sehepunkte 11 (2011), Nr. 9

Alessandro Brodini: Michelangelo a San Pietro

Was Alessandro Brodini in seinem gewichtigen Buch unternommen hat, beschreibt Christof Thoenes treffend in der von ihm verfassten Vorrede: In Anbetracht der Tatsache, dass es keine umfassende Geschichte der Errichtung der Basilika von St. Peter gebe, erscheine es sinnvoll, "[...] einzelne Aspekte der großen Unternehmung zu untersuchen - sei es, dass man bestimmte Kategorien von Quellen heranzieht, sei es, dass man sich auf gewisse Teile des Bauwerks oder auf bestimmte Epochen seiner Geschichte konzentriert - in der Hoffnung, bestenfalls ein paar Abschnitte des Entstehungsprozesses zu erhellen" (11; Übersetzung des Rezensenten). Wie der Titel des Buches anzeigt, verwebt Brodini auf überzeugende Weise zwei Aspekte miteinander: Einerseits untersucht er eine für das Aussehen der heutigen Basilika entscheidende Epoche, nämlich den Zeitraum, in dem Michelangelo den von seinen Vorgängern begonnen Bau nach seinen Ideen umgestaltete; andererseits verfolgt er die Entwicklung der Eckkapellen und ihrer äußeren Kuppeln als charakteristische Elemente des kreuzförmigen Zentralbaus. Bekanntlich hinterließ Michelangelo kein umfassendes Projekt von St. Peter und unterließ es, seine Ideen grafisch zu fixieren; kurz vor seinem Tod verbrannte er sogar viele Zeichnungen. Wie er sich die vier Kapellen in den Ecken der Kreuzarme vorstellte, bleibt daher ungewiss (16).

Anschließend an die Einleitung gibt Brodini einen in seiner Art neuen Überblick über die äußerst komplexe Planungsgeschichte von Neu-Sankt-Peter bis in die Zeit des Antonio da Sangallo d.J.. Er verarbeitet dabei die beinahe unüberschaubare, zum Teil schwer zugängliche Forschungsliteratur. Neuartig ist auch die scharfsinnige Analyse des Entwicklungsprozesses, die, ausgehend von den vorhandenen Zeichnungen, die räumliche und volumetrische Entwicklung des Baus in den Vordergrund stellt und auf die Frage nach Funktion und Bedeutung der Nebenkuppeln ausgerichtet ist. Ging Bramante als erster Architekt von einem längsgerichteten Bau aus, präsentierte Giuliano da Sangallo im Winter 1505/06 die erste Planzeichnung eines Zentralbaus (Uffizien 8A recto; Abb. 27). Er sah einen Bau mit oktogonaler Hauptkuppel und runden Nebenkuppeln vor (29).

Neu sind auch Brodinis Ausführungen über den die Planung prägenden Gedanken, die räumliche Gliederung des Baus von außen sichtbar zu machen. Der Autor zieht dafür Zeichnungen Leonardos sowie Fra Giocondo zugeschriebene Darstellungen von Zentralbauten heran. Angestrebt wurde eine Übereinstimmung von Äußerem und Innerem (31). Trotz der Absicht, den Bau zu verbessern, hatte Michelangelo von bestehenden Elementen auszugehen. So übernahm er die von Bramante errichteten Vierungspfeiler und verstärkte sie. Von der Dimension dieser Pfeiler hing das Größenverhältnis von 1:3 zwischen der Haupt- und den Nebenkuppeln ab (49f.).

Auf der sorgfältigen Analyse einer großen Menge von Quellen beruhen Brodinis Erläuterungen zur Buchführung der Fabbrica di San Pietro, der sich die Forschung bisher kaum gewidmet hat. In der Buchhaltung spiegelt sich die komplexe Organisation der riesigen Unternehmung wider. Die unter Leo X. zu einer eigenständigen Organisation gewordene Fabbrica entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einem bedeutungsvollen architektonischen und bautechnischen Kompetenzzentrum, dessen Mitglieder alles andere als Dilettanten waren (62). Dennoch war das Verhältnis zwischen Michelangelo und den deputati der Fabbrica äußerst gespannt, da sich der Künstler vollkommene Autonomie bei der Auswahl seiner Mitarbeiter ausbedungen hatte. Er stützte sich auf ein Netzwerk ihm vertrauter Personen. Der Autor legt sodann Funktion und Kompetenzen des Vorstehers der Fabbrica dar und verdeutlicht, dass diese über einen Park von Kränen und Hebevorrichtungen verfügte, die sie auch an andere Bauunternehmungen vermietete (63).

Was die Nebenkuppelräume oder Eckkapellen betrifft, ist festzustellen, dass Michelangelo 1559 deren Fundamente ausheben ließ, um auf diese Weise sein Projekt materiell zu fixieren. In der Tat erfuhren die von Michelangelo angelegten Teile des Baus keine wesentlichen Veränderungen. Mit der Errichtung der Eckkapellen hat man allerdings erst nach Michelangelos Tod begonnen (82). Nachdem die Cappella Gregoriana 1578 im Rohbau fertiggestellt war und man mit der Dekoration ihres Inneren begonnen hatte, wurde die Errichtung ihrer äußeren Kuppel in Angriff genommen. Dieser padiglione war 1584 mit der Vollendung der Laterne abgeschlossen (117ff.). Einer Äußerung des Historikers Giacomo Grimaldi zufolge soll die Kuppel bald nach ihrer Vollendung zumindest teilweise abgebrochen und in anderer Gestalt wieder aufgebaut worden sein. Neu erschlossene Akten aus dem Archiv der Fabbrica dokumentieren zwar Abbrucharbeiten, deren Umfang lässt sich allerdings nicht genau bestimmen (120). Sicher ist hingegen, dass von 1596-1597 erneut an Laterne und Kalotte des padiglione der Gregoriana gearbeitet wurde. Diese Eingriffe standen im Zusammenhang mit der nur einige Monate zuvor abgeschlossenen Errichtung der äußeren Kuppel über der Cappella Clementina in der Südostecke. Während nämlich die Kalotte der Clementina einschalig konstruiert ist, weist die Kuppel der Gregoriana zwei Schalen auf, was man am unterschiedlichen Aufbau der Okuli erkennen kann: Wegen des zweischaligen Aufbaus ist bei der Gregoriana der Schacht unterhalb des Okulus höher als bei der Clementina und überdies mit schlitzartigen Öffnungen versehen, die sich zum Raum zwischen innerer und äußerer Schale öffnen. Nach Brodini sollte die Kuppel der Gregoriana durch die zweite Schale vielleicht der Form der Kuppel der Clementina angepasst werden; diese weist nämlich eine interne Attika auf, welche bei der Gregoriana nicht vorhanden ist (124 und Abb. 97, 98). Obwohl alle vier Eckkapellen untereinander gleich sind, sollten die beiden westlichen ohne äußere Kuppeln bleiben.

Ein weiteres Kapitel ist den Projekten gewidmet, welche die beiden Kuppeln über den Eckkapellen als Glockentürme zu benutzen gedachten (135-141). Diesen Gedanken hielt erstmals Ludovico Cigoli auf seinem in den Winter 1606/07 datierten Projekt für die Hauptfassade von St. Peter fest (Uffizien 2636A; Abb. 107). Gebrauche man die Kuppeln nicht als Glockentürme, schreibt Cigoli, wären sie umsonst gebaut worden, was für Michelangelo schlicht nicht denkbar sei. 1610 kamen tatsächlich die Glocken aus dem abzutragenden mittelalterlichen Turm in die Kuppel über der Cappella Clementina, wo sie wahrscheinlich bis gegen 1628 blieben. Nach der unglücklichen Episode von Berninis Campanili gelangten sie dann in jene Öffnung in der Attika der Fassade, in der sie sich noch heute befinden. Der Umstand, dass den strukturell nutzlosen padiglioni keine erkennbare Funktion zugeordnet war, irritierte nicht nur Cigoli, sondern auch noch die im 18. Jahrhundert mit St. Peter beschäftigten Architekten. Wie Brodini zeigt, ist auch die Frage, ob die beiden padiglioni liturgisch und rituell bedeutende Stellen des Inneren der Basilika von außen her sichtbar machen sollten, negativ zu beantworten. Das ist nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, dass seit Bramante die architektonische Gestalt des Bauwerks im Vordergrund stand und zeremonielle und liturgische Aspekte eine sekundäre Rolle spielten.

Zum Zeremoniell der Papstkrönung gehörte seit dem Mittelalter ein Gebet am Altar Gregors des Großen, der als vorbildlichster Stellvertreter Christi auf Erden galt (148). Da Paul V. die Reliquien dieses Heiligen vor dem Abbruch des alten Langhauses in den Hauptaltar der Cappella Clementina hatte übertragen lassen, spielte die Kapelle eine gewisse Rolle im Zeremoniell der Amtseinsetzung. Das Ritual passte sich in diesem Fall den räumlichen Gegebenheiten der neuen Basilika an. Die Kuppel über der Kapelle scheint aber nicht in unmittelbarer Verbindung mit dieser Funktion des Raumes zu stehen. Brodini gibt zu bedenken, dass der ebenfalls durch eine Kuppel ausgezeichneten Cappella Gregoriana keine bestimmte Funktion zugeordnet war (154-159). Dass die Kapelle Gregors XIII. als Sakramentskapelle diente, ist vornehmlich damit zu erklären, dass sie der erste und für mehr als ein Jahrzehnt einzige vollendete und liturgisch benutzbare Teil von Neu-St.-Peter war. Zurecht weist der Autor darauf hin, dass sich die Gregoriana als ein "offener", verschiedenen Zwecken dienender Raum erweist ("La Cappella Gregoriana sembra dunque configurarsi come uno spazio "aperto", adattabile a diversi scopi"; 155). Abschließend hält der Autor fest, es mache den Anschein, als ob Michelangelo die äußeren Kuppeln wahrscheinlich nicht für unabdingbare Elemente seines Projekts gehalten hätte. Aus diesem Grund stelle sich nach wie vor die Frage, ob er oder einer seiner Nachfolger ihr Erfinder gewesen sei (179).

Dem in einer klaren und flüssigen Sprache geschriebenen Textteil folgen ein umfangreicher, chronologisch geordneter Quellenanhang sowie ein Index der Namen. Hundertdreiundzwanzig in bester Qualität gedruckte Abbildungen, auf die im Text immer wieder verwiesen wird, bereichern das gehaltvolle Buch. Brodini ist es gelungen, durch eine genuin architektonische Argumentation die räumliche Entwicklung des Baus in überzeugender Weise darzustellen und neue Erkenntnisse zu einem schwierigen Thema, nämlich Michelangelos Tätigkeit am damals größten Bauwerk des Abendlandes, zu gewinnen. Die Arbeit zeichnet sich durch methodische wie thematische Vielseitigkeit aus und wird für die Forschung unentbehrlich sein.

Rezension über:

Alessandro Brodini: Michelangelo a San Pietro. Progetto, cantiere e funzione delle cupole minori, Roma: Campisano Editore srl 2009, 269 S., ISBN 978-88-88168-51-7

Rezension von:
Kaspar Zollikofer
Rom
Empfohlene Zitierweise:
Kaspar Zollikofer: Rezension von: Alessandro Brodini: Michelangelo a San Pietro. Progetto, cantiere e funzione delle cupole minori, Roma: Campisano Editore srl 2009, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 9 [15.09.2011], URL: https://www.sehepunkte.de/2011/09/20099.html


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