sehepunkte 11 (2011), Nr. 10

Josef van Ess: Der Eine und das Andere

Das wissenschaftliche Zeitschriften hier und da ein Sonderheft bereitstellen, um eine Monographie zu publizieren, ist durchaus gängige Praxis. In der Regel haben solche Monographien einen eher moderaten Umfang, der wohl der durch die Bezeichnung 'Heft' gegebenen Suggestion entspricht. Im vorliegenden Fall allerdings ist die Bezeichnung 'Beiheft' zur renommierten islamwissenschaftlichen Zeitschrift Der Islam wohl etwas irreführend, umfasst das neue Opus von Josef van Ess doch stattliche 1.510 (!) Seiten inklusive Bibliographie und Indices, und kommt aufgrund dieser Dimension in zwei Bänden daher. Der Autor, dem wir mit Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra (ebenfalls verlegt durch de Gruyter, 1991-7) bereits das bahnbrechende und mit sechs Bänden ebenfalls beeindruckend umfangreiche Grundlagenwerk zur frühislamischen Theologiegeschichte verdanken, ist sich dieses Umstandes wohl bewusst, wenn er in seinem Vorwort auf die Beschränktheit "heutiger Lesefähigkeit" (XIII) anspielt. Es ist wohl in erster Linie der Prominenz des Autors zuzuschreiben, dass das Werk trotz dieses Umfanges eine ansehnliche Leserschaft finden wird.

Dabei scheint das neue Opus von van Ess in gewisser Weise thematisch an sein voluminöses Vorgängerwerk anzuknüpfen (und erscheint im Verhältnis dazu tatsächlich eher als ein 'Beiheft'): Im Zentrum steht nun die Problematik von Einheit und Vielfalt islamisch-religiösen Denkens, mithin von Rechtgläubigkeit und Devianz. Gerade letzteres Begriffspaar erlebt gegenwärtig innerhalb des radikalislamistischen Spektrums eine dramatische Zuspitzung: Die komplexe und, ob ihrer Konsequenzen, einst mit größter Vorsicht gehandhabte religionsrechtliche Praxis der Bezichtigung des Unglaubens (takfīr) - hier etwas unglücklich mit dem der christlichen Theologie entlehnten Terminus 'Verketzerung' übersetzt - scheint heute zu einem opportunen Instrument für die Durchsetzung eigener Geltungsansprüche geworden zu sein und legitimiert denen, die es verwenden, zudem die physische Vernichtung jeglicher Opposition.

Anders jedoch als jüngere gegenwartsbezogene Arbeiten geht es van Ess um die Darstellung der historischen Entwicklung dessen, was er mit 'Häresiographie' bezeichnet, nämlich die theologische Auseinandersetzung mit "Lehrabweichungen oder sektiererischen Gruppen" (1.201), und dies tut er, wie mit Recht erwartet werden durfte, mit äußerster Akribie und Umsicht. Den größten Teil nimmt dabei eine gründliche Betrachtung einzelner Autoren und deren relevanter Schriften ein, die sich zeitlich vom 8. bis zum 19. nachchristlichen Jahrhundert, räumlich zwischen Andalusien und dem indischen Subkontinent erstreckt, auch wenn der Schwerpunkt - wohl der größten Kompetenz des Autors geschuldet - deutlich auf den früheren Jahrhunderten liegt. Dieser höchst material- und detailreiche Hauptteil von über 1.000 Seiten ist allerdings wohl vor allem für SpezialistInnen von Interesse. Von Gewinn für eine breitere Leserschaft aber sind besonders der "Strukturelle Konstanten" betitelte einleitende Teil zu Ursprung und Frühentwicklung häresiologischen Denkens (7-102), und der abschließende dritte Teil, der sich der Beantwortung der Frage "Was verstehen wir unter islamischer Häresiographie" (1.201-1.369) aus literaturwissenschaftlicher, begriffsgeschichtlicher und zuletzt auch aus religionssoziologischer Perspektive nähert.

Den größten Raum des ersten Teiles nimmt eine sorgfältige Analyse des sogenannten 'Sekten-ḥadīṯ' ein - hierin sagt der Prophet Muḥammad den Zerfall der muslimischen Gemeinde in 73 Sekten (firaq), von denen letztlich nur eine der Erlösung teilhaftig würde, voraus -, bildet dieser ḥadīṯ doch den normativen Ausgangspunkt für die Entstehung der islamischen Häresiographie. Deutlich geht aus der Untersuchung hervor, dass bereits in der Frühzeit vielfältigste Gruppen einzelne Varianten dieses ḥadīṯ zur Rechtfertigung der eigenen Rechtgläubigkeit und gleichzeitigen Ausgrenzung aller anderen instrumentalisiert haben. Interessant ist in diesem Zusammenhang, vor allem in Hinblick auf Entwicklungen seit dem späten 19. Jahrhundert, dass bereits zu diesem frühen Zeitpunkt die Vergangenheit als Zeit politischer Einheit und moralischer Integrität mytisch verklärt worden ist: Nur der Zerfall der politischen Gemeinschaft, so wurde schon damals argumentiert, habe das Aufkommen von moralisch verwerflichen Praktiken und Ideen ermöglicht, die allesamt Gegenstand des bis heute andauernden Diskurses um die Etablierung von Orthodoxie geworden waren und, im Bestreben um Erlösung am Jüngsten Tag, zwangsläufig werden mussten.

Teil 3 schließlich systematisiert die philologischen Funde des oppulenten Hauptteiles: Angesichts des Umstandes, dass sich innerhalb der islamischen Literatur kein klar definiertes eigenständiges Genre für die "Kunst des verbalen Ausgrenzens" (1.243) - die Häresiographie - herausgebildet hatte, ist es nur folgerichtig, dass van Ess zunächst auf der Grundlage der im Hauptteil abgehandelten Autoren und Werke die verschiedenen literarischen Genres, die hierfür konstitutiv, oder doch zumindest kontributiv, gewesen sind, einschließlich möglicher vor- und nichtislamischer Vorbilder bespricht. Dem schließt sich, ebenfalls gespeist aus den Funden des Hauptteiles, eine gründliche terminologische Untersuchung von Gruppenselbst- und -fremdbezeichnungen und Gattungsbegriffen (hier insbesondere 'Sekte' [firqa] und ihre Nebenbegriffe, sowie Orthodoxie und - in einem 14-seitigen begriffsgeschichtlichen Exkurs - zu takfīr) an.

Im letzten größeren Abschnitt des dritten Teiles schließlich sucht van Ess zu erklären, warum, wann und wie es zum Bedürfnis der Etablierung von Orthodoxie gekommen war, und durch welche Mechanismen diese zu etablieren gesucht wurde. Hierfür beleuchtet er verschiedene Akteursgruppen - religiöse wie eher weltlich-politische -, sowie die Aushandlungsprozesse von Zuständigkeitsbereichen zwischen diesen, denen hier etwas unglücklich der historisch recht klar besetzte Begriff 'Kulturkampf' (1.323) gegeben wurde, wenn zugegebenermaßen in Anführungszeichen. In dem Moment, da gelehrte Gemeindevertreter - die späteren 'ulamā' - ihr Definitionsmonopol in Glaubensfragen durchgesetzt haben, entstand wohl Häresiographie im eigentlichen Sinne, "ursprünglich eher eine Bestandsaufnahme" (1.358) verschiedenster Interpretationen von Religion, die zu einem bestimmten Zeitpunkt existiert haben. Erst im Zuge der zunehmenden Institutionalisierung des religiösen Wissens im Lehrbetrieb machten sich in wachsendem Maße Kanonisierungstendenzen bemerkbar, die schließlich zur Häresiographie als "Kunst des verbalen Ausgrenzens" führte. Was hieraus jedoch deutlich hervorgeht, ist die Anerkenntnis von vielfältigen und oft widerstreitenden Lehrmeinungen, mithin von Pluralität, ob nun von den einzelnen Autoren begrüßt oder verdammt. Diese Pluralität aufzuzeigen ist van Ess erneut durchaus beeindruckend gelungen, auch wenn man sich eventuell gelegentlich eine weniger antiquierte Ausdrucksform und mehr historisch-kritische Distanz angesichts der wohl durch diesen Stil begünstigten regelmäßig auftauchenden Allsätze und Mutmaßungen gewünscht hätte.

Rezension über:

Josef van Ess: Der Eine und das Andere. Beobachtungen an islamischen häresiographischen Texten (= Studien zur Geschichte und Kultur des islamischen Orients. Beihefte zur Zeitschrift "Der Islam"; Bd. 23), Berlin: de Gruyter 2011, 2 Bde., XXVII + 1511 S., ISBN 978-3-11-021577-9, EUR 199,95

Rezension von:
Jan-Peter Hartung
London
Empfohlene Zitierweise:
Jan-Peter Hartung: Rezension von: Josef van Ess: Der Eine und das Andere. Beobachtungen an islamischen häresiographischen Texten, Berlin: de Gruyter 2011, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 10 [15.10.2011], URL: https://www.sehepunkte.de/2011/10/20095.html


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