sehepunkte 14 (2014), Nr. 12

Rezension: Die britische Conservative Party im 20. Jahrhundert

Der 9. Oktober 2014 könnte künftig in Studien über die Geschichte der Konservativen Partei als Wendepunkt markiert werden. Der erdrutschartige Sieg des ehemaligen Tory-Abgeordneten Douglas Carswell als Kandidat der United Kingdom Independence Party bei der Nachwahl in Clacton wäre demnach ein Fanal gewesen, das die politische Landschaft Großbritanniens grell erleuchtete und dem Parteiensystem der Insel neue Horizonte öffnete. Die Rechtspopulisten der UKIP treiben die ihrer selbst unsicher gewordenen Tories seit geraumer Zeit vor sich her und gerieren sich dabei aufreizend als die wahren Konservativen. Ein Dammbruch bei den 2015 anstehenden Unterhauswahlen dürfte wohl nur durch das Mehrheitswahlrecht verhindert werden. Ob der UKIP längerfristig ein Realignment der britischen Parteienlandschaft gelingt, hängt nicht zuletzt von der Reaktion der etablierten Parteien ab, die sich momentan freilich in wechselseitigen Schuldzuweisungen und programmatisch in einem hilflos anmutenden copy and paste ergehen.

Nimmt man die beiden sehr unterschiedlich konzipierten, wiewohl gleichermaßen lesenswerten Studien Stuart Balls und Timothy Heppells zur Hand, lässt sich das Malheur der erfolgsverwöhnten Tories historisch besser einordnen. Denn keine Partei hat in den vergangenen anderthalb Jahrhunderten die britische Politik so nachhaltig geprägt wie die Konservativen. Die letzte Hochphase - die Ära des Thatcherismus von 1979 bis 1997 - barg indes bereits den Keim des Niedergangs, der nun UKIP, im zweiundzwanzigsten Jahr ihrer Existenz, zu fulminanter Blüte verhilft.

Ball spannt einen weiten Bogen und stützt seine organisations- und politikgeschichtliche Untersuchung auf einen Fundus an unveröffentlichten Quellen, der seinesgleichen sucht. So kann er die Stimmung in den Wahlkreisgliederungen ebenso präzise ausloten wie den Spielraum auf der Kommandobrücke einer Partei, die bis 1945 tief verwurzelt blieb im Komment einer aristokratischen Elite. Vier gefährliche Klippen mussten die Tories im Untersuchungszeitraum umschiffen: den Konflikt um das Ende der Koalition mit den Liberalen Lloyd Georges 1921/22, den um 1930 kulminierenden Disput zwischen Befürwortern und Gegnern des Freihandels, den Streit um den richtigen Kurs auf dem indischen Subkontinent 1933/35 und das Murren der Anti-Appeasers seit Mitte der dreißiger Jahre, das Ball aber sehr prononciert entmythologisiert und auf Normalmaß stutzt. Der Erfolg der Tories in dieser Ära beruhte einerseits auf strukturellen Faktoren - dem Verschwinden der südirischen Wahlkreise nach 1921; der Furcht vor dem Aufstieg der Labour Party, welcher den Konservativen half, den schwindsüchtigen Liberalen Wähler abspenstig zu machen - und, ironischerweise, dem Frauenwahlrecht. Dieses nutzte keineswegs der bisweilen als misogyn wahrgenommenen Labour Party, sondern eher den Tories, obgleich diese weibliche Kandidaten oder solche aus der Arbeiterschicht allenfalls in hoffnungslosen Wahlkreisen nominierten. Hinzu kam das konservative Credo, das ideologischem Glasperlenspiel abhold war und nicht nur mit Blick auf die imperiale Strategie als "fairly simplistic" (32), praxisorientiert, empirisch und bedingungslos patriotisch beschrieben werden konnte. Deshalb und als Widerlager zu den kriegsbedingten Erschütterungen vermochte der Paternalismus der Konservativen, die durchaus bewusst dem Image einer "non-political party" (86) frönten, auch eher eine Brücke zu den Arbeitern zu bauen als manch ein verbiesterter Liberaler. Dies änderte jedoch nichts am sozial exklusiven Zuschnitt der Partei. Auf der Wahlkreisebene schmierten die "lubricants of middle-class society" (171) die politische Maschinerie, die de facto sichere Unterhaussitze an den Meistbietenden verkaufte.

Bei den Abgeordneten führte der Königsweg häufig von Eton über Christ Church nach Westminster und ihre Abkömmlichkeit fußte auf einem mühelosen Einkommen, denn die geringen Diäten reichten mitnichten aus, um ein respektables Abgeordnetendasein zu bestreiten: Die Kosten für den Wahlkampf wurden nur in Ausnahmefällen von der Parteizentrale übernommen, während von den Abgeordneten erwartet wurde, dass das Gros ihres Salärs in den Wahlkreis fließe, und schließlich mussten sie in der Lage sein, erhebliche Ausgaben für einen repräsentativen Lebensstil zu stemmen.

Immer wieder thematisiert Ball die vier zentralen Krisen der Konservativen, in denen die sprichwörtliche Loyalität der Tories letztlich einen Bruch wie bei den Liberalen verhinderte. In den zwanziger Jahren verlief ein Spalt zwischen Anhängern und Opponenten der Lloyd-George-Koalition, welche die Tories 1922 aufkündigten. Dass die Tories an dieser Konfliktlinie nicht zerbrachen, lag an zwei Gründen: Die Freunde der Koalition hatten "many chiefs, but few Indians" (436), und Stanley Baldwin, einer der erfolgreichsten Tory-Führer überhaupt, verstand es, jene stets isoliert zu traktieren, um ihnen nicht den Nimbus einer kohärenten Gruppierung zu verleihen. Verstreut über das gesamte Buch, aber mit merklichem Nachdruck seziert Ball die Opposition gegen Neville Chamberlains Appeasementstrategie. Das im Nachhinein verklärte Anrennen Winston Churchills und Anthony Edens gegen die britische Außenpolitik der späten dreißiger Jahre gehöre nicht zufällig zum "preserve of cranks and faddists" (447), die sich nicht der Übermacht der veröffentlichten und der Parteimeinung zu erwehren wussten und daher auf verlorenem Posten standen. Es war vor allem das strategisch-rhetorische Unvermögen des autoritär veranlagten Chamberlain, das diesen 1940 zu Fall gebracht habe, nicht die plötzliche Einsicht seiner Partei in die rasch zu tilgenden Fehler ihrer jüngeren Vergangenheit. Chamberlains Sturz konnte freilich retrospektiv durchaus als Menetekel für Parteiführer gelesen werden, deren gebieterischer Stil nur so lange geduldet werde, wie er Erfolge zeitige. Balls umfassende Studie hätte an Lesbarkeit gewonnen, wäre die empirisch-detailverliebte Opulenz zumindest innerhalb der einzelnen Kapitel zugunsten einer stärker chronologischen Strukturierung beschnitten worden.

Ganz anders geht Heppell in seiner schlanken Studie der schleichenden Autoparalyse der Tories vor. Er orientiert sich an den vier Dimensionen von Jim Bulpitts statecraft-Ansatz: wirksame Parteiarbeit, erfolgreiche Wahlstrategie, Hegemonie im politischen Diskurs, Regierungskompetenz. Heppell zeichnet die Entwicklung der Konservativen in einer Zeit nach, in der ein Dealignment die Bindung zwischen Wählern und Parteien zusehends erodieren ließ. Folglich konnten auch die Tories nicht umhin, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie ihre überkommene Dominanz im britischen Parteiensystem in das Zeitalter wohlfahrtsstaatlicher Expansion retten wollten. Hatten sie nach der Rückkehr Churchills in die Downing Street 1951 flugs ihren Frieden mit einer keynesianischen Politik der Vollbeschäftigung geschlossen, erschienen sie Anfang der sechziger Jahre ökonomisch wie weltpolitisch als "custodians of decline" (34). Das bizarr anmutende Spektakel zur Nominierung von Harold Macmillans Nachfolger tat ein Übriges, um die patrizische Dekadenz der Tories öffentlich bloßzustellen. Die traumatische Erfahrung während der Regierung von Edward Heath, die vor den streikenden Bergarbeitern kapitulieren und ihre Reformagenda widerrufen musste, ebnete dem Thatcherismus den Weg. Margaret Thatchers ungewöhnliche Karriere, ihre sich an der Macht radikalisierende Weltsicht, die zunächst glückende Reeducation der Wählerschaft und die Triumphe über eine heillos konfuse Opposition sind der Gegenstand zahlloser Studien. Heppells Untersuchung legt den Schluss nahe, dass sich die Tories unter Thatcher zu Tode siegten. Aus heutiger Perspektive mutet nämlich nicht nur der Wahlsieg John Majors 1992 wie eine wundersame Bestätigung der konservativen Präponderanz im 20. Jahrhundert an. Auch dass der neben Heath heute bei den Tories meistverachtete Ex-Premier eine Zeitlang der beliebteste Regierungschef seit dreißig Jahren war, sagt einiges über die jähe Antiklimax nach dem währungspolitischen Fiasko 1992, als Großbritannien im September jenes Jahres gezwungen war, aus dem europäischen Währungssystem auszuscheiden.

Verschärft durch den bis heute anhaltenden "civil war over Europe" (98), versank die Staatskunst Majors in den Folgejahren im Bodenlosen, was New Labour 1997 zur neuen Hegemonie verhalf und den Tories eine Reihe glückloser Parteiführer bescherte, denen es nicht gelang, sich die unbedingte Loyalität der Unterhausfraktion und der Anhänger im Land zu sichern. Der von Ball diagnostizierte Pragmatismus wich einer ideologischen Verengung, die UKIP gerade enttäuschten Thatcheristen wie das Original, die Tories selbst indes wie eine billige Kopie ihrer selbst vorkommen ließ. Die von David Cameron angestrengte "decontamination of the Conservative brand" (135) reichte nur für eine Koalitionsregierung, die zwar die Liberalen marginalisierte, aber dennoch eine rekordverdächtige Anzahl von Rebellionen der konservativen Regierungsfraktion provozierte. Die Hegemonie im öffentlichen Diskurs entglitt sowohl Labour als auch den Tories, deren Führung es immer schwerer fällt, ihre Gefolgschaft vom jeweils eingeschlagenen Weg und von der eigenen statecraft-Kompetenz zu überzeugen. Eher beiläufig skizziert Heppell so eine Entwicklung, die das Potential besitzt, das Gefüge der britischen Parteienlandschaft umzupflügen.

Beide Studien zusammen ergeben das luzide, facettenreiche Bild einer Partei, die zweifellos am Wendepunkt ihrer Erfolgsgeschichte steht. Ball durchdringt das Kapillarsystem der Tories, das trotz seiner sozialen Exklusivität über Jahrzehnte hinweg der Partei frisches Blut zuzuführen vermochte. Die Stärke von Balls monumentaler Untersuchung liegt in deren empirischer Dichte, die mit prosopographischen Vignetten ebenso aufzuwarten weiß wie mit organisationssoziologischem Feinschnitt. An einigen Stellen droht indes der Wildwuchs der Fakten die großen Linien zu überwuchern. Heppell hingegen gelingt es nur punktuell, aus Bulpitts Ansatz Funken zu schlagen. Aus dem vergleichsweise wenig inspirierenden Referat bekannter Ereignisse sticht lediglich die erfrischende Analyse der Regierung Major und der konservativen Selbstsuche nach 1997 heraus. Letztere hält bis zum heutigen Tag an.

Rezension über:

Stuart Ball: Portrait of a Party. The Conservative Party in Britain 1918-1945, Oxford: Oxford University Press 2013, XV + 591 S., ISBN 978-0-19-966798-7, GBP 85,00

Timothy Heppell: The Tories. From Winston Churchill to David Cameron, London: Bloomsbury 2014, 209 S., ISBN 978-1-78093-040-4, GBP 18,99

Rezension von:
Gerhard Altmann
Korb
Empfohlene Zitierweise:
Gerhard Altmann: Die britische Conservative Party im 20. Jahrhundert (Rezension), in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 12 [15.12.2014], URL: https://www.sehepunkte.de/2014/12/25073.html


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