sehepunkte 10 (2010), Nr. 11

Jana Osterkamp: Verfassungsgerichtsbarkeit in der Tschechoslowakei (1920-1939)

Mit dieser gründlichen Untersuchung der Geschichte des tschechoslowakischen Verfassungsgerichts in der Zwischenkriegszeit hat Jana Osterkamp eine überaus notwendige Pionierarbeit zur Schließung einer großen Forschungslücke geleistet, denn in der Geschichtsschreibung zur Ersten Tschechoslowakischen Republik hat man bisher dem Verfassungsgericht, wie überhaupt dem Wirken der Justiz, wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Man könnte einwenden, dass das Verfassungsgericht eine durchaus periphere Einrichtung gewesen sei, die wenig Einfluss hatte und von 1931 bis 1938 völlig ausgeschaltet war. Durch die sorgfältige Darstellung der vielen Auseinandersetzungen um die Prinzipien und Realisierung einer tschechoslowakischen Verfassungsgerichtbarkeit gelingt es aber Osterkamp, viel Neues und Wichtiges nicht nur über das Gericht als solches, sondern auch über das Demokratie- und Rechtsverständnis der tschechoslowakischen Juristen und Politiker tschechischer und deutscher Provenienz, die das Wirken des Gerichts und die Verfassungsorgane unterstützten oder kritisierten, zu Tage zu fördern. Es gelingt der Verfasserin zugleich, dieses Geschehen mit parallelen Entwicklungen in Österreich und Deutschland zu vergleichen und in eine historische Perspektive zu setzen, wodurch Kontinuitäten im tschechischen Rechtsdenken trotz des proklamierten radikalen Bruches mit dem Erbe des Habsburgerreiches im Jahre 1918 deutlich werden.

Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil, "Das Verfassungsgericht zwischen Recht und Politik", wird die das Verfassungsgericht etablierende Gesetzgebung, die Bestellung der (fast ausschließlich tschechischen) Verfassungsrichter, das Maß an institutioneller Unabhängigkeit, das Verfahren vor dem Gericht und nicht zuletzt seine Zuständigkeiten analysiert. Es wird dargelegt, wie das Verfassungsgerichtsgesetz einen sehr engen Spielraum für die Gesetzeskontrolle des Gerichts festlegte, indem dieses nur auf Anträge aus einem kleinen Kreis von Antragsberechtigten reagieren konnte (von Amts wegen konnte das Gericht nur vorläufige Verfügungen des sogenannten "Ständigen Ausschusses" des Parlaments überprüfen). Da das Parlament nie einen Normenkontrollantrag vorgelegt hat und die obersten Gerichte dies erst im Jahr 1936 taten, war das Verfassungsgericht schon aus strukturellen Gründen zur Passivität verurteilt. Deshalb blieben auch wichtige Diskussionen über seine Prüfungskompetenz und die ex nunc oder ex tunc-Wirkung negativer Verfassungsgerichtsentscheidungen reine Theorie.

Seiner geringen Aktivität ungeachtet sorgten die führenden tschechoslowakischen Parteien dafür, dass das Verfassungsgericht nach Ablauf der ersten Funktionsperiode 1931 sieben Jahre lang nicht neubesetzt wurde. Osterkamp weist nach, dass zunächst parteipolitische Streitigkeiten über mögliche Kandidaten dazu beitrugen; nach 1933 spielte aber der Wille der Regierung, in großem Maßstab Ermächtigungsgesetze anzuwenden, eine entscheidende Rolle. In seiner ersten und wichtigsten Entscheidung hatte nämlich das Verfassungsgericht 1922 die Übertragung gesetzgeberischer Kompetenzen auf die Regierung für verfassungswidrig erklärt. Dieses Thema wird intensiv im zweiten Teil des Buches, "Verfassungsgerichtsbarkeit und Ermächtigungsgesetze", mit Hinblick sowohl auf die Verfassungskontrolle bis zum Untergang des Staates 1938-39 als auch auf die lebhaften Diskussionen zwischen Befürwortern und Gegnern der Ermächtigungsgesetze behandelt. Osterkamp diskutiert auch die Frage, warum keine Stellungnahme zu Grund- und besonders Nationalitätenrechten erfolgte, und verbindet sie unter anderem mit dem grundsätzlich liberalen, auf individuelle Gleichheit beruhenden Verständnis von Bürgerrechten (hier hätte man sich eine Auseinandersetzung mit den Arbeiten Tara Zahras [1], die zu anderen Ergebnissen kommt, wünschen können).

Die Versuche diverser Kritiker der tschechoslowakischen Verfassungsordnung, diese Lücke gesetzlich zu füllen, werden im dritten Teil, "Verfassungsgerichtbarkeit und Nationalitätenproblem", behandelt. Der Schwerpunkt liegt auf den von der Sudetendeutschen Partei vorgeschlagenen, antidemokratischen und antiliberalen "Volksschutzgesetzen" und auf den Vorstudien dazu, die seit den späten 1920er Jahren von deutschen Juristen geschrieben worden waren. Obwohl sie immer bei ihrem rechtsgeschichtlichen Fokus bleibt, behandelt die Verfasserin hier auch die politischen Verhandlungen über eine Föderalisierung des Staates und die damit verbundenen Vorschläge zur Änderung der Befugnisse des Verfassungsgerichts bis zum Zusammenbruch der Ersten und kurz danach auch der Zweiten Republik. In einem kurzen Epilog wird die weitere Entwicklung der Verfassungsgerichtbarkeit in der Tschechoslowakei und ihren Nachfolgestaaten bis heute umrissen.

Leider hat Osterkamp einen Erzählstil gewählt, der nur für Eingeweihte problemlos zugänglich ist. Stets wird vorausgesetzt, dass der Leser sowohl mit juridischen Begrifflichkeiten als auch mit dem Hintergrund und den Haltungen Dutzender ohne jede Einführung auftretender tschechischer und deutscher Staatsrechtler intim vertraut ist. Wer aber nicht im Voraus Hans Kelsens "Reine Rechtslehre" und Jiřί Hoetzels und František Weyrs Haltungen dazu kennt, wird die Diskussion zur Rolle dieser beiden Juristen bei der Konstituierung des Verfassungsgerichts kaum verstehen können. Kurzbiographien zu den wichtigsten Akteuren (nur Karel Baxa und Jaroslav Krejčί werden portraitiert - die Schilderung von Krejčίs juridischer und politischer Entwicklung ist übrigens hervorragend) hätten hier wahre Wunder gewirkt. Auch werden zu oft eigentlich interessante Beobachtungen und Schlussfolgerungen eher angedeutet als erklärt und belegt. Osterkamp behauptet zum Beispiel mehrmals, dass die Richter des Obersten Verwaltungsgerichts eine größere Rechtsstaatlichkeits- und Grundrechtssensibilität als die Richter des Obersten Gerichts innegehabt hatten (22, 193); warum dies der Fall sei, wird aber nie erklärt. Diese hermetische Darstellungsform ärgert umso mehr, als die Arbeit auch außerhalb rein rechtshistorischer Zusammenhänge sehr viel anzubieten hat.


Anmerkung:

[1] Tara Zahra: Reclaiming Children for the Nation: Germanization, National Ascription, and Democracy in the Bohemian Lands, 1900-1945, in: Central European History 37 (2004), 501-543. Erst nach der Verteidigung von Osterkamps Dissertation erschien von derselben Autorin: Kidnapped Souls: National Indifference and the Battle for Children in the Bohemian Lands. 1900-1948, Ithaca 2008.

Rezension über:

Jana Osterkamp: Verfassungsgerichtsbarkeit in der Tschechoslowakei (1920-1939). Verfassungsidee - Demokratieverständnis - Nationalitätenproblem (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte; Bd. 243), Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2009, X + 310 S., ISBN 978-3-465-04073-6, EUR 79,00

Rezension von:
Peter Bugge
Institut for Historie og Områdestudier, Aarhus Universitet
Empfohlene Zitierweise:
Peter Bugge: Rezension von: Jana Osterkamp: Verfassungsgerichtsbarkeit in der Tschechoslowakei (1920-1939). Verfassungsidee - Demokratieverständnis - Nationalitätenproblem, Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 11 [15.11.2010], URL: https://www.sehepunkte.de/2010/11/19041.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.