sehepunkte 11 (2011), Nr. 9

Wilhelm Bleek: Friedrich Christoph Dahlmann

Der pensionierte Bochumer Politologe Wilhelm Bleek hat sich seit 50 Jahren mit dem Historiker und Politiker Friedrich Christoph Dahlmann (1785-1860) beschäftigt. Er hat dessen Hauptwerk "Die Politik" (zuerst 1835, 2. Aufl. 1847) neu herausgegeben [1] und nun, zum 150. Todestag, die erste moderne, wissenschaftliche Biografie Dahlmanns vorgelegt. Den Namen Dahlmann kennen Historiker wegen des in jedem Einführungsseminar vorgestellten "Dahlmann-Waitz", der ersten systematischen Quellenkunde zur "deutschen" Geschichte. Sie war zwar für Dahlmann eher ein Gelegenheitswerk, das aber bis heute fortgesetzt eine Standardbibliografie mit mehr als 200.000 Einträgen geworden ist. [2] Außerdem gilt Dahlmann als Prototyp des als typisch deutsch angesehenen "politischen Professors" im 19. Jahrhundert: er war der Kopf der "Göttinger Sieben" und der bedeutendste Verfassungspolitiker in den deutschen Staaten vor Bismarck. Wie Bleek detailliert zeigt, hat er seit seinem Aufsatz "Wort über Verfassung" (1815) wegen des Verfassungsversprechens der Wiener Schlussakte andauernde Diskussion über angemessene Verfassungen sowohl für die deutschen Einzelstaaten als auch für einen deutschen Nationalstaat maßgeblich bestimmt. Dies tat er sowohl theoretisch durch diverse Publikationen als auch praktisch - von dem Auftrag, 1831 eine Verfassung für das Königreich Hannover zu schreiben, bis zu seinem Verfassungsentwurf vom April 1848. Diesen verteidigte er in der Paulskirche, der er vom Anfang bis zum Ende angehörte, und danach im Erfurter Unionsparlament mit immer größeren Abstrichen. Die Reichsverfassung von 1849 beruht in wesentlichen Teilen auf den theoretischen Überlegungen und politischen Interventionen Dahlmanns, und er gilt deshalb auch als einer der Urgroßväter des Grundgesetzes. Außerdem war Dahlmann der "Erfinder der Unteilbarkeit Schleswig-Holsteins" und hat damit einen der wichtigsten politischen Konflikte im Kontext der deutschen Nationsbildung diskursiv geprägt.

Die Biografie dieses Kopfes der freiheitlich-nationalistischen Bewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und Helden des liberalen Bürgertums schreibt Bleek recht traditionell. So besitzt dieses Buch keine Einleitung - als schrieben sich Biografien quasi von selbst. Seine erkenntnisleitenden Interessen legt Bleek in wenigen Sätzen des Vorworts offen. Immer wieder betont er biografische Verbindungen (ein Ururgroßvater Bleeks hat bei Dahlmann studiert und war später dessen Freund und Kollege) und suggeriert an verschiedenen Stellen eine Seelenverwandtschaft zu Dahlmann. Bleek schreibt mit dem Gestus des allwissenden bzw. im Nachhinein klugen Historikers. Insbesondere zu Kindheit und Jugend seines Helden braucht er angesichts fehlender Quellen Einiges an historischer Phantasie und Einfühlungsvermögen. Immer wieder schaltet Bleek Exkurse oder Bemerkungen ein, in denen er seine Belesenheit zeigt, die aber für den Fortgang der Biografie entbehrlich wären. Dafür fehlen neuere biografische Themen wie Privates, Gefühle, Alltag, Männlichkeit usw. in diesem dicken Buch fast völlig - obwohl es hierfür Material gäbe. Den umfangreichen "liebevollen" und über 27 Jahre reichenden Briefwechsel Dahlmanns mit seiner zweiten Frau Luise von Horn tut Bleek in zwei Zeilen ab - auch die Briefwechsel mit Freunden und Mitstreitern wie G.G. Gervinus, Jacob und Wilhelm Grimm geben neben den politisch relevanten Passagen, die Bleek intensiv auswertet, Auskunft über Alltag und Emotion. Aber in diesem Buch macht eben ein großer Mann Politik - und zwar fast nie aus dem Bauch heraus, sondern aus rationalen, taktischen wie strategischen Überlegungen. Diesem klassisch politik- und ideengeschichtlichen Ansatz entspricht auch die vom liberal-nationalistischen Geschichtsbild, wie es Dahlmann & Co. entwickelt haben, geprägte Terminologie. Da werden Staaten noch personifiziert ("Dänemark wollte [...]"), da gibt es noch Volkscharaktere ("die Dänen waren seit dem frühen Mittelalter Eroberer"), da sind die Kriege gegen Napoleon noch die "Befreiungskriege", da gibt es "fortschrittliche Kräfte", die gegen "Hochkonservative" und "Ultrakonservative". [3] Diese unreflektiert übernommene Terminologie wird dem Erfolg des Buchs nicht im Wege stehen, ihn eher fördern. Jedenfalls hat es bereits mehrere sehr positive Besprechungen aus Bleeks peer group erhalten. [4]

Diese aus aktuellen methodischen und theoretischen Diskussionen gespeisten Einwände ändern nichts daran, dass man politik- und ideengeschichtlich Einiges aus Bleeks solider Studie lernen kann. Das liegt zunächst einmal daran, dass jedes Kapitel mit einer analytischen Zusammenfassung endet, die die biografische Erzählung mit systematischen Fragen verknüpft. In diesen Passagen bietet das Buch wichtige Anregungen für die künftige Forschung und ist an aktuelle Debatten anschlussfähig, ohne dass Bleek jedoch selbst diese Bezüge herstellt. Zwei dieser wichtigen Erkenntnisse seien hervorgehoben: Einerseits wird sehr deutlich, dass Konstitutionalismus vor 1871 eine eigene politische Richtung zwischen Liberalismus und Legitimismus war, deren wichtigster Vertreter Dahlmann war. Diese Erweiterung des politischen Spektrums macht terminologisch unbefriedigende und unsinnige Komposita wie "liberal-konservativ" überflüssig, die in den Darstellungen zur Geschichte des 19. Jahrhunderts zuhauf zu finden sind und die Analyse behindern. Denn Bleek zeigt überzeugend, dass sein Held sich nicht nur gegen die Charakterisierung als Liberaler verwahrt hat, sondern auch aus heutiger Perspektive keiner war. Zugleich kann man einen Mann nicht konservativ nennen, der durch sein theoretisches und praktisches Engagement und durch seinen ungeheuer populären Widerstand gegen Fürstenwillkür maßgeblich zur Delegitimation des Gottesgnadentums und zur Revolution der politischen Verhältnisse durch die Nationalstaatsgründung beigetragen hat! In einer der spannendsten Passagen des Buchs setzt sich Bleek mit der berühmten Rede Dahlmanns in den Verfassungsberatungen der Paulskirche am 22.1.1849 und ihrer Fehlwahrnehmung durch Treitschke und Meinecke auseinander, in der er neben "Freiheit" "Macht" zum zweiten Leitbegriff der Nationalstaatsgründung stilisierte: Deutschland müsse "endlich in die Reihe der politischen Großmächte" eintreten. Damit macht er einmal mehr deutlich, dass an die Stelle des Begriffspaars "Einheit" und "Freiheit", das immer wieder die Revolutionen von 1848/49 charakterisieren soll, die Trias "Einheit, Macht und Freiheit" treten muss, will man nicht den von Anfang an imperialen Wesenszug des deutschen Nationalismus verdrängen. [5]

Abschließend charakterisiert Bleek Dahlmann als gescheitert und folgt damit zu stark dessen Selbstbild - vor allem in den resignierten Jahren nach dem Scheitern der Nationsbildung, in denen Dahlmann mehrere autobiografische Skizzen schrieb. Zwar entgeht Bleek damit der Gefahr einer Glorifizierung. Aber gemessen an den Schicksalen anderer oppositioneller Politiker kam Dahlmann glimpflich davon. Außerdem war er ungeheuer populär, vor allem bei den Studenten - fast ein Popstar des 19. Jahrhunderts. Während der fünf Jahre, in denen er keine Stellung hatte, ermöglichten reichliche Spenden aus der Zivilgesellschaft ihm und anderen der Göttinger Sieben ein sorgenfreies Leben. Und nicht zuletzt gehört Dahlmann zu der großen Zahl der Reichsgründer, die gemeinsam und mit unterschiedlichen Schwerpunkten am Projekt der deutschen Nationsbildung arbeiteten und damit zwar nicht 1848/49, aber 1867/71 erfolgreich waren. [6] Unser Geschichtsbild ist immer noch zu sehr vom Heros Bismarck geprägt. Aber ohne Dahlmann, die Grimms, Rotteck, Welcker und die vielen namenlosen Reichsgründer hätte es kein neues Reich gegeben!

Meine Bilanz fällt zwiespältig aus: Aus wissenschaftlicher Perspektive eher negativ - zu wenig an die neuere Forschung angebunden, altväterliche Terminologie, Dahlmann als Historiker bleibt blass, kein Sachregister; aus politisch-pädagogischer Perspektive positiver: endlich gibt es eine gut geschriebene, neuere wissenschaftliche Biografie, die diesen Vordenker des Konstitutionalismus und Wegbereiter des Deutschen Reichs als Verfassungsstaat vor dem Vergessen bewahrt.


Anmerkungen:

[1] Friedrich Christoph Dahlmann: Die Politik, hg. von Wilhelm Bleek, Frankfurt/M. 1997.

[2] Friedrich Christoph Dahlmann: Quellenkunde zur deutschen Geschichte, Göttingen 1830, 10. Aufl. in 12 Bänden, Stuttgart 1965-1999.

[3] Es ist ein Topos, die Berater Friedrich Wilhelms IV. als "hochkonservative Kamarilla" (bei Bleek, 368, "Kamerilla") zu bezeichnen, obwohl der Begriff "konservativ" in der Zeit um 1848 problematisch ist und es mit "legitimistisch" einen viel präziseren Begriff gäbe. Eine Seite später werden dann die Katholiken Süddeutschlands und Österreichs als "ultrakonservativ" charakterisiert. Ist das noch konservativer als "hochkonservativ"?

[4] Vgl. Michael Stolleis: Ein konservativ-liberaler Verfassungsfreund des 19. Jahrhunderts, in: FAZ 30.11.2010; http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-3-036 von Ulrich Muhlack; http://www.freiheit.org/files/288/online2-10_Witte-Bleek.pdf von Barthold Witte.

[5] So argumentieren etwa Manfred Mayer: Freiheit und Macht. Studien zum Nationalismus süddeutscher, insbesondere badischer Liberaler 1830-1848, Frankfurt/M. 1994; Christian Jansen: Einheit, Macht und Freiheit. Die Paulskirchenlinke und die deutsche Politik in der nachrevolutionären Epoche (1849-1867), Düsseldorf 2005 (Studienausgabe).

[6] In diesem Sinne jetzt Christian Jansen: Gründerzeit und Nationsbildung 1849-1871, Paderborn 2011.

Rezension über:

Wilhelm Bleek: Friedrich Christoph Dahlmann. Eine Biographie, München: C.H.Beck 2010, 472 S., 33 Abb., ISBN 978-3-406-60586-4, EUR 34,95

Rezension von:
Christian Jansen
Technische Universität, Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Christian Jansen: Rezension von: Wilhelm Bleek: Friedrich Christoph Dahlmann. Eine Biographie, München: C.H.Beck 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 9 [15.09.2011], URL: https://www.sehepunkte.de/2011/09/18500.html


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