ergänzt um adeliges Unternehmertum in Bergbau und Industrie sowie die Rolle des Adels unter der napoleonischen Herrschaft. Es entsteht ein vielschichtiges Bild, für dessen zukünftige Ausgestaltung hier ein wichtiger Markstein gesetzt wird. Zwei Vertreter dieses Adels beleuchten Eckhard Trox und Ralf Meindl genauer, nämlich Carl von Bodelschwingh und Heinrich Wilhelm von Holtzbrinck, beide als Minister in der Reichsgründungsära tätig und als solche dem konservativen Milieu zugehörig. Betont antifeudal war dagegen die Gruppe der Forty-Eighters eingestellt, die Jörg Endris Behrendt näher beleuchtet, märkische Repräsentanten der 1848er Revolution, die später in den USA politisch aktiv wurden.

Auf diese erste Hälfte des Buches folgen fünf Aufsätze, die sich weniger mit historischen Ereignissen oder Personen befassen als vielmehr mit der Konstruktion von märkischer Geschichte, sozusagen einer musealen Kernkompetenz, der mit diesem Katalog im besten Sinne Rechnung getragen wird. Eckhard Trox untersucht in zwei Beiträgen die Jubiläen der 250- bzw. 300-jährigen Zugehörigkeit der Mark zu Preußen in den Jahren 1859 und 1909, Ralf Blank und Stefanie Marra beleuchten die bürgerliche Gedenkkultur in der Mark im 19. und 20. Jahrhundert und Julia Wallentin widmet sich der Inszenierung des 'Tages von Potsdam' 1933 in der märkischen Provinz wie auch Trümmerbildern als einer besonderen Ausdrucksform von Erinnerungskultur.

So rangen Adel und Bürgertum in der Mark mit großem Eifer um ihren Einfluss auf die Jubiläumsfeierlichkeiten des Jahres 1859, ging es für die eine Seite doch um eine Bekräftigung des erodierenden Ständestaates, für die andere Seite aber um die Propagierung eines deutschen Nationalstaates unter preußischer Führung. Der Übergang der Grafschaft Mark an Brandenburg konnte also als Erinnerungsfolie für konservative wie für liberale Gesellschaftskonzeptionen dienen. Grundsätzlich war das im Jahre 1909 nicht anders, wenn hier auch die Bruchlinien zwischen dem agrarisch geprägten Sauerland und dem industriellen Ruhrgebiet verliefen, dessen Vertreter sich auf der ganzen Linie durchsetzen konnten. Nicht mehr alte Eliten, sondern das Wirtschaftsbürgertum drückte der Feier seinen Stempel auf, sichtbar etwa an der kaiserlichen Betonung der Bedeutung des Ruhrgebiets gleichauf mit dem traditionellen Ostelbien.

Doch nicht nur solche Jubiläumsfeiern bildeten den Kern der regionalen Erinnerungskultur, sondern auch Bauwerke wie Burg Altena oder die Hohensyburg, herausragende Gedenkorte neben einer Vielzahl von weiteren Denkmalbauten. Auch hier konkurrierten und überlagerten sich vielfältige Deutungsmuster zwischen regional und national, liberal und konservativ. Schließlich ergänzten in den 1930er Jahren auch nationalsozialistische Geschichtsbilder die regionale Erinnerungskultur. Sowohl die geplante Einrichtung eines Hitler-Zimmers auf Haus Busch als auch das regionale Begängnis des 'Tages von Potsdam' sollten Traditionslinien zwischen altem Preußen und neuem Regime ziehen. Die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges überstanden diese Geschichtsbilder so wenig wie die märkischen Städte, deren Zustand in den Trümmerbildern der unmittelbaren Nachkriegszeit die bittere Realität spiegelte und nicht mehr eine verklärte Vergangenheit.

Will man nach der Lektüre des Katalogs - die schon aufgrund der zahlreichen Bilder vergnüglich ist - der nicht explizit gestellten Frage nachgehen, was denn das Spezifische des preußischen Westens war, so fallen mehrere Aspekte auf: Erstens ist die große Bedeutung der wirtschaftlichen Aspekte von Bergbau und Industrie zu nennen, die im Ruhrgebiet als der sprichwörtlichen Industrieregion Deutschlands gipfeln sollte, aber schon seit Beginn der brandenburgisch-preußischen Herrschaft präsent war. Eng damit verbunden sind zweitens die daraus resultierenden sozialen Entwicklungen, die nicht nur den Adel zum Unternehmer machten, sondern gerade auch dem Wirtschaftsbürgertum einen Aufstieg zur führenden Elite der Region ermöglichten. Und drittens steht die Frage nach dem Verhältnis von Zentrale und Peripherie im Raum, musste sich die Mark doch oft um das Interesse der Hohenzollernherrscher bemühen, deren Augenmerk lange Zeit vorwiegend dem brandenburgisch-preußischen Osten galt. Dass gerade das Geschichtsmuseum der Stadt Lüdenscheid, sicherlich keiner der großmusealen Ausstellungsorte des Landes, einen solch gelungenen Blick auf das Thema wirft, verdient großes Lob und weiß in seiner gedruckten Form als Katalog uneingeschränkt zu gefallen.

Rezension über:

Eckhard Trox / Ralf Meindl (Hgg.): Preußen - Aufbruch in den Westen. Geschichte und Erinnerung - die Grafschaft Mark zwischen 1609 und 2009 (= Forschungen zur Geschichte Preußens im südlichen Westfalen; Bd. 8), Lüdenscheid: Stadt Lüdenscheid 2009, 287 S., ISBN 978-3-929614-54-1, EUR 19,90

Rezension von:
Bastian Gillner
Marburg/L.
Empfohlene Zitierweise:
Bastian Gillner: Rezension von: Eckhard Trox / Ralf Meindl (Hgg.): Preußen - Aufbruch in den Westen. Geschichte und Erinnerung - die Grafschaft Mark zwischen 1609 und 2009, Lüdenscheid: Stadt Lüdenscheid 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 4 [15.04.2010], URL: https://www.sehepunkte.de/2010/04/17366.html


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