Anmerkungen zu William Dalrymples 'The Last Mughal' (Rezensionsessay)

Von Tilmann Kulke

Vorbemerkung:

Der vorliegende Essay orientiert sich hinsichtlich des Aufbaus und der wesentlichen Aspekte an der wichtigen Studie William Dalrymples The last Mughal. The Fall of a Dynasty. Delhi 1857, Delhi 2007. Die Seitenangaben hinter den Überschriften der jeweiligen Artikel und im Text beziehen sich auf Dalrymples Studie.
Die Einteilung des Essays in sieben Kapitel wurde von mir unternommen, Dalrymples Last Mughal besteht aus 12 Kapiteln. Das 6. und 7. Kapitel sind ergänzende Bemerkungen meinerseits.


1. Einleitung:

Die indische Rebellion von 1857, die allgemein als 'Great Mutiny' oder 'Sepoy-Aufstand' bezeichnet wird, war die größte Herausforderung für den britischen Imperialismus des 19. Jahrhunderts. Für mehrere Monate war das Schicksal der britischen Herrschaft über den indischen Subkontinent mehr als ungewiss - russische und iranische Militärs empfingen Unterhändler der Aufständischen. Und die Nachricht vom Cawnpoor-Massaker, an dem Aufständische bis zu 130 britische Zivilisten getötet hatten, war lange Zeit das beherrschende Thema in der britischen und kolonialen Presse; es war damit eines der ersten globalen Medienereignisse der Geschichte und hinter dieser Nachricht stand die Angst: Wird Indien, das Juwel des British Empire, in nächster Zeit verloren gehen?

An diesem komplexen Ereignis lassen sich zahlreiche Fragen klären, die für das Verstehen der neueren indischen Geschichte und des britisch-europäischen Imperialismus von entscheidender Bedeutung sind. Dies soll mit dem vorliegenden Essay unternommen werden: Worin lagen die langfristigen Ursachen? Was war der endgültige Auslöser, der zum Aufstand gegen die britische Besatzung führte und wie konnte es sein, dass die größte Militärmacht der damaligen Welt für einen so langen Zeitraum kurz vor dem Zusammenbruch stand? Welche Rolle spielte die Religion bei diesem Konflikt? Darf man diese Revolte nur einer materialistischen Analyse unterziehen - waren es also im Wesentlichen Bauern, die gegen ihre weißen Herren kämpften - oder kommen auch religiös-kulturelle Aspekte hinzu?

Und wie ist die Rolle des letzten großen Mogul-Herrschers Bahadūr Šāh Ẓaffar II. (1757-1862) zu bewerten, dessen Familie zu Beginn der Revolte mehr als 300 Jahre über Delhi und Nordindien, wenn auch in einem über die Jahrhunderte immer kleiner werdenden Gebiet, herrschte. Was waren die unmittelbaren und die langfristigen Folgen der Rebellion, was bedeutete sie im globalen Kontext und wie interpretiert die aktuelle Historiographie die 'Great Mutiny'?

Diese Fragen sollen im vorliegenden Essay in der skizzierten Reihenfolge in der gebotenen Kürze mithilfe der neuesten und relevanten Forschungsliteratur beantwortet werden.

2. Die Vorgeschichte I. - die langfristigen Ursachen: das Ende der 'White Mughals' (58-85)

Als die tragische Person der 'Great Mutiny' kann Bahadūr Šāh Ẓaffar II. bezeichnet werden, der während dieser Jahre zwischen die Fronten geriet. Ẓaffar wurde 1775 geboren, als direkter Nachfahre Činkiz Ḫāns (gestorben 1227) und Tīmūrs (gestorben 1405), Akbars (gestorben 1605) und Šāh Jahāns (gestorben 1666), dem Erbauer des tāǧ maḥal. Zum Zeitpunkt seiner Geburt konzentrierten sich die Briten noch auf ihre Küstenstandorte; an eine Beherrschung Südostasiens durch die britische East India Company (EIC) konnte zum damaligen Zeitpunkt noch nicht gedacht werden.

1803 siegten die Briten über die Marathen-Konföderation. Erstmals betraten britische Soldaten Delhi als legitime Schutzherren der Moguln (so wie es vorher die Marathen taten, vor ihnen die Rohillas (rohilā, etc.). Vorher hatten die Briten den Moguln lediglich als offizieller Steuereintreiber Bengalens gedient. Eine Aufgabe, welche für die Zeit unmittelbar nach der Rebellion von allerhöchster Wichtigkeit war.

Nach der Einnahme Delhis 1803 wurde die nominelle Herrschaft der Moguln über Hindustān von den britischen Eliten zunächst akzeptiert. Auf allen Münzen der EIC wurde nach wie vor das Siegel Šah 'Allāms II. (reg. 1759-1806), des Großvaters Šāh Bahadūr Ẓaffars, gedruckt. Diese Akzeptanz war jedoch nicht von Dauer und sollte sich in den folgenden Jahren vollständig wandeln: "Gegen Ende des 18. Jahrhunderts kam in London eine neue Gruppe konservativer Politiker an die Macht, die fest entschlossen waren, die britische Macht auszubauen. Lored Wellesley erfand für diese neue aggressive Politik den Namen "Forward Policy" (Vorwärtsstrategie), die eine "neues britisches Jahrhundert" einleiten sollte. Er erklärte ganz offen, um was es dabei ging: Die britische Überlegenheit, um was es dabei ging: die britische Überlegenheit gegenüber sämtlichen europäischen Rivalen und vor allem gegenüber den Franzosen herzustellen. Zudem war er der Ansicht, es sei besser, feindliche Muslimische Regime, die sich womöglich er wachsenden Macht des Westen widersetzten, präventiv abzuwehren." [1]

In Delhi waren es schließlich die Brüder Sir Thomas Metcalfe (1795-1853) und Sir Charles Metcalfe (1785-1846), beide höchste Beamte der EIC, die es als ihre Aufgabe betrachteten, die Überlegenheit Englands und die Schwäche des Mogulreiches gesellschaftlich und politisch entsprechend einzuordnen. Immer energischer forderten beide, dass britische Münzen ohne das Siegel der Mogulherrscher gedruckt werden sollten. Auch sollte es Engländern verboten werden, Ehrentitel der Moguln zu empfangen. Durch die Metcalfe-Brüder sollten bis 1852 alle entscheidenden Privilegien des Mogulherrschers abgeschafft werden, so dass dieser zu Beginn desselben Jahres nur noch über den Stadtpalast und das sinkende Ansehen seiner Dynastie verfügte.

Zwar wurde die reale Macht der Moguln in diesen Jahren also weitestgehend durch große Teile der britischen Elite und Verwaltung abgebaut, nach wie vor gab es jedoch eine große Anzahl von Briten, die der alten Dynastie mit Respekt begegneten und sich der eigenen Rolle innerhalb des komplexen Herrschaftssystems durchaus bewusst war und sich nach wie vor als legitime Beschützer der Mogul-Dynastie sahen. Wie sehr sich britische Eliten im 18. Jahrhundert und noch weit bis ins 19. Jahrhundert an die indische Gesellschaft assimilierten und sich von ihrem Heimatland distanzierten, beschreibt William Dalrymple in 'The White Mughals' (2004) auf eindrucksvolle Weise. Gerade hinter diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie sich das Bild auf die indische Gesellschaft innerhalb einiger Jahre derart radikal ändern konnte.

Sinnbildlich für diesen Wandel steht die Familie der gerade erwähnten Metcalfes. Sie bekleideten von Anfang an die allerhöchsten Ämter in der britischen Verwaltung. Erkennt man beispielsweise bei Charles Metcalfe (1785-1846) noch deutliche Sympathien für die indische Kultur in seinen jungen Jahren (er heiratete seine indische Frau nach indischem Ritus), so änderte sich dies bereits in seinen letzten Lebensjahren. Sein Sohn Thomas Metcalfe (1795-1853) hatte es sich zum Ziel gemacht, die Moguln endgültig abzusetzen. Dies wollte er vor allem dadurch erreichen, dass er, nach mehreren Jahren intensiver Auseinandersetzungen mit dem Mogul-Adel, Ẓaffar das Recht auf die Nachkommensregelung absprechen wollte - die Linie der Moguln sollte nach seinem Tod also ein Ende finden. Von allen Restriktionen gegenüber Ẓaffar war dies sicherlich die härteste. Der letzte Mogul-Herrscher sah sich also kurz vor dem Ausbruch der Rebellion von seiner ehemaligen Schutzmacht völlig entfremdet und fand, nach den Jahren des Kampfes mit Metcalfe, nur noch wenige Gründe, mit den Engländern zusammenzuarbeiten.

Was waren nun die Gründe für diesen Wandel in der britischen Haltung gegenüber den Indern? Noch einmal soll William Dalrymple herangezogen werden. Dieser sieht den entscheidenden Grund für das wachsende Misstrauen zwischen der britischen und der indischen Seite in dem wachsenden Einfluss der britischen Protestanten. In der Figur des Reverent Midgeley John Jennings (gestorben 1857) sieht er die Verkörperung einer neuen, christlich motivierten britisch-imperialen Arroganz. Britisch-Indien in den 1840er und 1850er Jahren geriet immer mehr unter den Einfluss dieser neuen, aggressiv frömmlerischen Protestanten, die Indien nicht nur regieren und verwalten wollten, sondern alle Einwohner zum Christentum bekehren wollten. Beseelt von dem Glauben, Imperien werden von Gott verliehen und England sei von Gott dafür belohnt worden, dass es das Evangelium in seiner reinsten Form bewahrt habe, gingen Jennings und seine Kollegen an ihre Arbeit. Ihr Ziel war es, die 'Anglo-Mughal Islamo christian buffer zone' (64) der 'White Mughals', die ihren Beginn im ausgehenden 18. Jahrhundert hatte, durch gezielte Aktionen abzuschaffen. Jennings und seine Kollegen übersahen in ihrem radikalen Missionseifer das breite Interesse der Mogul-Elite am Christentum und der christlichen Kultur und deuteten dieses vielmehr als unwahr und heuchlerisch.

Dieser Prozess war bereits in vollem Gang, als Jennings 1832 Delhi erreichte. Mit seinem Dienstantritt in Delhi erreichte sie aber ihren Höhepunkt. So fühlten sich hinduistische und muslimische Orthodoxe immer mehr von ihren ursprünglichen britischen Beschützern hintergangen und sahen ihr Recht auf freie Glaubensausübung bedroht. 1829 wurde die hinduistische Verbrennung von Witwen verboten. (Dieses Verbot wurde jedoch in gemäßigten hinduistischen Kreisen begrüßt). Kurz darauf wurde die Wiederheirat von geschiedenen hinduistischen Frauen legalisiert, elternlose Kinder wurden von britischen Behörden christlich erzogen und in den Gefängnissen wurden nur noch christliche Predigten gestattet. Immer mehr Moscheen wurden geschlossen oder zerstört und sogar zum Kirchen- und Straßenbau verwendet. Obwohl die Missionare nur wenig Erfolg bei ihrer Tätigkeit hatten, so erkannte man doch auf beiden Seiten eine erhöhte Anspannung zwischen den religiösen Lagern.

Diese Einstellung der Evangelikalen war aber nur ein Teil einer immer stärker werden britischen imperialen Arroganz, die ihre Ursache in dem für die damaligen Zeitzeugen unleugbaren Erfolg der Expansion hatte. Nachdem die Briten 1849 endgültig die Konföderation der Sikhs besiegt hatten, sahen sie sich als die faktischen Herrscher über Indien. Jeder ihrer ehemaligen Gegner kannte nun ihre Herrschaft als legitim an. Mīrzā Muḥammad Sirāǧ ad-Dawla von Bengalen seit 1757, die Franzosen ab 1761, Tīpu Sulṭān nach der Einnahme von Misor 1799 und schließlich die mächtigen Marathen 1803 und noch einmal endgültig 1819.

Ohne Feinde in Europa und als Herrscher über Indien fühlten sich die Briten ökonomisch, militärisch, politisch und auch kulturell ohne jede Konkurrenz und allen überlegen. Allen voran dem 'asiatischem Despoten' in Delhi. Diesen Wandel der europäischen Sicht auf Asien, in diesem Fall der britischen Sicht auf Indien, wird durch den Satz Jürgen Osterhammels wohl am besten beschrieben: Das Europa des 18. Jahrhunderts verglich sich mit Asien, im 19. Jahrhundert hielt es sich für unvergleichbar. [2]

Diese Mischung von imperialer Arroganz und christlich-protestantischem Fundamentalismus sollte immer mehr zur dominierenden Einstellung gegenüber der indischen Bevölkerung werden. Die Folge war, dass den moderaten muslimischen Theologen ('ulamā') immer weniger Argumente einfielen, den Dialog mit den Briten zu suchen, während fundamentalistische Prediger, muslimische wie hinduistische bei der enttäuschten Bevölkerung immer mehr Gehör fanden.

Auf der europäischen Seite verstarb die 'alte Garde' der White Mughals, die ihren Lebensentwurf ja auf einen Ausgleich mit ihren muslimischen Nachbarn gesetzt hatte. Und auf der indo-muslimischen Seite wurde die über Jahrhunderte entwickelte Tradition des toleranten Ṣūfī-Mogul-Herrschers, in dessen Rolle sich Bahadūr Šāh Ẓaffar als Beschützer aller Gläubigen und seines Gefolges sah, immer mehr verachtet und als antiquiert abgeschrieben. Die Zeit für einen Zusammenprall der rivalisierenden Fundamentalisten war reif.

Obwohl der Machtverlust der Moguln gegenüber den Engländern offensichtlich war, muss aber dennoch festgehalten werden, dass Delhi unter Ẓaffar nach wie vor intellektuelles Zentrum Hindustāns war und sich zu Beginn der 1850er Jahre auf einem Höhepunkt kulturellen Schaffens befand. Dichter, Gelehrte und Schriftsteller bereicherten den Hof um Ẓaffar und die indo-persische Kultur, allerdings - wie sich zeigen wird - zum letzten Mal. Neben dieser letzten großen Schaffensperiode der indisch-muslimischen Zivilisation war es auch die Malerei, die nach mehr als 350 Jahren intensiven Kontakts mit den Europäern ein neues und höheres Niveau erreichte. Unter Maẓhar 'Alī Ḫān wurden englische Wasserfarben auf englischem Papier mit der Detailversessenheit aus der Tradition der Moguln zusammengeführt. Diese sogenannte 'Company School' steht sinnbildlich für den erfolgreichen, friedvollen Austausch und Assimilation zweier Kulturen.

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gewannen also auf beiden Seiten die fundamentalistischen Strömungen immer mehr an Macht. Diesen gelang es aber nie, sich vollständig durchzusetzen, wie mit dem Beispiel der 'Company School' gezeigt wurde.

Nachdem die langfristigen Ursachen im Mittelpunkt der Untersuchung standen, stellt sich nun die Frage, was die unmittelbaren Auslöser waren, die dazu führten, dass sich aus den höchsten Kasten stammende Hindus mit Bauern und muslimischen muǧāhidūn (Kämpfer für den Glauben) vereinten und auf diese Weise die größte Militärmacht der damaligen Welt über ein halbes Jahr an den Rand der Vernichtung bringen sollte.

Die Vorgeschichte II. - die unmittelbaren Auslöser (114-143)

Die gerade angeführten langfristigen Folgen stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit den kurzfristigen, der Revolte unmittelbar vorausgehenden Gründen, die an dieser Stelle in gegebener Kürze referiert werden sollen.

Über einen langen Zeitraum war es das Ziel des oben erwähnten Sir Thomas Metcalfe, das Ende der Dynastie der Moguln voranzutreiben. Dies wollte er vor allem durch das Ende der eigenen Erbfolgeregelung Ẓaffars erreichen. Nach langer Krankheit starb Metcalfe 1853 - schnell kursierte das Gerücht, er sei im Auftrag von Zīnat Maḥal Bīgum (gestorben 1882), der einflussreichsten Frau Ẓaffars, vergiftet worden. Dies wurde vor allem auf britischer Seite schnell als gegebene Tatsache angesehen und das Misstrauen gegenüber der Mogul-Elite wuchs von neuem.

Die Folge war, dass dem Mogul-Hof immer weitere Restriktion auferlegt wurden, so dass der Hauptpfeiler der Delhi-Ökonomie ins Wanken geriet: Denn Delhi lebte von der Macht und dem Einkommen Ẓaffars. Das komplexe und über Jahrhunderte entwickelte Patronage-System der Moguln erlitt eine seiner größten Krisen wodurch in Delhi die Arbeitslosigkeit in ganzen Stadtteilen dramatisch anstieg - und mit der steigenden Arbeitslosigkeit in Delhi stieg der Hass auf die christlichen Briten.

Und dieser nahm noch zu, da sich der Erfolg der Christen allem Anschein nach nicht aufhalten ließ und eine nennenswerte Alternative zu der britischen Herrschaft über Nordindien nicht in Reichweite war. Denn die EIC expandierte zur Mitte des 19. Jahrhunderts ohne Unterbrechung weiter: Unter dem Generalgouverneur Dalhousie (1812-1860) wurden über einen langen Zeitraum hinweg kleinere hinduistische Fürstentümer ohne kriegerische Auseinandersetzungen unter die britische Herrschaft gezwungen. Gegenwehr wurde kaum noch geleistet. Und als Dalhouise auch noch damit begann, in die traditionsreiche Erbfolgeregelung der Moguln einzugreifen, fanden Hindus und Muslime in ihrem Hass gegen die Briten immer mehr Gemeinsamkeiten. Nacheinander wurden Satara (1848), Jhansi (1853) und Najpur (1854) von den Briten annektiert. Höhepunkt dieser aggressiven Außenpolitik, welche den Hass der Hindus auf die Briten weiter schürte, war die Annexion des reichen Fürstentums Avadh im Februar 1857, drei Monate vor dem Ausbruch des Aufstandes. Zwar war die Bevölkerung Delhis längst daran gewöhnt, dass Briten seit mehr als hundert Jahren regelmäßige Strafaktionen bzw. Plünderungen gegen Avadh durchführten. Zum Zeitpunkt der Annektion von Avadh bestand die Armee der EIC jedoch aus großen Teilen aus Avadh stammenden Hindus. Diese Sepoys (Sepoy ist der Ausdruck für einen indischen Infanteristen in britischen Diensten; der Name stammt vom persischen sepai und steht für 'Soldat') waren nun gezwungen, ihre eigene Heimat zu einem britischen Vasal zu reduzieren. Britische Offiziere meldeten hier erstmals einen ihnen bisher unbekannten Hass, der ihnen von den Sepoys entgegenschlug.

Seit längerem war es das Ziel der Briten, bei ihrer Rekrutierung möglichst Angehörige der allerhöchsten Kasten einzuziehen. Dies hatte u.a. zur Folge, dass es durch den Armeedienst zu einer Verhärtung der Kastenunterschiede kam, die traditionell eher durchlässig waren. Die Sepoys der hohen Kasten, die in die britische Armee aufgenommen wurden, sahen neben ihrer traditionell-kulturellen, nun auch noch einen militärischen Beleg ihrer Überlegenheit über die anderen Teile der indischen Bevölkerung. Immer mehr sahen sie sich als die eigentliche Elite des Landes. - Innerhalb der Forschung wird in diesem Zusammenhang oft von einer Sanskritisierung Indiens durch die EIC gesprochen. [3]

Ganz im Sinne der britischen Maxime 'teile und herrsche' folgte noch ein weiterer Schritt, der die Hindus gegen die Briten aufbrachte: Zwar stellten Hindus nach wie vor den größte Teil der Sepoys, nach den Sikh-Kriegen entschloss sich die Militärführung jedoch, da sie vom Kampfgeist ihrer ehemaligen Gegner beeindruckt waren, zukünftig mehr Sikhs in ihre Dienste einzustellen. Zahlreiche altgediente und einflussreiche Hindu-Sepoy-Familien sahen sich nun vor die Tatsache gestellt, dass ihre Söhne nicht nur gegen ihre eigene Heimat Krieg führen mussten. Eine immer größere Anzahl von ihnen wurde gar nicht mehr in die Armee aufgenommen, da nun vor allem den Söhnen der Sikhs Vorrang gegeben wurde.

Ein weiter Punkt, der weiter zurückreicht, wird innerhalb der Forschung jedoch als der endgültige Auslöser für die Rebellion interpretiert, da er von den Aufständischen nachweislich immer wieder angeführt wurde.

Um den Ausbruch der Rebellion erklären zu können, ist es von großer Wichtigkeit zu verstehen, dass die Mitglieder der Armee der EIC hinsichtlich ritueller Fragen also sehr sensibel waren, eben weil sie den höheren Kasten entstammten. Das Einhalten der rituellen Reinheit des Essens, der religiösen Ausübungen etc., war für die hinduistischen Sepoys der EIC also von allerhöchster Bedeutung. Denn bereits seit längerer Zeit beschäftigte sich die britische Militärführung mit zahlreichen tiefgreifenden Reformen. Ein wichtiger Schritt zur Modernisierung wurde in der Einführung der 'Enfield Guns' gesehen, die vom militärischen Gesichtspunkt nur Vorteile besaßen und 1857 an alle Einheiten geschickt wurden; der einzige Nachteil lag jedoch darin, dass sie wesentlich schwerer zu bedienen waren als die älteren 'Brown-Bess-Musketen. Entscheidend war hier, dass für das Laden der neuen 'Enfield' Fett benötigt wurde. Schnell verbreitete sich das Gerücht, es sei aus tierischem, also aus Kuh-Fett produziert (was für vegetarische Hindus ein doppeltes Vergehen bedeutet) und zudem mit Schweinefett vermischt worden, um Muslime zu diskriminieren. Es liegen zahlreiche Quellen vor, in denen britische Offiziere von einem enormen Hass berichten, der ihnen während des ersten Waffendrills mit den neuen Waffen entgegenschlug.

Als Mangal Pandy am 29. März schließlich im bengalischen Barrackpore auf zwei britische Offiziere mit diesen Waffen schoss, sie schwer verletzte und dabei ausrief, dass dies für die hinduistische Religion geschehe und dass die Soldaten durch das Einfetten der Kugeln zu Ungläubigen würden, war der Grundstein des Aufstandes gelegt. Mangal Pandey wurde sofort verurteilt und gehängt, die Nachricht über seine Tat und seine Exekution verbreitete sich über alle Garnisonen, bis schließlich am 11. Mai 1857 christlicher Zeitrechnung und dem 16. Ramadan muslimischer Zeitrechnung (dem Beginn des Fastenmonats) einige hundert berittene Sepoys auf Delhi zuritten. [4]

3. Der Aufstand - die 'Great Mutiny' (143-305)

Was die Aufständischen von Anfang vereinte war der Hass auf die Christen. Diese waren in den ersten Tagen des Kampfes das Hauptziel in Delhi. Es war vor allem die untere Mittelschicht Delhis und deren Angestellte, die die rebellierenden Sepoys begeistert unterstützten. Die hinduistische und muslimische Elite Delhis hingegen distanzierte sich von dem Aufstand. Viel zu sehr war sie mit den Briten ökonomisch und kulturell verbunden. Es kommt aber auch ein weiterer Faktor hinzu, warum sie sich mit den aus dem Umland nach Delhi strömenden Sepoys nicht solidarisierten. So sahen die Angehörigen des hohen Bürgertums Delhis (dihlī-vālā) in den Sepoys allein die ungebildete Landbevölkerung, mit dem sie keinerlei Gemeinsamkeiten hatten. [5] Das Töten von christlichen Frauen und Kinder und sogar Nicht-Christen, die bei Christen angestellt waren, wurde von Anfang an vom großen Teil der Elite Delhis verurteilt, auf hinduistischer wie auf muslimischer Seite.

Dass diese Schicht gegenüber den Aufständischen letztlich aber völlig machtlos war, zeigte sich vor allem in der Person Ẓaffars und seiner Entourage. Sie sahen in den Sepoys weniger die lang ersehnte Rettung vor den Briten, vielmehr fürchteten sie zu Beginn eine erneute Invasion, wie es zuletzt wie 1783 durch Nādir Šāh AfŠar (gestorben 1747) der Fall war, als Delhi geplündert und Ẓaffars Vater geblendet wurde.

Warum sich Ẓaffar letztlich doch auf die Aufständischen zubewegte, ist in der Forschung umstritten. Die Wende in seiner Haltung muss wohl nach seinem anfänglichen Zögern am ersten Tag nach dem großen Aufstand, am 12.Mai 1857, gefallen sein. In Delhi waren keine Briten mehr vorzufinden, entweder waren sie getötet oder geflohen. So erkannte er in den Sepoys womöglich nicht nur eine Geißel, sondern eher eine rettende Hand Gottes, die ihm helfen sollte, seine geschundene Dynastie zu erneuter Größe zu führen und ihm zu helfen, seinen Sohn als Erben einzusetzen. Nach langem Zögern und sicherlich nicht ohne Angst, so berichten es zeitgenössische Quellen aus den Reihen Ẓaffars, gab er schließlich, umringt von bewaffneten Fremden, die dem Hofzeremoniell keinerlei Beachtung schenkten, den Aufständischen schließlich seinen Segen.

Es hat bereits mehrere, für die Briten äußerst gefahrvolle Aufstände gegen die Briten in Indien gegeben, beispielsweise in Vellore 1806; noch nie waren jedoch derart starke Faktoren zusammengekommen. Und so sah sich Ẓaffar plötzlich als oberster Herrscher über eine motivierte Kampftruppe, die über Jahre hinweg englischem Drill unterzogen worden war, und kriegserfahren war und nur darauf wartete, den Segen des Mogulherrschers zu bekommen. Denn dieser genoss nach wie vor stärkste Autorität. Ẓaffar sollte allerdings schnell erkennen, dass er mit diesem Schritt letztlich nur seinen Herrn gewechselt hatte und dass an eine zentrale Befehlsgewalt mit einer strukturierten Führung der Aufständischen nicht zu denken war.

Dies wird vor allem daran deutlich, dass der Großteil der einflussreichen Eliten am Hofe Ẓaffars dem gesamten Aufstand nicht nur äußerst skeptisch gegenüber stand, sondern dass er zudem untereinander völlig zerstritten waren: Zum Beispiel kollaborierte Ẓaffars Frau Zīnat Maḥal Bīgum von Anfang an mit den Briten und lieferte diesen Informationen um sich und ihren Sohnǧawān Baḫt - der auch der Wunschkandidat Ẓaffars war - im Falle einer Niederlage abzusichern, die aus ihrer Sicht abzusehen war.

Auf der anderen Seite argumentierte Dalrymple dafür, dass einige Teile der Mogul-Elite dazu beitrugen, dass der Hof Ẓaffars zu Beginn der Revolte derart an politischem Einfluss und Ansehen in ganz Hindustan gewinnen konnte, wie seit 100 Jahren nicht mehr. Dies lag vor allem an den fünf Prinzen Ẓaffars, welche die Rebellion mit all ihren Kräften unterstützten; auf dieser Ebene herrschte also durchaus Einigkeit im Vorgehen gegen die Briten; der indischen Erhebung gegen die Briten also von Beginn an grundanarchische Tendenzen zuzuschreiben, was lange Zeit innerhalb der britischen Historiographie gemacht wurde, sei falsch, so Dalrymple. Der Grund für diese Unterstützung lag darin, dass die Nachkommen Ẓaffars nichts zu verlieren hatten: Entweder wären sie bei der Erbfolge übergangen worden oder sie hätten weiter das Leben eingesperrter Prinzen führen müssen, wie sie es bisher unter britischer Regie erlebt hatten. Diese zielte ja ohne hin darauf ab, nach dem Tod Ẓaffars die Erbfolge abzuschaffen. Erstmals seit 1739, nach der Plünderung durch die Iraner, wurde in den größten Moscheen Hindustans der Name Ẓaffars als König aller Könige ausgerufen. Wie sich jedoch schnell zeigen sollte, konnte dieser enorme Vorteil auf indischer Seite nicht Nutzen tragen.

Das größte Problem für die Aufständischen stellte von Anfang an die Bewältigung logistischer Probleme dar: So wurden beispielsweise die Boten Ẓaffars, die ausgeschickt waren, um Unterstützung zu organisieren, von den eigenen Leuten überfallen, da sie für Spione gehalten wurden. Nach anfänglichem Stillstand waren die Engländer wieder in der Lage, die Telegraphen-Infrastruktur wiederherzustellen; zudem konnten sie auf ein wesentlich effizienteres Spionagesystem zurückgreifen. Nicht zuletzt dadurch, dass sie größere finanzielle Ressourcen hatten, um Spione zu bezahlen und an sich zu binden. Zeitgenössische Aussagen auf britischer Seite gehen sogar soweit, den Aufständischen nicht einen vertrauenswürdigen Spion zuzurechnen.

Dennoch musste sich auch die britische Seite erheblichen Herausforderungen stellen. Das Hauptproblem der EIC-Armee war die schiere Übermacht der Aufständischen. Allein in der 139.000 Mann starken Bengali-Field-Force blieben den Engländern nur ungefähr 7.500 Sepoys treu - dies bedeutete aber nicht, dass sie auch mit diesen in den Kampf zogen, vielmehr verweigerten sie allzu oft den Dienst. Auch wurde es für die britische Armee schwer, im Hinterland geregelten Nachschub zu organisieren.

Auf der Seite der Aufständischen stellte sich das Problem der Versorgung ebenfalls. Die Nahrung wurde immer knapper und obendrein näherte sich das muslimische Fastenbrechen. In dieser Zeit predigten einige orthodoxe Prediger auf muslimischer Seite den ǧīhād gegen alle Ungläubigen; so auch gegen die Hindus, da diese den Muslimen das Schlachten von Kühen während des Opferfestes seit jeher verboten hatten. Anfang Juni war die Zahl der muǧāhidūn auf 5000 angestiegen. Sie waren gut ausgerüstet und kampfbereit. Zwar gab es auch mahnende Stimmen auf Seiten der Muslime (ein muslimisches Blatt mit der Überschrift fath-e Islām [Sieg des Islam] spricht eindeutig von der Notwendigkeit einer Kooperation zwischen Hindus und Muslimen) - der Konflikt zwischen den Aufständischen nahm aber immer weiter zu.

Schnell wurden jedoch auf allerhöchster Ebene Maßnahmen ergriffen um einen offenen Krieg zwischen den Aufständischen zu verhindern, indem beispielsweise Hindus und Muslime gemeinsam in einem Regiment kämpften.

Ẓaffar empfing beide Fraktionen und machte von Anfang an deutlich, dass er es als oberster Herrscher verbiete, den ǧīhād gegen die Hindus zu richten, denn dieser sei allein gegen die Engländer zu führen. Hier nun vollzieht sich die Wende im Aufstand. Eine kleine Gruppe radikaler Hindus und Muslime beschlossen gemeinsam, die sich noch in Ẓaffars Gewahrsam befindenden christlichen Gefangen zu exekutieren, um ein Exempel zu statuieren. Es sollte allen klar gemacht werden, dass an ein Zurück nicht mehr zu denken war. Nachdem Ẓaffar noch in alter Tradition versucht hatte, die Anführer der jeweiligen Gruppen in einer offen geführten Unterhaltung zu überzeugen, dass das Ermorden von Frauen und Kindern Unrecht sei, das Gespräch aber nach kurzer Zeit abgebrochen wurde und in die Hinrichtung aller 52 britischen Gefangenen mündete, kehrte sich auch Ẓaffar innerlich vom Aufstand ab.

Als die Nachricht über die Exekution der Gefangen in Delhi die Runde machte, waren nicht nur die Sepoys über diese Tat zerstritten. Vielmehr verlor der Aufstand die letzte Sympathie bei der Bevölkerung Delhis, nicht zuletzt bei den oberen Gesellschaftsschichten, von denen viele durch das Töten und die Vertreibung der Briten aus Delhi Freunde und Geschäftspartner verloren hatten. Auf der anderen Seite schloss es die Reihen der Briten, die nun endgültig nach Rache riefen. Am 10. Juni 1857 begann das britische Bombardement der Stadt, ziemlich genau einen Monat, nachdem die Stadt von den Aufständischen eingenommen worden war. Dieses Bombardement wurde allerdings ohne die für Belagerungen üblichen Waffen und Geschosse durchgeführt. Denn diese wurden am 1 Tag der Rebellion von britischen Einheiten zerstört, als sich Sepoys daran machten, das Waffenlager nordöstlich von Delhi (das größte Waffenlager Südostasiens zum damaligen Zeitpunkt) einzunehmen.

Die Unsicherheit der Briten spürten die Sepoys und setzten zu einer gezielten Attacke gegen die Briten Mitte Juni an. Diese offensive Taktik wurde vor allem unter Baḫt Ḫān vorangetrieben, der sich in den Afghanistan-Feldzügen Anerkennung als Artillerist hatte sichern können. Alle britischen Zeitzeugen, die über den Angriff Baḫt Ḫāns berichten, stimmen darin überein, dass das britische Militär einen solchen Angriff nicht ein weiteres Mal hätten abwehren können. Dies sollte allerdings der letzte Angriff dieses Ausmaßes bleiben, was sicherlich ein besonders großer Fehler auf indischer Seite war. Zu dem Angriff Baḫt Ḫāns trat im Juni 1857 ein weiterer Umstand hinzu, der den Briten sogar die meisten Verluste zufügen sollte: der Monsun. Viele Briten, die an der Belagerung teilnahmen, gingen davon aus, dass sie den Juli nicht überleben würden. Die Frustration der Belagerten wuchs immer weiter an. Trotz der enormen Überlegenheit hatten sie es nicht geschafft, die "Ungläubigen" (kuffār) zu besiegen. Auch war keine Aussicht auf Verbesserung der Versorgung in Sicht. Und hinzu kam, dass die Anzahl der aus dem Umland zuströmenden muǧāhidūn in Delhi immer weiter zunahm. Diese beharrten auf ihrem Recht religiöse Tierschlachtungen zum Ende des Fastenmonats Ramaḍān durchzuführen. Als am 19. Juli vier muslimische Schlachter mit aufgeschnittener Kehle und der Nachricht gefunden wurden, dass sie sich wegen angeblicher Schlachtung versündigt hätten, löste dies den offenen Konflikt zwischen den Parteien aus. Dass dieser Konflikt offen ausbrechen könnte, war immer die die größte Furcht Ẓaffars gewesen, sein ganzes Lebenswerk schien zu zerbrechen, das ja im Wesentlichen auf den Ausgleich der beiden Religionen in seiner Stadt ausgerichtet war. Ẓaffar reagierte schon nicht mehr auf die Angebote von Verbündeten außerhalb der Stadt, ihm gegen die Briten zu Hilfe zu kommen. Kurz nach dem Auffinden der toten Schlachter begann Ẓaffar den ersten an die Engländer gerichteten Brief zu verfassen, in dem er um Verhandlung bat und in dem seine Verzweiflung sichtbar wird.

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