sehepunkte 14 (2014), Nr. 12

Christopher Herrmann / Edmund Kizik (Bearb.): Chronik der Marienkirche in Danzig

Die rechtstädtische Pfarrkirche St. Marien mit ihrer ungewöhnlichen Dichte bedeutender Ausstattungsstücke ist bis heute herausragendes Zeugnis für die Prosperität Danzigs im Spätmittelalter. In Zeiten konfessioneller Umbrüche ist der Erhalt des katholischen Erbes nicht zuletzt der konservierenden Haltung der Lutheraner zu verdanken. Eine der wichtigsten Quellen hierzu und zu den Ereignissen im Umfeld der Marienkirche bis 1616 stellt das "Historische Kirchen Register" des langjährigen Kirchenpflegers Eberhard Bötticher (1554-1617) dar. Das mehr als 570 Seiten umfassende Originalmanuskript wird in der Danziger Bibliothek der Polnischen Akademie der Wissenschaften (BGPAN) unter der Signatur Ms. Uph. fol. 18 aufbewahrt und war aufgrund kritischer Äußerungen Böttichers über den Danziger Rat und abfälliger Bemerkungen gegenüber Calvinisten vermutlich nicht für den Druck vorgesehen (7). Nach nun knapp 400 Jahren legen die Kunsthistoriker Christofer Herrmann und der Neuzeithistoriker Edmund Kizik erstmals eine vollständige Edition und quellenkundliche Untersuchung des Autografs vor, das insbesondere in seinen späteren Abschriften rezipiert worden war. Die Bearbeiter führen in sechs Beiträgen exemplarisch in die Konfessionsgeschichte des neuzeitlichen Danzig, die Vita Eberhard Böttichers, seine Aufgabe als Kirchpfleger der Marienkirche und den Umgang mit vorreformatorischen Kirchenbesitz ein, wobei die Texte jeweils in deutscher wie auch in polnischer Sprache veröffentlicht sind.

Die beiden ersten Beiträge Edmund Kiziks setzen sich mit den gesellschaftlichen, politischen und konfessionellen Konfliktfeldern Danzigs an der Wende zum 17. Jahrhundert auseinander. Der aus der mittleren Danziger Bürgerschicht stammende Eberhard Bötticher, dessen Leben dank seiner Tagebücher nachgezeichnet werden kann, hat als überaus ambitionierter Autodidakt auch ohne akademische Ausbildung Ansehen in der Stadt erlangt und wurde 1602 in das Gremium der Kirchenväter der Marienkirche berufen. Welche besondere Aufgabe diesem Amt zukam und inwiefern die Organisation des Kirchenvermögens von der Forschung noch nicht erschöpfend behandelt worden ist beziehungsweise aufgrund der Fülle des Materials kaum umfassend untersucht werden kann, wird in dem folgenden Beitrag von Christofer Herrmann zur "fabrica ecclesiae" deutlich. [1] Die Institution der "Kirchenpflegschaft", oder gebräuchlicher "Kirchenfabrik", und ihre vom Rat eingesetzten Verwalter, in Danzig Kirchenväter genannt, hatten die gesamte Finanz-, Grundstücks- und Personalverwaltung inne und waren auch für sämtliche Bauaktivitäten sowie einen großen Teil der Ausstattung zuständig. Überaus spannend ist, dass sogar für die annähernd 50 Privatkapellen und -altäre eine eigene "fabrica" eingerichtet war. [2] Herrmann bewertet die Chronik in weiten Teilen als "eine Art Rechenschaftsbericht" (122), wie die lückenlose Dokumentation der Tätigkeiten und Wahlen der Gremienmitglieder von 1457 bis 1612 nahelegt. Die Reformation brachte fundamentale Einschnitte in der Finanzverwaltung mit sich, da annähernd sämtliche Einnahmequellen entfielen, darunter vor allem Ablässe, Testamentsverschreibungen, Altar- und Seelgerätsstiftungen. Interessant ist dahingehend zu verfolgen, wie Herrmann die Umfinanzierung durch Grundbesitz, Sammlungen und Gebühren anhand der Aufzeichnungen Böttichers nachvollzieht (130-133). Wurden für den Gottesdienst der evangelischen Gemeinde neue Einrichtungsgegenstände in Auftrag gegeben (208-210), blieben jedoch große Bauinvestitionen aus. Da Aufträge und die Abrechnung von Bauarbeiten und Ausstattungsstücken über die Kirchenväter liefen, beschäftigte sich Bötticher zwangsläufig mit Fragen zur Bau- und Ausstattungsgeschichte und stellte eine Reihe von Kunstdenkmälern "zu Zier" der Kirche heraus (658), wobei ihm über eine künstlerische Wertschätzung hinaus keinesfalls ein Interesse für Ikonografie attestiert werden kann. Die von Herrmann unter den Eingriffen der Lutheraner aufgelistete vollständige Weißung des Innenraums in den Jahren 1550 und 1601 (211) ist andernorts auch in vorreformatorischer Zeit bezeugt, wie beispielsweise in der Nürnberger Pfarrkirche St. Sebald. [3]

Die Publikation ist sehr darauf bedacht, die überbordende Fülle an Informationen übersichtlich zusammenzufassen und in Tabellen und Schemata darzustellen. Dies trifft nicht nur für die neuzeitlichen Konfliktfelder und die Vita und Genealogie Böttichers zu (17; 85-91), sondern auch für das in der Chronik genannte Kirchenpersonal (143-145). Zusätzliche ausführliche Anhänge zu Kirchenvätern (185-193) und eine Kirchenordnung der Danziger Marienkirche von 1389 (195-204) vervollständigen den ausgezeichneten Überblick. Gleiche Sorgfalt wurde auf das umfassende Werkverzeichnis der Schriften Eberhard Böttichers sowie der Werkbeschreibung des "Historischen Kirchen Registers" und seiner Quellen durch Edmund Kizik verwendet. Der Chronik (341-697) ist ein durchgehend farbiger Abbildungsteil mit einzelnen Seiten des Autografs und weiterer Schriften des Kirchenvaters vorgeschaltet. Neben einem Grundriss aus dem Jahr 1730, auf dem Böttichers Grabstätte markiert ist, sind historische Stadt- und Kirchenansichten sowie wichtige Ausstattungsstücke abgebildet. Ein ausführliches Orts- und Personenverzeichnis erleichtert zudem eine gezielte Recherche und einen Quereinstieg in den Text. Die Edition stellt für die historischen Wissenschaften einen unerschöpflichen Fundus für weitere Forschungen bereit, die durch die einleitenden Beiträge angeregt werden: sei es zu politischen und konfessionellen Auseinandersetzungen, Bautätigkeiten, Auftragsverhandlungen und -abschlüssen, Reliquienübertragungen oder allgemein zum alltäglichen Geschäft eines Kirchenverwalters. Die Veröffentlichung des Manuskripts ist nicht zuletzt von unschätzbarem Wert, da die meisten Archivalien der Marienkirche seit 1945 verschollen sind und somit einige Quellenauszüge Primärtexten gleichkommen.


Anmerkungen:

[1] Siehe zur "fabrica ecclesiae" in städtischen Pfarrkirchen erstmals ausführlicher Arnd Reitemeier: Pfarrkirchen in der Stadt des späten Mittelalters: Politik, Wirtschaft und Verwaltung (= VSWG-Beihefte; Bd. 177), Stuttgart 2005.

[2] Hierzu Piotr Olinski: Fundacje mieszczańskie w miastach pruskich w okresie średniowiecza i na progu czasów nowożytnych (Chełmno, Toruń, Elbląg, Gdańsk, Królewiec, Braniewo), Toruń 2008, 243-291.

[3] Anlässlich des Ausweißens 1493 fertigte der Kirchenmeister Sebald Schreyer ein Verzeichnis der vorübergehend abgenommenen Totenschilde an. Zitiert bei Kurt Pilz: "Der Totenschild in Nürnberg und seine deutschen Vorstufen", in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1936/39, 7-112, 69. Zu den Renovierungsarbeiten siehe auch Gerhardt Weilandt: Die Sebalduskirche in Nürnberg. Bild und Gesellschaft im Zeitalter der Gotik und Renaissance: eine Topographie der Bilder (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte; Bd. 47), Petersberg 2007, 343ff.

Rezension über:

Christopher Herrmann / Edmund Kizik (Bearb.): Chronik der Marienkirche in Danzig. Das "Historische Kirchen Register" von Eberhard Bötticher (1616). Transkription und Auswertung (= Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz; Bd. 67), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2013, 775 S., ISBN 978-3-412-20868-4, EUR 89,90

Rezension von:
Yvonne Northemann
Institut für Kunstgeschichte, Ruhr-Universität Bochum
Empfohlene Zitierweise:
Yvonne Northemann: Rezension von: Christopher Herrmann / Edmund Kizik (Bearb.): Chronik der Marienkirche in Danzig. Das "Historische Kirchen Register" von Eberhard Bötticher (1616). Transkription und Auswertung, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 12 [15.12.2014], URL: https://www.sehepunkte.de/2014/12/24014.html


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