sehepunkte 11 (2011), Nr. 2

Edmund de Waal: The Hare with Amber Eyes

Zugegeben: Das ist kein wissenschaftliches Buch mit monumentalem Fußnoten- und Literaturapparat wie üblicherweise in den sehepunkten, es ist keine Dokumentenedition, es ist noch nicht mal die Autobiographie eines Politikers oder das Tagebuch eines Schriftstellers. Geschrieben hat es ein Töpfer aus London. Warum es trotzdem einen Platz in den sehepunkten haben sollte? Weil es von einem enormen Forschungsaufwand zeugt. Weil es anhand der Geschichte einer Familie Kultur-, Literatur-, Kunst- und Architekturgeschichte zu einem großen Panorama verwebt. Weil es sich liest wie jüdische "Buddenbrooks" mit ein bisschen Stefan Zweigs "Welt von Gestern" und Vladimir Nabokovs "Sprich, Erinnerung". Weil es Bestand haben wird, wenn andere mit billigen publicity stunts und lautem medialen Getöse lancierte Bücher längst von der Bildfläche verschwunden sind. Weil es eines der schönsten Bücher des Jahres 2010 ist.

Der Ausgangspunkt ist denkbar einfach: Der Autor erbt von seinem Großonkel eine Sammlung Japonica, sogenannte Netsuke, 264 aus Elfenbein geschnitzte Miniaturen, jede nicht größer als eine Streichholzschachtel, von deren Provenienzgeschichte das Buch handelt. Eine von ihnen, der Hase mit den Bernsteinaugen, gibt dem Buch den Namen. Die Recherchen führen den Autor nach Paris, Wien, Odessa und Tokyo, in Bibliotheken, Archive und Gemäldesammlungen.

Der erste Besitzer der Netsuke war der Kunstsammler Charles Baron Ephrussi, der 1849 in Odessa geboren wurde und 1905 in Paris starb. So wie die Rothschilds einst als "les Rois des Juifs" bekannt waren, so waren die Ephrussis als Getreideexporteure "les Rois du Blé" (24). Die in Paris und Wien ansässigen Familienzweige bauten zunächst standesgemäße Häuser in repräsentativen Straßen: das Hôtel Ephrussi in der rue de Monceau in Paris und das noch größere Palais Ephrussi in der Ringstraße in Wien, ebenso angemessene Ferienhäuser wie das Chalet Ephrussi am Vierwaldstättersee oder die Villa Ephrussi de Rothschild - ja, ein Ephrussi heiratete schließlich eine de Rothschild - an der Côte d'Azur. Während seines "Wanderjahres", einer "Grand Tour", entdeckte Charles seine Sammelleidenschaft. Als Kunsthistoriker (er verfasste eine Studie zu Albrecht Dürer und schrieb für die "Gazette des Beaux-Arts", deren Herausgeber er war) verfeinerten sich sein Geschmack und Urteilsvermögen laufend. Gemeinsam begeisterten sich Charles und seine Geliebte Louise Cahen d'Anvers für japanische Kunst - kein Wunder, da dem Orientalismus und der Exotik Japans um diese Zeit fast alle Kreativen und die oberen Zehntausend in Paris verfallen waren: Seien es Künstler wie Degas, Manet, Monet oder Schriftsteller wie de Goncourt und Zola. In die Kunstgeschichte ging Charles als Förderer der Impressionisten ein: Sein Privatsekretär, der französische Dichter Jules Laforgue (1860-1887), der dank dessen Vermittlung Vorleser der Ehefrau Augusta des deutschen Kaisers Wilhelm I. in Berlin wurde, beschrieb in einem enthusiatischen Brief die Gemälde der Impressionisten Sisley, Pissarro, Monet, Renoir, Degas, Berthe Morisot und Mary Cassatt, die die Räume von Charles Wohnung zierten. (67) Von Manet kaufte der Mäzen ein Stilleben mit einem Bund Spargel, für das dieser den stolzen Preis von 800 Francs verlangte. Charles, der das Gemälde unbedingt wollte, schickte ihm 1000 Francs. Eine Woche später schenkte ihm Manet ein kleines Bild von einem einzigen Spargel und der Notiz, dieser sei wohl aus dem Bündel herausgefallen. Marcel Proust benutzte die Geschichte ebenso wie die Protagonisten: Er verlieh dem Sammler Charles Swann aus der "Suche nach der verlorenen Zeit" u.a. auch die Züge des Dandys, Autors und Sammlers Charles Baron Ephrussi und ließ den Duc de Guermantes von dem Bild des fiktiven Malers Elstir (inspiriert von James Whistler und Renoir) erzählen und sich über Motiv und Preis echauffieren: "Swann hatte tatsächlich die Stirn, uns zum Kauf eines Spargelbundes zu raten." (76) Heute sind der Spargelbund im Wallraf-Richartz-Museum in Köln, der einzelne Spargel im Musée d'Orsay zu sehen. Aber Charles Ephrussi wurde nicht nur in der Literatur, sondern auch in der bildenden Kunst verewigt: Renoir malte ihn im Gruppenportrait "Le Déjeuner des canotiers" (Frühstück der Ruderer) ins Gespräch mit Jules Laforgue vertieft. Um dem stets klammen Renoir zu helfen, brachte Charles seine Verwandten und Bekannten dazu, sich von Renoir malen zu lassen, so dass auch viele seiner Bekannten und Freunde in Gemälden wiederzufinden sind, die heute die Kunstmuseen in der ganzen Welt bereichern: die Bilder der Töchter seiner Geliebten Louise Cahen d'Anvers, Irène sowie Alice und Elisabeth, sind für die Nachwelt in Zürich und Sao Paulo erhalten geblieben, Elisabeth Cahen d'Anvers selbst aber wurde 1944 in Auschwitz ermordet.

Der Autor konstatiert: "The lives of my family in Vienna were refracted into books, [...]. The dislike of the Ephrussi keeps turning up in novels."(151) Und in der Tat, als wäre es nicht mit Marcel Proust schon genug, so lässt auch Joseph Roth einen Efrussi im "Spinnennetz" als reichen Juwelier auftauchen. Hauptmann Trotta, der Held von Solferino im "Radetzkymarsch", hat sein Geld selbstverständlich "angelegt im Bankhaus Efrussi zu Wien".[1] Der Schriftsteller Isaak Babel gerät im Zuge seiner Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium mit dem Odessaer Familienzweig aneinander: "Chariton Ephrussi, der Getreidehändler, der Weizen nach Marseille exportierte, gab für seinen Sohn fünfhundert Rubel an Bestechungsgeldern aus [...] und an meiner Stelle wurde der kleine Ephrussi ins Gymnasium aufgenommen."[2] Theodor Herzl beschimpfte die Ephrussis als "Spekulanten" (91). Der Schriftsteller und Tagebuchautor Edmond de Goncourt empfand Charles als schlecht erzogen und unerträglich, Edouard Drumont, Antisemit vom Dienst, mokierte sich in "La France Juive" über die Familie.

Die Sammlung der 264 Netsuke trat indes 1899 als Hochzeitsgeschenk für den Bankier (wider Willen) Viktor von Ephrussi und seine Braut Emmy Schey von Koromla die Reise nach Wien an, wo seit 1897 Dr. Karl Lueger mit seiner antisemitischen christlichsozialen Partei als Bürgermeister regierte. Bitterer Hohn ist es, dass sich das Palais Ephrussi heute am nach Karl Lueger benannten Teil des Rings befindet. Obwohl die Wiener Ephrussis nicht ganz so kunstsinnig waren wie der Pariser Zweig, wurden auch sie vom Architekten der Sezession, Joseph Olbrich, porträtiert. In Wien mutierten die Netsuke von Kunstwerken zu Spielsachen, mit denen sich die Kinder im Ankleidezimmer der Mutter beschäftigten, während diese sich von ihrer Zofe Anna in opulente Roben einnähen ließ. Das beginnende 20. Jahrhundert bot neue Chancen - die 1899 geborene älteste Tochter Elisabeth (und Großmutter des Autors) legte als Externe ihr Abitur 1918 am berühmten Schottengymnasium ab, studierte an der nur wenige hundert Meter entfernten Universität und korrespondierte als junge Frau sogar mit Rainer Maria Rilke -, aber es hielt auch ungeahnten Terror bereit. Durch die Ringstraße schlich schon der junge Adolf Hitler, bewunderte Oper und Parlament, rühmte deren architektonischen Errungenschaft als "Zauber aus Tausend und einer Nacht" (Mein Kampf, I. Band, 2. Kapitel) - und nährte seinen Hass gegen die Juden.

Als das "lange 19. Jahrhundert" endete, kam auch die Welt der Ephrussis in vieler Hinsicht zu einem Ende. Was der Erste Weltkrieg (und seine Nachwirkungen) bedeuteten, fasst der Autor in wenigen Sätzen zusammen: "There is a bank to run, something that is difficult when you are at war with France (Ephrussi et Cie, rue de l'Arcade, Paris 8), England (Ephrussi and Co., King Street, London) and Russia (Efrussi, Petrograd)." (182) Zwar war die Familie durch den Krieg nicht ruiniert, doch ihre gesellschaftliche Situation war unendlich prekärer geworden, bis der "Anschluss" ihr Leben in Österreich völlig verunmöglichte.

Schon anlässlich der Vereinigung der "Ostmark" mit dem "Altreich" wird das Palais Ephrussi von Nazis überfallen, verwüstet und geplündert. Einen Monat später kam die Gestapo, verhaftete Viktor und den jüngsten Sohn Rudolf und zwang sie, das Palais und sonstiges Eigentum dem Reich zu übereignen. Am 27.4.1938 war das Palais Ephrussi vollständig "arisiert". Listen von Kunstgegenständen, Möbeln, Büchern, Bildern wurden behördlicherseits erstellt, um die "Verwertung" in die Gänge zu leiten, auch das Dienstmädchen Anna wurde zum Packen der Kisten gezwungen. Das Kunsthistorische Museum, Galerien, Kunsthändler, Sammler, der RFSS ebenso wie die Nationalbibliothek bedienten sich aus der Sammlung Viktor V. Ephrussi. Am 12.8.1938 wurde das Bankhaus Ephrussi aus dem Handelsregister gelöscht. Die Ephrussis in Wien sind Geschichte. Der 78-jährige Viktor und die 58-jährige Emmy verließen mit je einem Koffer am 21. Mai 1938 mit einem Pass zur "einmaligen Ausreise nach CSR" ihre Heimat. Kurz nach dem Münchner Abkommen, als Hitler den Exilierten immer näher rückte, beging Emmy Selbstmord, Viktor floh nach Großbritannien zu seiner Tochter Elisabeth.

Am 8.12.1945 betrat Elisabeth sechseinhalb Jahre nach ihrem letzten Besuch wieder das Palais Ephrussi, nun American Headquarters/ Legal Council Property Control Sub-Section. Ein freundlicher amerikanischer Leutnant ließ eine alte Dame holen: Es war das Dienstmädchen Anna. Und Anna rettete in der Tat etwas: Die japanischen Netsuke, die sie Stück für Stück unter ihrer Schürze an der Gestapo vorbei in ihr Zimmer schmuggelte und in ihrer Matratze versteckte. Von Anna weiß der Autor nicht einmal ihren Nachnamen, anders als über die Ephrussis hat niemand über sie geschrieben, sie hinterließ keine Spuren in den Büchern von Schriftstellern, bei Kunsthändlern oder Schneidern. "I do not even know Anna's whole name, or what happened to her. I never thought to ask, when I could have asked. She was, simply, Anna." (283)

Elisabeth rang für den Rest der Familie um die Restitution des Vermögens - ein aussichtsloses Unterfangen. Die Netsuke überließ sie ihrem jüngeren Bruder Ignaz (Iggie), der 1947 nach Japan zog und sie schließlich dem Autor vererbte. Dieser stellt sie wieder in eine geöffnete Vitrine, damit auch seine Kinder mit ihnen spielen können wie die kleinen Ephrussis vor einhundert Jahren. Der Autor gesteht: "I no longer know if this book is about my family, or memory, or myself, or is still a book about small Japanese things." (342) Bei einem so phantastischen Buch wie diesem ist das herzlich egal.


Anmerkungen:

[1] Joseph Roth: Radetzkymarsch, Köln: Kiepenheuer&Witsch 1989, 22.

[2] Isaak Babel: Die Geschichte meines Taubenschlags, in: Geschichten aus Odessa. Autobiographische Erzählungen, München: dtv 1987, 10.

Rezension über:

Edmund de Waal: The Hare with Amber Eyes. A Hidden Inheritance, London: Random House 2010, 368 S., ISBN 978-0-701184179, GBP 16,99

Rezension von:
Edith Raim
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Edith Raim: Rezension von: Edmund de Waal: The Hare with Amber Eyes. A Hidden Inheritance, London: Random House 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 2 [15.02.2011], URL: https://www.sehepunkte.de/2011/02/19563.html


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