KOMMENTAR ZU

Mario Kessler: Rezension von: Matthias Steinbach / Uwe Dathe (Hgg.): Alexander Cartellieri. Tagebücher eines deutschen Historikers. Vom Kaiserreich bis in die Zweistaatlichkeit (1899-1953), München: Oldenbourg 2014, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 10 [15.10.2014], URL: http://www.sehepunkte.de/2014/10/25095.html


Von Matthias Steinbach

Mario Kessler richtet in seiner Lesart der Tagebücher Alexander Cartellieris besonderes Augenmerk auf die politischen Urteile des Historikers. Dies ist grundsätzlich nicht zu kritisieren, gleichwohl andere Dimensionen bzw. Kontexte des edierten Textes so kaum in gebührender Weise zur Geltung kommen: Mensch, Wissenschaftler, Bürger, Spaziergänger fallen in eins mit dem politischer Beobachter, der zudem, wie beklagt wird, "ohne 'Antenne' für die literarische Moderne" sowie in seinem machtgeschichtlichen Konservativismus "blind für Anregungen der französischen Sozialgeschichtsschreibung" geblieben sei. Immerhin: Die ersten Jahrgänge der Annales schaffte Cartellieri für die Jenaer Seminarbibliothek an, was allerdings nicht in seinem Tagebuch steht. Man mag hinnehmen, dass das offensichtliche Rezensenteninteresse an einem zumindest bis 1914 international tätigen, anerkannten und dabei nicht nur patriotischen, sondern auch altliberalen Grundsätzen verpflichteten deutschen Mediävisten - der etwa ausgiebig Rechenschaft über die Entstehung einer groß angelegten und im Austausch mit englischen, französischen und belgischen Kollegen gewachsenen politischen Biografie des französischen Königs Philipp II. August ablegt - auf den Jahren nach 1918 liegt und insbesondere dessen verbal artikuliertes Verhältnis zum Nationalsozialismus betrifft. Dieser Frage kann nicht ausgewichen werden. Zu schwer wiegen für die deutsche und europäische Geschichte die Jahre der Hitlerdiktatur, deren Anhänger Cartellieri in erschreckender Nibelungentreue bis zum bitteren Ende blieb.

Widerspruch muss indes gegen undifferenzierte, bisweilen auf denunziatorischer Zitationspraxis beruhende Zuspitzungen erhoben werden, mit denen der Rezensent Glauben macht, das edierte Tagebuch sei lediglich von Belang, weil sich in ihm ein typischer Vor- und Mitdenker zunächst des wilhelminischen Nationalismus, sodann des Nationalsozialismus offenbare. Einige Beispiele: "Seite um Seite zeigen sich", so Kessler, "ressentimentgeladene Passagen gegen alles, was seinem starren Weltbild widersprach. So nimmt es nicht Wunder, dass er das Hitler-Regime und dessen Terror gegen Andersdenkende begrüßte." Eine Tagebuchnotiz, in der Cartellieri den "Terror gegen Andersdenkende begrüßte", hat Rezensent allerdings nicht parat. Er hätte sie auch nicht gefunden. Vielmehr wäre er bei etwas genauerer und vorurteilsfreierer Lektüre, abgesehen von Beispielen alltäglicher Solidarität mit Andersdenkenden, wie den politisch verfemten Kollegen Eberhard Grisebach oder Hans Leisegang (ein Blick ins Register hätte genügt), auf Einträge wie diese gestoßen: "Die Gegner der Nazis halten einen für feige, wenn man nicht mit ihnen schimpft, und ihre Freunde für unbrauchbar, wenn man nicht mit ihnen lobpreist. Gemäßigt sein ist immer schwierig" (8. Juli 1934). Oder im Zusammenhang mit den deutschen Hochschulmeisterschaften im Sport, die, für Cartellieri überaus irritierend, zu einer Demonstration des NS gerieten: "Das Wort Freiheit ist unserem Sprachschatz entrückt" (30. Juni 1935). Der leichtfertigen Behauptung Kesslers: "Stets war er voller Lob, wenn er Goebbels las oder im Radio hörte", lässt sich der Eintrag entgegenstellen: "Aber die Essener Rede von Goebbels kommt doch wie andere ähnliche auf den beschränkten Untertanenverstand hinaus. Ich verstehe Fanatismus, aber ruhige Klarheit wirkt auf die Dauer mehr. Der Staatsmann soll kein Fanatiker sein" (25. Juni 1934). Man soll nicht beckmesserisch sein, und das Tagebuch Cartellieris ist tatsächlich Spiegel einer zerrissenen Figur und fragmentten Existenz in Zeiten der Krise. Kessler sagt kurz und knapp: "Cartellieri war ein Antisemit." Belegt wird dies - ohne jeden weiteren Hinweis auf mögliche andere, auch widersprüchliche Bezugsstellen im Text und ein dann doch wohl gebotenes "Einerseits - Andererseits" - anhand der Reaktion auf den Selbstmord Clara Rosenthals. Der Diarist zeigte sich, so Rezensent, darüber zwar "sehr bewegt", "doch sei dies", wie Cartellieri weiter zitiert wird, "ein Zeichen der Zeit, und schließlich habe sie ja in ihrem Leben auch 'viel genossen'". Die reduktionistische Arbeitsökonomie des Kritikers erhellt sich mit Blick auf die originale Bezugsstelle am Schluss eines längeren Steckbriefes, so wie ihn Cartellieri öfter zum Tod von Kollegen und Bekannten verfasste. Wörtlich hieß es da: "Der Freitod der Frau Rosenthal gehört zu den Zeichen der Zeit. Sie hat sehr viel genossen, zuletzt sehr viel gelitten" (11. November 1941).

Am Ende seiner Besprechung verweist Rezensent auf Saul K. Padovers Werk "Experiment in Germany" (1946) und legt damit offen, dass er Cartellieris Tagebücher letztlich als Beweismittel einer Anklage durchkämmt hat. Und er wird selbstverständlich fündig. Doch ist die Weltgeschichte nicht das Weltgericht. Der Verfasser der Tagebücher hatte einst in einem Moment des Nachdenkens über evtl. Streichungen entschieden: "Mein Tagebuch ist ein Abbild meiner selbst und es soll Wahrheit darin sein, auch gegen mich" (6. März 1932). Mario Kessler hat aus dem "auch" ein "nur" gemacht.

Anmerkung der Redaktion: Mario Kessler hat auf eine Replik verzichtet.