sehepunkte 10 (2010), Nr. 11

Pit Péporté / Sonja Kmec / Benoît Majerus u.a.: Inventing Luxembourg

Trotz der Neubildung zahlreicher Nationalstaaten nach dem Zerfall der Sowjetunion ist die Entstehung kleiner Nationen in Europa bislang eher ein Randthema der internationalen Geschichtsschreibung. Dies gilt auch für ältere Nationen, wie Luxemburg, dessen Nationsbildung allzu lange lediglich Gegenstand eines innerluxemburgischen Spezialdiskurses gewesen ist. Auch der im Laufe des Zweiten Weltkriegs gescheiterte Versuch der nationalsozialistischen "Zivilverwaltung" Luxemburgs, den Großteil der Bevölkerung zwangsweise in die deutsche "Volksgemeinschaft" zu integrieren, ist vor allem im kulturellen Gedächtnis der Luxemburger lebendig. Bei ihren Nachbarn wird er dagegen kaum thematisiert. Die historische Luxemburgforschung wiederum trat bis in die jüngere Vergangenheit vielfach selbst als Akteur der luxemburgischen Nationsbildung auf. Hier bedeutet das vorliegende Buch eine radikale Wende. In hinreichender Distanz zu seinem Gegenstand analysiert es die "Erfindung" der luxemburgischen Nation durch Repräsentationen von Geschichte, Raum und Sprache.

Der erste Teil der Studie untersucht die Konstruktion nationaler Identität durch die Geschichtsschreibung. Autorin und Autoren arbeiten dabei einen Verlaufsprozess heraus, der sich in das Drei-Stufen-Schema einordnen lässt, das Miroslav Hroch vorgeschlagen hat: Nationsbildung (1) als Diskurs vereinzelter Gelehrter, (2) als Diskurs einer politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Elite und (3) als Massenbewegung. Maßgeblich für die Konstruktion der luxemburgischen Nation war eine von wenigen Autoren geprägte Deutung der luxemburgischen Geschichte, die das 1815 neu gegründete Großherzogtum und seine Dynastie in die Tradition der mittelalterlichen Grafschaft Luxemburg stellte. Diese Tradition sei durch eine vier Jahrhunderte andauernde Epoche der "Fremdherrschaft" von Burgundern, Habsburgern und Bourbonen sowie des revolutionären Frankreichs unterbrochen worden. Im Zentrum dieses zunächst von einer konservativ-liberalen, seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert von einer konservativ-katholischen Elite getragenen Narrativs stand die Loyalität zum Herrscherhaus. Erst die zunehmende Verwissenschaftlichung der luxemburgischen Geschichtsschreibung seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ermöglichte eine allmähliche Dekonstruktion dieser Geschichtsdeutung.

Der zweite Teil untersucht die Beziehung von Gesellschaft und Raum bei der Konstruktion der luxemburgischen Nation. Dabei werden zunächst die Tendenzen einer Konzentration dieser Debatten auf das Territorium des heutigen Großherzogtums herausgearbeitet. Dem gegenüber stehen die jüngeren, eher zentrifugalen Tendenzen, die sich beispielsweise in der Herausbildung einer europäischen Großregion rund um Luxemburg manifestieren. In der Darstellung werden die Etappen der vielschichtigen gesellschaftlichen Konstruktionen eines "Raumes Luxemburg" deutlich: die besondere Stellung des Herzogtums Luxemburg im Rahmen der burgundisch-habsburgischen Niederlande, oder auch die Repräsentation Luxemburgs in frühneuzeitlichen kartographischen Darstellungen sowie die Konstruktion von geographischen Geschichtsmythen, wie zum Beispiel die so genannte "Barriere der Ardennen". Die partielle Nähe einzelner Teilnehmer dieser Debatten zur so genannten "Westforschung" wird ebenso herausgearbeitet wie die völkischen Argumentationsmuster, die als ideologische Vorbereitung der NS-Besatzungspolitik im Zweiten Weltkrieg dienten. Klar wird, dass die lange virulenten Geschichtsmythen auch hinsichtlich der Raumentwicklung durch die jüngere Forschung dekonstruiert wurden.

Der dritte Teil beleuchtet die Entwicklung der luxemburgischen Sprache von einem deutschen Dialekt zur Nationalsprache. Kennzeichnend für diesen Vorgang war nicht die Definition einer regionalen Variante als Standard, sondern das Verhältnis des Luxemburgischen zum Französischen und Deutschen, die bis heute als Schrift-, Verwaltungs- und Verkehrssprachen mit der Nationalsprache konkurrieren. Erst als die regierende Dynastie und die politischen Eliten das Luxemburgische zu gebrauchen begannen, wurde es zur Nationalsprache. Dass die NS-Zivilverwaltung während des Zweiten Weltkriegs im Anschluss an die "Westforschung" darauf beharrte, dass das Luxemburgische noch immer ein deutscher Dialekt sei, gab der Verknüpfung von luxemburgischer Sprache und Nationsbildung einen weiteren starken Impuls. In jüngerer Zeit schließlich stärkten die vielfältigen Eingriffe des luxemburgischen Staates in den Standardisierungsprozess des Luxemburgischen die junge Nationalsprache gegenüber dem angesichts zahlreicher Einwanderer und Grenzgänger gewachsenen Einfluss des Französischen. Kennzeichnend für die autochthonen Luxemburger und die zahlreichen Immigranten der zweiten und dritten Generation ist freilich weniger die Identifikation mit ihrer Nationalsprache als ihre Mehrsprachigkeit.

Gewisse Schwächen weist "Inventing Luxemburg" bei der allgemeinhistorischen Einordnung auf. So versäumen es die Autorin und die Autoren, ältere Deutungen von § 67 der Schlussakte des Wiener Kongresses richtig zu stellen, denen zufolge das Großherzogtum Luxemburg König Wilhelm I. der Niederlande als "Privatbesitz" überlassen worden sei (176). Falsch ist die Aussage, die deutsche Nationalversammlung von 1848 sei das "Parliament of the German Confederation" gewesen (255). Irritierend ist, dass die breite Forschungsdiskussion um den Nationsbegriff nicht einmal angedeutet und der zentrale analytische Fachterminus der Untersuchung, "Nation", nicht bereits in der Einleitung definiert wird. Erst im Schlussteil präsentieren die Autorin und ihre Mitautoren ihren Begriff von "Nation" als eines Gedankensystems sozialer und politischer Akteure, als Vorstellung und vorgestellte Einheit, die menschliche Kollektive kulturelle repräsentiere, integrative wie ausschließende Funktionen habe und der politischen und kulturellen Legitimation von Verwaltungshandeln diene (338). Damit scheinen sie einen radikal-konstruktivistischen Standpunkt zu beziehen, worauf bereits der auf Hobsbawm verweisende Titel hindeutet. Am Ende des Buches rücken sie freilich wieder davon ab, indem sie auf sozio-ökonomische Forschungsperspektiven der luxemburgischen Nationsbildung verweisen (345).

Die späte Einführung des zentralen Begriffs ihrer Untersuchung und dessen nicht völlig stringenter Gebrauch schmälern freilich die Leistung der Autorin und der Autoren ebenso wenig wie die Schwächen bei der historischen Kontextualisierung, die "Inventing Luxemburg" vereinzelt aufweist. So sind wichtige neue Quellenfunde gelungen. Der bedeutendste ist ein Pamphlet, das im Zusammenhang mit der Brabanter Revolution von 1789 entstand und erstmals von einer "luxemburgischen Nation" spricht. Dass damit eine Nation im modernen Sinne gemeint ist, zeigt die Verbindung dieses Begriffs mit der Volkssouveränität (150). Vor allem aber ist die konsequente Analyse der Konstruktion der luxemburgischen Nation auf den drei ausgewählten Untersuchungsebenen eine imponierende Leistung. Die historische Luxemburgforschung beteiligt sich seit zwei Jahrzehnten im Bereich der mittelalterlichen und der Städtegeschichte, in der Geschichte der ländlichen Gesellschaft und der europäischen Integration an den internationalen Forschungsdebatten. Mit "Inventing Luxemburg" gilt dies auch für die Erforschung von Nationsbildungen.

Rezension über:

Pit Péporté / Sonja Kmec / Benoît Majerus u.a.: Inventing Luxembourg. Representations of the Past, Space and Language from the Nineteenth to the Twenty-First Century (= National Cultivation of Culture; Vol. 1), Leiden / Boston: Brill 2010, XII + 383 S., ISBN 978-90-04-18176-2, EUR 99,00

Rezension von:
Norbert Franz
Fachbereich III, Universität Trier
Empfohlene Zitierweise:
Norbert Franz: Rezension von: Pit Péporté / Sonja Kmec / Benoît Majerus u.a.: Inventing Luxembourg. Representations of the Past, Space and Language from the Nineteenth to the Twenty-First Century, Leiden / Boston: Brill 2010, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 11 [15.11.2010], URL: https://www.sehepunkte.de/2010/11/17942.html


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