sehepunkte 11 (2011), Nr. 4

Rezension: Saul Friedländer und die Geschichtsschreibung zum jüdischen Leben im nationalsozialistischen Deutschland

Kaum ein historisches Buch wurde in den letzten Jahren derart als herausragendes Meisterwerk gefeiert und mit wichtigen Preisen ausgezeichnet wie Saul Friedländers zweibändiges großes Werk Das Dritte Reich und die Juden. [1] Seine "integrierte Geschichte" des Holocaust verwebt in einzigartiger Weise persönliche Quellen wie Tagebücher und Briefe mit historischer Analyse, er gibt den Opfern eine Stimme, zeigt eindringlich, was die antijüdischen Maßnahmen für die Betroffenen bedeuteten. Im zweiten, monumentalen Band unternimmt er dies für das gesamte unter deutschem Einfluss stehende Europa, wechselt virtuos nicht nur die Perspektiven, sondern auch die Schauplätze. [2] Das Buch ist ungeheuer bewegend, zugleich aber analytisch brillant. [3]

Nun ist in der beckschen reihe eine von Orna Kenan gekürzte und von Saul Friedländer autorisierte Fassung erschienen. Die mit gut 500 Seiten um rund 800 Seiten kürzere Version soll, so Orna Kenan im Vorwort, "nicht an die Stelle des Originals treten. Eher sollte sie den Leser dazu ermutigen, nach der ausführlichen Fassung zu greifen, die umfassender von dem Geschehen berichtet, es weitaus reicher dokumentiert und interpretiert, als es hier geschehen kann." (7)

Die beiden Einleitungen von Saul Friedländer werden in der vorliegenden Ausgabe durch ein Vorwort von Orna Kenan ersetzt. Ansonsten sind die Texte in der Tat sämtlich den beiden Bänden entnommen, teilweise mit Umformulierungen oder Umstellungen, die Kürzungen und Übergänge ermöglichen.

Dem Leser der zweibändigen Ausgabe fehlt notwendigerweise vieles - dies vermag kaum zu überraschen, wurde doch um mehr als die Hälfte gekürzt. Vom ersten Band, der die Jahre bis 1939 umfasst, bleiben in dieser Ausgabe nur noch 140 Seiten übrig. Liest man die Bücher nebeneinander, beginnt man rasch, in der gekürzten Version Themen und Personen zu vermissen. Auch wurde die Kapitelstruktur der ursprünglichen Bände verändert und im ersten Teil zugunsten einer knapperen Gliederung aufgebrochen [4], im zweiten teilweise unter erweiterter Benennung übernommen, teils leicht verändert (so wurde aus "September 1939 - Mai 1940" in der gekürzten Fassung "Polen unter deutscher Herrschaft: September 1939 - April 1940", wobei sämtliche chronologischen Kapitel von Januar 1942 an mit "Totale Vernichtung" überschrieben sind).

Trotz der Kürzungen gelingt es Kenan aber, die Art der Erzählung beizubehalten, hier geht es weiterhin um Menschen in ihrer Zeit, mit ihren Schicksalen und ihren eigenen Geschichten, hier wird trotz der immensen Kürzungen die Geschichte der Täter, der Opfer und Dritter ineinander verwoben präsentiert. Es ist zu hoffen, dass sich das Ziel Kenans erfüllt und sich viele der Leser der gekürzten Ausgabe davon angeregt entschließen, das zweibändige Original zur Hand zu nehmen.

Das monumentale Opus Saul Friedländers und dessen Forderung einer Geschichtsschreibung, die die Sicht der Opfer und ihre Reaktionen mit einbezieht, sind dezidierter Ausgangspunkt eines von Francis R. Nicosia und David Scrase herausgegebenen Sammelbands über jüdisches Leben im NS-Deutschland: "With this in mind, this volume builds on Friedländer's approach, with its focus on the Jewish victims of Nazi persecution in Germany." (2). Die Beiträge - sie beruhen auf einer Vorlesungsreihe des Center for Holocaust Studies der University of Vermont - nehmen also die Situation, die schwierigen Entscheidungen und die Reaktionen der Verfolgten im Deutschen Reich in den Blick.

Ausgewiesene Fachleute, die seit Jahren genau diesen Ansatz verfolgen, konnten dafür gewonnen werden: So untersucht Marion Kaplan, wie sich Familien und deren einzelne Mitglieder an die neue Situation anpassten und wie sich die bisherigen Rollen veränderten. Geschlecht und Alter hatten einen großen Einfluss auf die Überlebenschancen, denn aus verschiedenen Gründen waren es vor allem die jungen Männer, die frühzeitig emigrierten. Beate Meyer zeigt die Interpretationen und Möglichkeiten der führenden Mitglieder der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland von 1939 bis 1945 auf und unterteilt deren Handeln dabei in drei Phasen: Zwischen 1939 und Oktober 1941 waren die in die forcierte Emigration involviert [5], danach wurden sie bis zum Juni 1943 immer mehr zu einem Werkzeug von RSHA und Gestapo bei der Organisation der Deportationen, und vom Sommer 1943 an gab es die Reichsvereinigung offiziell nicht mehr, de facto arbeitete sie aber weiter, indem sie sich um die Belange der jüdischen Partner in "Mischehen" kümmerte, die noch im Reich lebten.

Saul Friedländer ist das Kind deutschsprachiger Juden aus Prag. Er hat den Holocaust überlebt, weil seine Eltern ihn in Frankreich in einem katholischen Kloster versteckten. Seine Eltern wurden in Auschwitz ermordet. [6] Mit Martin Broszat hat er Ende der 1988 darum gestritten, ob er, der Überlebende, die Geschichte des Holocaust erforschen könne. [7]

Im vorliegenden Sammelband ist ein weiterer jüdischer Historiker dieser Generation vertreten, der seit Jahrzehnten die Geschichte von Juden im Nationalsozialismus erforscht, der ebenfalls früh Fragen nach deren Reaktionen und Handlungsweisen gestellt hat. Und Avraham Barkai flicht in seinen Aufsatz über die jüdische Selbsthilfe in Nazi-Deutschland von 1933 bis 1939 auch seine persönlichen Erinnerungen mit ein. Er geht immer wieder auf seinen Weg als Forscher ein, in einem Teil über jüdische Hachscharah-Lager in Deutschland aber auch an seine Erinnerungen an die Nazi-Zeit. Ihm, dem in Berlin geborenen "Ostjuden", gelang es 1938 nach Palästina zu emigrieren. Kürzlich sind die Erinnerungen Avraham Barkais, der in einem Kibbuz im Norden Israels lebt, erschienen. [8]

So ist der zu besprechende Sammelband - in dem außerdem Aufsätze von Jürgen Matthäus über Versuche, gar nicht erst als Juden definiert zu werden und damit auch nicht unter die antijüdische Gesetzgebung zu fallen, von Francis R. Nicosia über Zionisten in Berlin, von Konrad Kwiet über das erzwungene Zusammenleben vor der Deportation in den sog. Judenhäusern und von Michael Brenner über jüdisches Theater und die Arbeiten jüdischer Historiker zwischen 1933 und 1939 zu finden sind - gewissermaßen mehrfach mit der Geschichtsschreibung Saul Friedländers verbunden.


Anmerkungen:

[1] Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden, Teil 1: Die Jahre der Verfolgung 1933-1939, Teil 2: Die Jahre der Vernichtung 1939-194, München 1998 und 2006. Eine Sonderausgabe in einem Band brachte der Verlag C.H. Beck 2007 heraus.

[2] Der Schwerpunkt liegt dabei aber eher auf Mittel- und Westeuropa. Zum Untergang der jüdischen Gemeinden im Osten siehe zuletzt Yehuda Bauer: The Death of the Shtetl, New Haven / London 2009.

[3] Da hier nicht die ursprünglichen beiden Bände besprochen werden, sei auf einer weitergehende Würdigung verzichtet.

[4] Um ein Beispiel zu nennen: Der Beginn des zweiten Kapitels der gekürzten Ausgabe "Der Geist der Gesetze. Januar 1934 - Februar 1936" (52) stellt in der ursprünglichen Fassung der Anfang des vierten Kapitels "Das neue Ghetto" (129) dar.

[5] Dieser Phase von 1939 bis Herbst 1941 ist ein Sammelband gewidmet, den Beate Meyer und Francis R. Nicosia mit herausgegeben haben und der ebenfalls die jüdischen Reaktionen untersucht. Susanne Heim / Francis R. Nicosia / Beate Meyer: "Wer bleibt, opfert seine Jahre, vielleicht sein Leben". Deutsche Juden 1938-1941, Göttingen 2010.

[6] In seinen Erinnerungen hat er seinen Lebensweg eindrucksvoll beschrieben. Saul Friedländer: Wenn die Erinnerung kommt, Stuttgart 1979.

[7] Martin Broszat / Saul Friedländer: Um die "Historisierung des Nationalsozialismus". Ein Briefwechsel, in: VfZ 36 (1988), 339-372.

[8] Avraham Barkai: Erlebtes und Gedachtes. Erinnerungen eines unabhängigen Historikers, Göttingen 2011.

Rezension über:

Saul Friedländer / Orna Kenan: Das Dritte Reich und die Juden. 1933-1945. Gekürzte Ausgabe (= Beck'sche Reihe; 1965), München: C.H.Beck 2010, 525 S., ISBN 978-3-406-60654-0, EUR 14,95

Francis R. Nicosia / David Scrase (eds.): Jewish Life in Nazi Germany. Dilemmas and Responses, New York / Oxford: Berghahn Books 2010, XV + 245 S., ISBN 978-1-8454-5676-4, GBP 35,00

Rezension von:
Andrea Löw
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Andrea Löw: Saul Friedländer und die Geschichtsschreibung zum jüdischen Leben im nationalsozialistischen Deutschland (Rezension), in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 4 [15.04.2011], URL: https://www.sehepunkte.de/2011/04/18839.html


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