sehepunkte 13 (2013), Nr. 7/8

Lorraine Bluche: Von Bauern zu Europäern?

Wenn Frankreich seine natürlichen Gegebenheiten ausnutzte, so der christdemokratische Abgeordnete André Lescorat in der französischen Nationalversammlung im Februar 1949, könne es zur "première nation agricole du monde" werden. Die feste Überzeugung von der "vocation agricole" - der landwirtschaftlichen Bestimmung der Nation - war seit dem 19. Jahrhundert elementarer Bestandteil der nationalen Identität Frankreichs und eine unumstrittene Konstante im agraristischen Diskurs.

Lorraine Bluche untersucht in ihrer 2012 in der Reihe "Moderne Geschichte und Politik" erschienenen Dissertation, wie sich der agraristische Diskurs in Frankreich zwischen 1944 und 1962 mit der Herausforderung des beschleunigten Strukturwandels und der entstehenden europäischen Integration auseinandersetzte. Da Bluche alle diejenigen als Agrarier bezeichnet, "die sich [...] zu agrarpolitischen Fragen öffentlich äußern und/oder im agrarpolitischen Feld aktiv sind" (19), galt es, eine äußerst breite Quellenbasis zu erfassen. Gegenstand der Untersuchung waren somit Parteien, Ministerialbeamte und Minister, Bauernverbände, Fachwissenschaftler und Journalisten. Bluches Arbeit ordnet sich methodisch in das Gebiet der Diskursanalyse ein und will einen "Beitrag zu einer Kulturgeschichte der Agrarpolitik" (23) leisten.

Im ersten der drei großen Teile der Dissertation werden die "Erfindung des französischen Bauern" (53) und die Entstehung eines agraristischen Diskurses von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Vichy-Regimes 1944 nachgezeichnet. Durch das allgemeine Wahlrecht waren die Bauern zu einer gewichtigen politischen Größe geworden, die mit der Entstehung von Bauernverbänden zunehmend eine kohärente "identité paysanne" gewann. Spätestens nach dem Ersten Weltkrieg wurde der bäuerliche Familienbetrieb endgültig zum Leitbild aller Diskursteilnehmer und der Protektionismus zur Staatsdoktrin in Sachen Agrarpolitik - nicht nur in Frankreich.

Der zweite und dritte Teil von Bluches Arbeit widmen sich dem eigentlichen Untersuchungszeitraum zwischen 1944 und 1962. Nach 1944 bestand ein breiter Konsens darüber, dass die französische Landwirtschaft aufgrund langjähriger Versäumnisse ein enormes Modernisierungsdefizit aufzuholen hatte, wollte sie der "vocation agricole" gerecht werden. Dabei sah sich der Staat in der Rolle des Erziehers, der mittels Preis- und Absatzgarantien die nötigen Anreize zur Modernisierung und Produktionssteigerung zu geben hatte. Nachdem bis Ende der 1940er Jahre die Versorgungsengpässe gelöst waren, sollte die Landwirtschaft zum Exportsektor ausgebaut werden, wobei vor allem Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland als potenzielle Absatzmärkte ins Visier genommen wurden. Die vorwiegend marktpolitischen Maßnahmen zeigten Wirkung, als sich ab Anfang der 1950er Jahre eine allmähliche Überproduktion abzeichnete, die versprochenen Absatzmärkte aber immer noch fehlten. Über den gesamten Untersuchungszeitraum stellte die Steigerung der Agrarproduktion eines der vorrangigen Ziele der französischen Agrarpolitik dar, das mit Hilfe des politisch erzeugten "Sicherheitsdispositivs" (z.B. 365) erreicht werden sollte. Dabei standen die wenigen Wirtschaftswissenschaftler, die sich für eine Schrumpfung des Bauernstandes und die Anerkennung der wirtschaftlichen Realitäten aussprachen, am äußersten Rande des Diskurses.

Die Landwirtschaft wurde im französischen Diskurs als besonderer Wirtschaftssektor angesehen, der - stets vor dem Hintergrund der unumstrittenen "vocation agricole" - als Hort besonderer Werte auch eine gesellschaftspolitische Funktion hatte. Das in der Bundesrepublik zentrale Motiv der Sicherung der Volksernährung scheint in Frankreich hingegen kaum eine Rolle gespielt zu haben. Besonders interessant ist der Umstand, dass alle politischen Parteien, selbst die Kommunisten, den bäuerlichen Familienbetrieb als Leitbild französischer Agrarpolitik betrachteten und dies in ihre jeweiligen Ideologien zu integrieren wussten. In der ab Mitte der 1950er Jahre einsetzenden Diskussion um die europäische Integration zeigte sich auch, dass dieses Leitbild für sämtliche europäische Nationen galt.

In den Verhandlungen zum EWG-Vertrag von 1957 und auch in den konkreteren Abmachungen zu einer gemeinsamen Agrarpolitik innerhalb der EWG wie dem Brüsseler Agrarmarathon Anfang 1962 konnte Frankreich seine Forderungen durchsetzen: Die Ausweitung des nationalen Sicherheitsdispositivs für die Landwirtschaft auf Europa und die Etablierung von Marktordnungen für einzelne Agrarprodukte anstelle des Abbaus von Zollschranken entsprachen ziemlich genau dem, was die französische Regierung sich von der gemeinsamen Agrarpolitik erhofft hatte. Auf nationaler Ebene wurde die europäische Integration als Heilsbringer für die französische Landwirtschaft angepriesen, sollte sie doch einerseits neue Absatzmärkte erschließen und andererseits zum Motor der Modernisierung werden. In der nationalen Gesetzgebung spielte ab Ende der 1950er Jahre zudem die Strukturpolitik eine immer größere Rolle. Während der konservative, großbäuerliche meinungsführende Verband FNSEA stets für das Primat der Preispolitik stand, etablierte sich in diesen Jahren der Jungbauernverband CNJA mit einem Programm, das der Strukturpolitik den Vorrang gab und damit erstmals auch eine deutliche Abnahme der Zahl an Betrieben in Kauf nahm. Dem CNJA und Landwirtschaftsminister Edgard Pisani gelang damit zum Ende von Bluches Untersuchungszeitraums erstmals ein "Spagat zwischen Tradition und Moderne" (432), der Preis- und Strukturpolitik gleichermaßen berücksichtigte. So war im Jahr 1962 sowohl die Gemeinsame Agrarpolitik "Realität geworden" (448), als auch ein neuer Weg in der französischen Agrarpolitik eingeschlagen worden, ohne dass die großen Ziele der Einkommensparität und der Exportorientierung erreicht worden waren.

Auch wenn der Rezensent die Arbeit mit Gewinn und Begeisterung gelesen hat, so seien einige wenige kritische Anmerkungen doch erlaubt. Die kleinteilige Kapitelgliederung sorgt dafür, dass zentrale Ergebnisse der Arbeit in zahlreichen Zwischenfazits wiederholt werden und so ganz gewiss beim Leser ankommen. Jedoch werden manche Befunde so häufig wiederholt, dass dies fast schon störend wirkt. Ähnlich verhält es sich mit dem Umstand, dass manche Positionen innerhalb des Diskurses mit einer Vielzahl an Zitaten deckungsgleichen Inhalts belegt werden, die für keinen argumentativen Mehrwert sorgen. Ebenso hätte sich der Rezensent an manchen Stellen einen etwas umfangreicheren Kontext rund um den agraristischen Diskurs gewünscht: Es wird nicht erläutert, ob die Angst der französischen Agrarier vor den innereuropäischen Konkurrenten auch berechtigt war. Außerdem wäre es interessant gewesen, wie die Forderungen der Bauern und die immensen Steigerungen des Agraretats in der breiten Öffentlichkeit aufgenommen wurden. Schließlich hätte die omnipräsente Forderung nach der Einkommensparität mit der gesamtwirtschaftlichen und -gesellschaftlichen Entwicklung der "trente glorieuses" verknüpft werden müssen.

Dies ändert jedoch nichts daran, dass Bluches Arbeit einen überzeugenden und wichtigen Beitrag zur Zeitgeschichte der französischen Landwirtschaft darstellt. Die Lektüre sei nicht nur Spezialisten der Agrargeschichte empfohlen, sondern jedem, der ein weitergehendes Interesse für europäische Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts und die Anfänge der europäischen Integration hat.

Rezension über:

Lorraine Bluche: Von Bauern zu Europäern? Der agrarische Diskurs in Frankreich, 1944-1962 (= Moderne Geschichte und Politik; Bd. 25), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2012, 513 S., ISBN 978-3-631-63478-3, EUR 79,95

Rezension von:
Raphael Gerhardt
München
Empfohlene Zitierweise:
Raphael Gerhardt: Rezension von: Lorraine Bluche: Von Bauern zu Europäern? Der agrarische Diskurs in Frankreich, 1944-1962, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 7/8 [15.07.2013], URL: https://www.sehepunkte.de/2013/07/22765.html


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