sehepunkte 12 (2012), Nr. 6

Hans-Dieter Heumann: Hans-Dietrich Genscher

Die historische Biografieforschung erlebt seit ihrer Wiederentdeckung in den 1980er Jahren einen regelrechten Boom. Umso erstaunlicher ist es, dass bislang keine wissenschaftliche Darstellung zum politischen Lebensweg Hans-Dietrich Genschers vorlag. Pünktlich zu dessen 85. Geburtstag präsentiert nun Hans-Dieter Heumann, seit 1980 Angehöriger des Auswärtigen Dienstes und promovierter Politologe, eine Biografie des langjährigen Außenministers und Übervaters der FDP.

Die Arbeit gliedert sich in die drei Kapitel "Mensch", "Politiker", "Staatsmann", in denen Heumann alle wichtigen Stationen im politischen Leben Genschers weitgehend chronologisch abarbeitet. Einen klaren Schwerpunkt setzt der Autor allerdings auf Genschers Zeit als Außenminister. Dabei stützt er sich, wie er im Vorwort erklärt, neben Zeitzeugengesprächen auf bislang nicht publizierte Akten aus den Beständen des Auswärtigen Amtes. Heumann ist insbesondere an folgenden Aspekten interessiert: erstens an der Herkunft und frühen politischen Prägung Genschers, zweitens an seinem Einfluss auf die Deutschland- und Entspannungspolitik der Bundesregierung und drittens an den von Genscher angewandten Kommunikationsmechanismen für die Gestaltung auswärtiger Politik.

Die zentralen Prägekräfte für Genschers Persönlichkeit und politisches Wirken sieht Heumann in dessen Herkunft, seiner beruflichen Qualifikation als Jurist und vor allem in seinen frühen gesundheitlichen Problemen. So verweist der Autor auf Genschers tiefe emotionale Bindung an seine Geburtsstadt Halle, die er sich trotz oder gerade wegen seiner Flucht aus der DDR 1952 bewahrt habe. Als Beleg führt Heumann die unzähligen Reden, Publikationen und persönlichen Gespräche an, in denen Genscher regelmäßig auf seine "mitteldeutsche" Herkunft rekurrierte und damit seine gleichsam angeborene und kulturell geprägte Funktion als Mittler zwischen Ost- und Westdeutschland begründete. Als bedeutende, durch die Tätigkeit als Anwalt geschulte Wesensmerkmale erkennt Heumann zudem Genschers schier unstillbaren Wissensdrang, der sich in umfangreichem, akribischem Aktenstudium äußerte, und sein taktisches Geschick, mit dem er auf innenpolitischer und diplomatischer Bühne erfolgreich agierte. Darüber hinaus betont Heumann die erstaunliche Willensstärke und Durchsetzungsfähigkeit Genschers, die es ihm ermöglichte, aus so mancher politischen Krise gestärkt hervorzugehen. Problematisch wird die Deutung Heumanns allerdings, wenn er diese Charaktereigenschaften als direkte Folge der frühen Erkrankung Genschers an Lungentuberkulose deutet: Der Kampf gegen die Krankheit habe ihn "vor eine Willensentscheidung, einen Kreuzweg" zwischen Resignation und aktiver Lebensgestaltung gestellt. Genscher habe sich für letzteres entschieden und die "Erfahrung des nahen Todes" auf dem Gebiet der Politik und Diplomatie "schöpferisch umgesetzt" (36).

Entsprechend seiner Zielsetzung, das dominante Bild von Helmut Kohl als dem "Kanzler der Einheit" zu entmythologisieren, bemüht sich Heumann, Außenminister Genscher als dem eigentlichen Architekten der Einheit "Gerechtigkeit widerfahren zu lassen" (8). Überzeugend arbeitet Heumann heraus, dass der Außenminister dem KSZE-Prozess für die Deutschland- und Entspannungspolitik schon früh größere Bedeutung beimaß als dies die Bundeskanzler Schmidt und Kohl taten. Genscher erkannte das Potenzial der KSZE, die in ihrer Multilateralität Moskau band, den osteuropäischen Satellitenstaaten der Sowjetunion eine eigene Stimme verlieh und einen Dialog über Blockgrenzen hinweg möglich machte. Allerdings unterliegt Heumann zugleich der teleologischen Versuchung biografischen Erzählens, wenn er diese Erkenntnis Genschers auf Mitte der sechziger Jahre zurückdatiert und sie mit der kaum wissenschaftlich zu nennenden Analysekategorie der "visionäre[n] Fähigkeit" Genschers begründet (92). Mit Blick auf die Wiedervereinigung nach dem Fall der Mauer konstruiert Heumann dementsprechend ein Schwarz-Weiß-Bild: hier der kurzsichtige Innenpolitiker Kohl, der aus wahltaktischen Gründen im Alleingang den Zehn-Punkte-Plan initiiert habe, dort der weitsichtige Außenminister Genscher, der durch seine diplomatischen Verhandlungen zum 2+4 Vertrag als wahrer Staatsmann die Einheit überhaupt erst ermöglicht habe.

Als Spezifikum politischer Kommunikation à la Genscher erkennt Heumann dessen Bemühen, auf diplomatischer Ebene Vertrauen zu gewinnen. Dies sei Genscher durch sein persönliches Auftreten und Charisma gelungen, so dass er von Richard von Weizsäcker treffend als "personifizierte vertrauensbildende Maßnahme" bezeichnet worden sei (46). Umgekehrt traf Genschers Gesprächsbereitschaft nach allen Seiten, vor allem auch gegenüber den Warschauer-Pakt-Staaten, auf das Misstrauen der USA. Hier wurde der bis heute hoch umstrittene Begriff des "Genscherismus" geprägt, der von Heumann nicht genauer definiert wird. Das ist ebenso zu bedauern wie die Tatsache, dass die Kommunikationsstrategie auf diplomatischer Ebene unverknüpft neben die Medienpolitik Genschers gestellt wird. Völlig zu Recht konstatiert Heumann zwar, dass das Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zu einer der wichtigsten Stabsstellen im Auswärtigen Amt avancierte: Es war nicht zuletzt die personenzentrierte Vermarktung des Außenministers, die diesen überraschend schnell und gestärkt aus der Krise des Jahres 1982 heraustreten ließ. Unter dem Label "Genschman" wurde der "Reiseaußenminister" vorübergehend zu einer Kultfigur stilisiert. Gerade die spannende Frage nach den Interaktionsmechanismen zwischen diplomatischer und medialer Kommunikationsstrategie aber wird von Heumann nicht aufgegriffen.

Insgesamt gibt die Arbeit dem historisch interessierten Laien einen ersten Einblick in das Leben und politische Handeln des dienstältesten Außenministers der Bundesrepublik. Seinen selbst formulierten Ansprüchen und den Standards wissenschaftlichen Arbeitens wird Heumann allerdings nur bedingt gerecht. Erstens spiegelt die außenpolitische Analyse nicht die vom Autor angekündigte fundierte und umfangreiche Quellenarbeit wider. Er stützt sich überwiegend auf Zeitzeugeninterviews und Autobiografien, während die Akten des Auswärtigen Amtes nur in Einzelfällen und dann meist auch noch ungenau zitiert werden. So nimmt es nicht Wunder, dass Heumann, zweitens, in teleologische Deutungsmuster verfällt und der "biographischen Illusion" (Bourdieu) unterliegt, vor der er im Vorwort selbst gewarnt hat (9). Mit der geradezu hagiografischen Überhöhung Genschers folgt der Autor der von der Forschung längst als Konstruktion erkannten Idee eines ebenso kohärenten wie linearen Lebensweges. Drittens ist die Arbeit über weite Strecken durch mangelnde analytische Schärfe gekennzeichnet. Die Untersuchung versäumt es, den zentralen Begriff der Kommunikation in seiner Multidimensionalität zu entflechten und verharrt stattdessen im Deskriptiven. Gerade hier hätte das Potenzial für neue Erkenntnisse über die Interaktion zwischen Diplomatie, Parlament und Medien gelegen. Statt eine reine Lebensbeschreibung zu liefern, hätten von einer wirklichen Biografie Genschers, die ihren Schwerpunkt auf die Außenpolitik setzt, Forschungsanreize für ein neues Verständnis der internationalen Beziehungen im 20. Jahrhundert ausgehen können. So wartet die Forschung nach wie vor auf eine wissenschaftlich fundierte, quellengestützte und innovative Biographie Hans-Dietrich Genschers.

Rezension über:

Hans-Dieter Heumann: Hans-Dietrich Genscher. Die Biographie, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012, 346 S., 54 Abb., ISBN 978-3-506-77037-0, EUR 24,90

Rezension von:
Agnes Bresselau von Bressensdorf
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Agnes Bresselau von Bressensdorf: Rezension von: Hans-Dieter Heumann: Hans-Dietrich Genscher. Die Biographie, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 6 [15.06.2012], URL: https://www.sehepunkte.de/2012/06/20796.html


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