sehepunkte 11 (2011), Nr. 10

Nancy Evans: Civic Rites

Die Interdependenz von politischer Ordnung und den Kulten der Bürgergemeinden der griechischen Poleis und speziell die zwischen der Athener Demokratie und der Götter- und Heroenverehrung und ihren Bräuchen in Attika ist kein unbekanntes Phänomen. Nancy Evans vertieft in ihrer Monographie die Untersuchung ihres Zusammenwirkens und konzentriert sich dabei weitgehend auf Athen im 5. Jahrhundert v. Chr.. Ziel ist eine Synthese, welche das untrennbare Ineinanderwirken der Polis mit den städtischen Kulten, Festen und Opfern bzw. den 'Heiligen Gesetzen' und religiösen Traditionen darlegt. Dieser Konnex wird denn auch wiederholt bei der Betrachtung einzelner Götter und Feste Athens akzentuiert; zugleich warnt Evans eindringlich vor einem von der modernen, säkularen Demokratie geprägten Blick auf ihre antike Vorläuferin: Sie kannte eben keine Trennung von Staat und Kult. Vielfach hebt Evans zudem die für das politische System stabilisierende Wirkung der kultischen Bräuche hervor, deren Gegenstück die staatliche Fürsorge für die Einhaltung der überkommenen Formen der Götterverehrung, der Kultgesetze und -kalender sowie die Ahndung von Verletzungen dieser Regeln war. Da diese religiösen patria zentrale soziale und politische Werte beinhalteten, festigten sie die gegebene politische Ordnung und wiesen letztlich deren Gültigkeit aus, u.a. indem sie diese in ein einvernehmliches Verhältnis zu den Göttern setzten. Diese Traditionen wurden gegen Missachtung oder Manipulationen verteidigt, was u.a. mittels der Asebieprozesse geschah, die nach 404 durchgeführt worden sind. Allerdings ist die Sorge um die Validität der Regeln für den Kultsektor keine demokratische Eigenheit, sondern Gemeingut der Poleis gewesen, so dass zu erörtern wäre, ob die Demokratie und besonders die des 5. Jahrhunderts hier spezifische Wege beschritten hat und wenn ja, welche.

Als weiteren elementaren Gedanken stellt Evans heraus, dass die gesamte Ausstattung mit civic rites einem steten historischen Wandel unterworfen war, der auf die Geschichte Athens reagierte. Die Einbindung des Aufstiegs Athens im 5. Jahrhundert und des 'Athenian empire' in die Hauptfeste der Hegemonialmacht und ihre Modifizierung (u.a. 87-91) ist nur ein Beispiel dafür. Doch vermisst man auch an diesem Punkt Hinweise darauf, wie sich die Festkultur Athens just dadurch veränderte, dass dort eine Demokratie entstanden ist. Überhaupt wird der Wandel mehr eingeschärft als anhand eines oder mehrerer Kulte in einem Zuge vorgeführt.

Anhand der Skizzierung ausgewählter Kulte und Riten - Evans konzentriert sich vor allem auf Athena, die eleusinischen Gottheiten und Dionysos - tritt die Verquickung der bürgerlichen Religion und des politischen Lebens plastisch hervor, das auf nahezu allen Stufen der Entscheidungsprozesse in der Bürgerschaft und ihren Subeinheiten von Gebeten, Opfern, Weihungen etc. begleitet wurde und sich in einen Kultkalender einzupassen hatte, dessen Missachtung ebenso wie die ritueller Pflichten Glück und Gedeihen der Bürgerschaft zu gefährden drohte.

Sieben Kapitel befassen sich teils mit historischen Entwicklungen Athens, in deren Rahmen sich auch die Regeln für den Kultbetrieb wandelten, teils fokussieren sie auf ausgewählte Gottheiten und Feste. In den Kapiteln der ersten Kategorie (1, 3, 5) werden natürliche und historische Voraussetzungen und Grundlinien erläutert oder handelnde Personen vorgestellt. Die Verfasserin hat hier das Ziel, die Zusammenhänge "from the ground up" (9) zu erklären. Man erfährt daher u.a. einiges über den Tyrannenbegriff, antike Autoren oder über den Verlauf des Peloponnesischen Krieges, wobei die Zusammenhänge mitunter verkürzt dargestellt werden. Da es jedoch hauptsächlich um die 'öffentlichen Riten' der attischen Demokratie geht, wäre nach Auffassung des Rezensenten hier ein systematischerer Abriss der Grundpfeiler des Kultlebens der Gemeinde besser am Platze gewesen (etwa eine eingehendere Vorstellung der oft erwähnten Priesterämter Athens, des Opfer- und Festkalenders und ihrer Entwicklung oder der Phylen- und Demenkulte) als beispielsweise in Kap.1 auch für den Unkundigen anderenorts leicht greifbare Informationen über die Geschichte Athens und seine Gesetzgeber bis ans Ende des 6. Jahrhunderts. Die Bemerkungen zu den Veränderungen der Kulte von Solon bis Kleisthenes wie auch die folgenden Kapitel über die wichtigsten Feste und religiösen Bräuche der Gemeinde hätten dadurch eine bessere Fundierung erhalten. Den Lesern werden (9) denn auch vornehmlich die Kap.2, 4, 6 und 7 ans Herz gelegt, wenn sie den Hauptfaden der Argumentation verfolgen wollen.

Bei ihrer Analyse bedeutender Feste Athens ist es der Verfasserin treffend gelungen, die Stärkung der bürgerlichen Identität durch die gemeinsamen Zelebrationen mit ihren Hauptbestandteilen Festzug, Opfer und gemeinsames Mahl des Opferfleisches hervortreten zu lassen, ebenso aber auch die Grenzen der Integration in das Festgeschehen, die sich auf Metöken, Sklaven der Athener, aber ggf. auch Frauen bezogen, während die männlichen Vollbürger privilegiert wurden. Anders sah es bei Demeterfesten aus, die den Frauen eine bedeutende Rolle zuwiesen oder ihnen mindestens ebenso gut zugänglich waren wie den Männern. Die Funktion, innere Spannungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen Athens und den Geschlechtern abzubauen, ist sowohl für die Demeter- als auch für die Dionysosfeste (Kap. 4 und 6) gut herausgearbeitet.

Z.T. wird in diesen Kapiteln jedoch ein falscher Eindruck hinsichtlich der Sicherheit mancher Rekonstruktionsversuche von Ablauf und Entwicklung dieser Feste erzeugt, u.a. dadurch dass die Umstrittenheit der Datierung einiger zentraler Zeugnisse weder im Haupttext noch in den angehängten Hinweisen offen gelegt wird. Verschiedentlich ist ferner die Neigung erkennbar, kultische Neuerungen und Bauprojekte auf die Initiative 'großer' Politiker Athens zurückzuführen (z.B. 63f.,130,187), obgleich dies in der Forschung keineswegs mehr unumstritten ist. Hier wäre klarer hervorzuheben gewesen, dass alle Götter, Kulte, Opfer, Kalender etc. tangierenden Maßnahmen auf der freien Entscheidung der jeweiligen Bürgermehrheit beruhten, wurden mitunter auch Weisungen verschiedenartiger Autoritäten für die sacra berücksichtigt.

Am Ende stehen ein Glossar und nach Kapiteln geordnet Literaturtitel sowie Quellenhinweise. Die vollständigen bibliographischen Daten bietet das zu knapp ausgefallene Literaturverzeichnis mit nahezu ausschließlich englischsprachigen Titeln. Problematischer ist jedoch, dass hier und im Hauptteil des Buches nur relativ wenig Quellenangaben eingefügt sind, was die Nachvollziehbarkeit der Argumentation erschwert und auch die Nutzung des Buches in der Lehre, für das es vorgesehen zu sein scheint, beeinträchtigen dürfte. Karten und Abbildungen bieten lediglich recht vage Illustrationen zu geographischen Gegebenheiten, Kultorten und einzelnen Zeremonien. Druckfehler und Irrtümer sind nicht selten anzutreffen (z.B. auf 142: 427 statt 428, 222 und 249: temene statt temenoi; 236: 432-430; 45: der Heilige Staatsherd Athens befand sich im Prytaneion an der Alten Agora, nicht in der Tholos).

Insgesamt vermag "Civic rites" zwar die genannten Hauptgedanken zu illustrieren, dies geschieht jedoch in einer eher unsystematischen Weise, so dass kein abgewogener Überblick zustande gekommen ist.

Rezension über:

Nancy Evans: Civic Rites. Democracy and Religion in Ancient Athens, Oakland: University of California Press 2010, XX + 272 S., ISBN 978-0-520-26203-4, GBP 16,95

Rezension von:
Bernhard Smarczyk
Universität zu Köln
Empfohlene Zitierweise:
Bernhard Smarczyk: Rezension von: Nancy Evans: Civic Rites. Democracy and Religion in Ancient Athens, Oakland: University of California Press 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 10 [15.10.2011], URL: https://www.sehepunkte.de/2011/10/18221.html


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