sehepunkte 11 (2011), Nr. 5

Norman M. Naimark: Stalin und der Genozid

Norman Naimark, Professor für osteuropäische Geschichte an der Stanford University, ist in Deutschland bekannt geworden durch seine Bücher "Die Russen in Deutschland" über die sowjetische Besatzung nach dem Zweiten Weltkrieg und "Flammender Hass" über die Geschichte ethnischer Säuberungen in Europa im 20. Jahrhundert. [1] In seinem neuen Werk geht es weniger um ein Thema als um eine These. In einem langen Essay versucht Naimark zu belegen, dass die Massenverbrechen Stalins und seines Regimes als "Genozid" - als "Verbrechen der Verbrechen" - einzustufen sind. Stalin und Hitler, so das Fazit, seien gleichermaßen als Völkermörder zu betrachten.

Dass die Definition der UNO-Völkermords-Konvention nicht so recht auf die stalinistischen Massenverbrechen passt, weil von ihnen vor allem nach sozialen und politischen Kategorien definierte Gruppen betroffen waren und nur zum kleineren Teil ethnische Einheiten, ist Naimark bewusst. Er wendet aber ein, dass der von dem polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin geprägte Begriff "Genozid" von der UNO nur unter dem Einfluss der Sowjetunion so eng gefasst worden sei, dass Massenverbrechen gegen sozial oder politisch definierte Feindgruppen durch sie nicht erfasst werden. Stalins Sowjetunion erscheint in dieser Sicht als ein Täter, der maßgeblich am Strafgesetzbuch mitwirkt, was dieses fragwürdig erscheinen lassen muss. Es gibt allerdings durchaus auch gewichtige sachliche Gründe, die gegen eine weite Genozid-Definition unter Einbeziehung politischer Gruppen sprechen. [2] Mit diesen setzt Naimark sich nicht auseinander. Eine Revision der von ihm beklagten Engführung sieht Naimark in der Gesetzgebung der unabhängig gewordenen baltischen Staaten. Gestützt auf die Genozidkonvention habe diese den Völkermordbegriff erweitert, um Mitwirkende an Deportationen, Hinrichtungen und der Bekämpfung antisowjetischer Widerstandsgruppen verfolgen zu können, von denen einige auch unter dem Vorwurf des Genozids verurteilt worden seien. (31 f.) "Durch die baltischen Strafverfahren wird die Rechtsprechung weiterentwickelt und ermöglicht wichtige Einsichten in den sowjetischen Völkermord", meint Naimark (32). An der zitierten Äußerung ist zweierlei bemerkenswert: Erstens die Vorwegnahme des Resultats, dass die sowjetischen Staatsverbrechen als Genozid einzustufen seien, noch bevor überhaupt die inhaltliche Auseinandersetzung begonnen hat, zweitens die Nonchalance, mit der Naimark über die bekannten Einseitigkeiten und Widersprüchlichkeiten hinweggeht, die den baltischen, insbesondere den litauischen Umgang mit dem Genozid-Begriff kennzeichnen. So spart etwa das "Museum of Genocide Victims" in Vilnius den Holocaust völlig aus, dem immerhin fast die gesamte jüdische Bevölkerung Litauens von rund 200.000 Menschen zum Opfer gefallen ist; die einheimische Kollaboration hat dabei eine besonders wichtige Rolle gespielt. Deren Verfolgung durch die Justiz ist im wieder selbstständig gewordenen Litauen indes bemerkenswert erfolglos, während in jüngster Zeit durchaus energische Anstrengungen unternommen wurden, einige prominente Juden, die in Partisaneneinheiten überlebt haben, wegen angeblicher Kriegsverbrechen vor Gericht zu bringen. Zu den Betroffenen zählte insbesondere der langjährige Leiter von Yad Vashem, Yitzak Arad, dessen Überstellung zum Verhör die litauischen Behörden 2007 von Israel forderten. Inzwischen ist dieses Verfahren eingestellt, aber die Kette der Einseitigkeiten und Skandale ist auf jeden Fall zu lang, als dass man sich unkritisch ausgerechnet auf die Genoziddefinitionen der baltischen Staaten verlassen sollte.

Anton Weiss-Wendt hat in einem äußerst aufschlussreichen Aufsatz beschrieben, wie der Genozid-Begriff unter dem Einfluss baltischer Exilanten und im Klima des Kalten Krieges in eine vornehmlich gegen die UdSSR gerichtete politischen Kampfparole umgemünzt wurde, bei der es auf die präzise Wahrnehmung und Analyse der sowjetischen Verbrechen nicht mehr so genau ankam und der zahlreiche Fehleinschätzungen zugrunde lagen. Auch Raphael Lemkin, der rastlos für die Ratifikation der Genozid-Konvention warb, und auch nachdem 1951 das Quorum von 20 erreicht war, unbedingt die USA im Boot haben wollte (die aber erst 1988 ratifizierten), brachte sich hier ein. Es waren Auslandsdelegationen der drei von der Sowjetunion annektierten baltischen Staaten gewesen, die schon 1947, ein Jahr vor Annahme der Völkermord-Konvention, die Sowjetunion vor der UNO des Genozids gegen ihre Völker beschuldigten. [3] Dieser Vorwurf wurde nach 1991 konstitutiv für das Selbstverständnis eines erheblichen Teils der politischen und intellektuellen Eliten der neu erstandenen baltischen Staaten. Diese Tradierung eines aufs engste mit der schließlich erfolgreichen nationalen Selbstbehauptung verknüpften Geschichtsverständnisses ist nahe liegend. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion öffnete sich aber nicht nur ein für viele verhasstes Völkergefängnis, sondern auch die Tore der Archive und eine quellengestützte Stalinismusforschung entstand, die es erlaubt, den Genozid-Vorwurf auf den wissenschaftlichen Prüfstand zu stellen.

Wer von Naimarks neuem Buch ein solches Vorgehen erwartet, wird allerdings enttäuscht werden. Das Ergebnis seiner in fünf Kapiteln, denen eine psychologisierende Skizze des Werdegangs Stalins vorgeschaltet ist, durchgeführten "Prüfungen" bleibt stets vorhersehbar. Ärgerlich ist dabei auch, wie voreingenommen und wenig präzise der Autor mehrfach mit Fakten und Forschungsergebnissen umgeht. So beruft er sich etwa als Beispiel für die Grausamkeit der Sondersiedlungen, die als Verbannungsorte von "Kulaken" dienten, auf Nicolas Werths eindrucksvolle Studie "Die Insel der Kannibalen" [4], die die Umstände und tödlichen Folgen der Aussetzung mehrerer Tausend Verbannter auf einer Insel im Ob analysiert. Stalin habe einen Bericht des NKVD über die Zustände gekannt, schreibt Naimark. Dieser sei mehr als siebzig Jahre später in russischen Archiven gefunden worden (68). Damit wird insinuiert, dass Stalin das Massensterben ungerührt oder auch billigend, jedenfalls bewusst in Kauf genommen habe. Das belegt nun aber Werths Studie gerade nicht. Der Bericht, der nicht vom NKVD - im August 1933, als die Deportation stattfand, firmierte die Geheimpolizei im übrigen noch als OGPU - stammte, sondern von dem jungen kommunistischen Journalisten Vasilij Veličko, führte zur Einstellung einer 1933, bereits nach der Entkulakisierung, vom OGPU-Chef Genrich Jagoda und dem Leiter des Gulag, Matvej Berman, vorgeschlagenen neuerlichen Deportationswelle. Humanitäre Erwägungen spielten dabei keine Rolle, wohl aber das Fehlschlagen der Absicht, entlegene sibirische Gebiete durch die Verbannten erschließen zu lassen, deren Massensterben nicht intendiert, sondern die Folge menschenverachtender Desorganisation gewesen war.

Generell widmet Naimark dem Nachweis und der Analyse genozidaler Absichten vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Die auch als "Holodomor" bekannte ukrainische Hungersnot der Jahre 1932/33, die 2003 vom ukrainischen Parlament als Genozid gegen das ukrainische Volk definiert wurde, wird von ihm auf weniger als zehn Seiten behandelt, obwohl es sich um das - gemessen an der Zahl der Opfer - gewiss größte der Verbrechen Stalins und seiner Entourage handelte. Da bleibt für die Erörterung der komplizierten und in der aktuellen Stalinismusforschung viel diskutierten Frage der Intentionalität wenig Raum. Am Ende zieht er das Fazit: "Stalin, Molotow, Kaganowitsch und ihresgleichen waren überzeugt, dass die ukrainischen Bauern als eine Gruppe, die sich selbst als Ukrainer definierte, 'Volksfeinde' waren, die den Tod verdienten" (83). Wenn irgendein Historiker den schlüssigen Nachweis für diese These erbringen könnte, würde sich die Forschungsdebatte um die politischen Motive hinter der ukrainischen Hungersnot und ihre Spezifik im Rahmen der sowjetischen Hungerjahre 1931-1933 auf einen Schlag erübrigen. Bisher konnte niemand solche Eindeutigkeit schaffen, auch Naimark nicht, was ihn aber nicht daran hindert, seine Annahme als Faktum zu behandeln.

Im folgenden Abschnitt "Der Angriff auf die Völker" summiert Naimark Deportations- und Vernichtungsaktionen, die sich gegen Angehörige nationaler Minderheiten richteten. Dabei geht es vor allem um die seit den 1930er Jahren begonnenen und im und nach dem Krieg umfangreich betriebenen Deportation ganzer Völker sowie die brutale Verfolgung von unter Spionageverdacht gestellten Angehörigen nationaler Minderheiten im Großen Terror der Jahre 1937/38. "Der 'Große Terror' kennzeichnete einen allgemeinen Übergang der staatlichen Repression von sozialen zu nationalen Gruppen", behauptet Naimark (90). Tatsächlich richtete sich die stalinistische Paranoia sehr stark gegen die Angehörige nationaler Minderheitengruppen, die als politisch illoyal betrachtet wurden. Sie wurden im Großen Terror mit besonderer Härte verfolgt. Die Mehrzahl der Opfer aber geriet wegen sozialer oder politischer Zugehörigkeiten in die Mahlströme des Terrors.

Da Naimark die "nationalen Aktionen" ausgeklammert und in einen anderen Kontext gestellt hat, ist sein Kapitel zum Großen Terror eigentümlich schwach konturiert. Irritierend ist auch die Feststellung, die "Säuberungen von 1937/38" ließen sich "kaum als Genozid klassifizieren, weil keine besonderen ethnischen, sozialen oder politischen Gruppen angegriffen" worden seien (104), während im vorangegangenen Kapitel "Angriff auf die Völker" die gegenteilige Interpretation vertreten wird. Wie dem auch sei, Naimark kommt zu dem unvermeidlichen Schluss: "Ohne Stalin, den Völkermörder, ist der Große Terror schwer vorstellbar" (123).

Noch verschwommener wird es in dem folgenden Abschnitt "Stalins und Hitlers Verbrechen". Um zu beweisen, dass Stalin- und Hitler-Regime hinsichtlich des Genozid-Vorwurfs mehr verbinde als trenne, versucht Naimark den absoluten Vernichtungswillen, von dem der Holocaust getragen wurde, und für den es in der Geschichte der stalinistischen Massenverbrechen kein Äquivalent gibt, zu relativieren. Dabei greift er teilweise zu recht fragwürdigen Argumenten wie etwa dem, dass Juden ja vor dem Krieg aus Deutschland und Österreich hätten emigrieren können (129) oder dass "mehrere Tausend Juden fast bis zum Kriegsende in der Wehrmacht dienten" (131). Tatsächlich haben nach den Forschungen von Brian Rigg erstaunlich viele sogenannte "Halb-" und "Vierteljuden" in den deutschen Streitkräften gekämpft. [5] Die Voraussetzung, jedenfalls bei den "Halbjuden", war allerdings, dass es ihnen gelang, ihre Identität zu verbergen, denn abgesehen davon, dass für die Wehrmacht seit 1933 der "Arierparagraph" galt, wurden später auch Zehntausende von "Halbjuden" aus dem Militär "hinausgesäubert".

Naimarks Argumentation zielt überdeutlich in immer dieselbe Richtung: Er will Stalin und Hitler Seite an Seite auf derselben Ebene präsentieren. Dazu steckt er sie in das intellektuelle Prokrustesbett eines überdehnten Genozidbegriffs, wobei unvermeidlich der eine etwas gestreckt, der andere etwas gekürzt werden muss. Am Ende dieser brachialen Operation hat man allerdings weder den Stalinismus noch den Nationalsozialismus besser begriffen, noch worin sich beide Regime ähnelten und worin sie sich unterschieden.


Anmerkungen:

[1] Norman Naimark: Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945 bis 1949, Berlin 1997. Ders.: Flammender Hass. Ethnische Säuberung im 20. Jahrhundert, München 2004.

[2] Vgl. hierzu Boris Barth: Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte, Theorien, Kontroversen, München 2006, 25-27.

[3] Anton Weiss-Wendt: Hostage of Politics: Raphael Lemkin on "Soviet Genocide" in: Journal of Genocide Research (2005), 7(4), December, 551-559.

[4] Nicolas Werth: Die Insel der Kannibalen. Stalins vergessener GULAG. München 2006. Rezension in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 1 [15.01.2008], URL: http://www.sehepunkte.de/2008/01/14074.html

[5] Bryan Mark Rigg: Hitlers jüdische Soldaten, Paderborn / München 2003.

Rezension über:

Norman M. Naimark: Stalin und der Genozid, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2010, 157 S., ISBN 978-3-518-42201-4, EUR 16,90

Rezension von:
Jürgen Zarusky
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Jürgen Zarusky: Rezension von: Norman M. Naimark: Stalin und der Genozid, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 5 [15.05.2011], URL: https://www.sehepunkte.de/2011/05/19029.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.