Geschenktipps (nicht nur) zu Weihnachten

Tatjana Tönsmeyer, Wuppertal/Essen


Swetlana Alexijewitsch: Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft. Berlin Taschenbuch Verlag 2006.
Swetlana Alexijewitschs Thema sind die Traumata der (post-)sowjetischen Gesellschaft; ihnen nähert sie sich in Zeitzeugen-Collagen. Nicht erst die Katastrophe von Fukushima macht ihr Buch "Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft" zu einem Memento mori des atomaren Zeitalters: Erschütternd der Umgang mit den "Liquidatoren" und ihren Familien, aberwitzig-abstrus anmutend die Geschichten von in die Sperrzonen zurückkehrenden Menschen, um dort in "Freiheit" zu leben. Lauscht man dem vielstimmigen Chor, den Alexijewitsch zu Gehör bringt, so klingt ein überraschendes Leitmotiv heraus: Krieg. Auffällig häufig formulieren die Betroffenen ihre Ängste, dass der Reaktorunfall "Krieg" bedeute. Und auch ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind es Kriegs- und Besatzungserfahrungen, die die Erzählungen von der atomaren Katastrophe durchziehen und als (immer wieder scheiternde) Versuche einer Sinnstiftung herangezogen werden.

Per Olov Enquist: Die Ausgelieferten. Carl Hanser Verlag, München 2011.
Per Olov Enquist ist in Deutschland vor allem mit seinen historischen Romanen bekannt geworden, in Schweden jedoch geht sein literarischer Durchbruch auf "Die Ausgelieferten" aus dem Jahre 1968 zurück. Hierin thematisiert er die Entscheidungsprozesse, die zur Auslieferung von deutschen Soldaten und baltischen Waffen-SS-Männern, die im Mai 1945 nach Schweden geflohen waren, an die Sowjetunion führten. Dabei geht Enquist den Einzelschicksalen der betroffenen Männer nach, verzichtet im Selbstversuch auf Nahrungsaufnahme, um der Erfahrung von Hungerstreik nachzuspüren, mit dem die Männer ihre Auslieferung verhindern wollten und macht schließlich 1967 mehrere von ihnen im sowjetischen Lettland ausfindig. Dabei verwebt Enquist die konkreten Einzelschicksale und die "große Politik", indem er fragt, wie Menschen instrumentalisiert werden und was Narrativen solche Plausibilität verleiht, dass sie dominant werden. Seine Reflektionen bieten einen nachdenklichen Zugang zu Kaltem Krieg und der Spaltung Europas.

Patrick Modiano: Dora Bruder. Carl Hanser Verlag, München 1998.
Auch den diesjährigen Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano zeichnet ein Interesse an konkreten Menschen aus. In "Dora Bruder" wird es durch die Suchanzeige nach einem 15-jährigen Mädchen im Paris Soir vom 31. Dezember 1941 geweckt. Das Buch ist der Versuch einer Rekonstruktion ihrer Lebensgeschichte, doch das, was er an "Fakten" zusammentragen kann, ist wenig genug: Sie stammte aus einer jüdischen Familie, lief aus einem katholischen Mädchenpensionat weg und wurde im August 1942 nach Drancy deportiert. Vieles von dem, was hier ausgebreitet wird, sind scheiternde Annäherungen: Im Pensionat z. B. ist über Dora Bruder nichts mehr bekannt, Zeitzeuginnen leben nicht mehr und schriftliche Überlieferungen fehlen. Das, was über die Einrichtung berichtet wird, mag auch Doras Alltag dort geprägt haben, aber weder behauptet Modiano das, noch wird es sich je bestätigen oder widerlegen lassen. Was bei der Lektüre irritierend ist - warum werden Fragmente zur Titelfigur angeboten, die dann doch nichts mit ihr zu tun haben - führt zum Kern des Buches: Es ist ein Buch über die Nicht-Rekonstruierbarkeit des Lebens unzähliger Holocaust-Opfer und der Versuch, dennoch an sie zu erinnern.

Tony Judt: Das Chalet der Erinnerungen. Carl Hanser Verlag, München 2012.
Lebenserinnerung als Autobiographie und Vermächtnis ist Tony Judts "Das Chalet der Erinnerungen". Von tödlicher Krankheit gezeichnet und nur noch in der Lage, die Muskeln des Kopfes zu nutzen, erwiesen sich die Nächte im einsamen Ausgeliefertsein an die Lähmung als Tortur eigener Art. Er verfertigte daher Erinnerungswelten und be-wahrte diese bis zum Tag, bis er sie mitteilen konnte, in den Räumen des titelgebenden Schweizer Chalets auf. Lesend durchschreiten wir diese Räume, die uns den Verfasser in Kindheit und Jugend als Angehörigen der englischen lower middle class zeigen, im Kibbuz in Israel, im Studium in Cambridge sowie während seiner akademischen Karriere. Dass er Jahre nach seiner Ausbildung Tschechisch lernte, findet sich im mit "Midlife Crisis" überschriebenen Kapitel; erst Sprachkenntnisse und Kontakte zu Dissidenten in Ostmitteleuropa ließen ihn zu dem herausragenden gesamteuropäischen Historiker werden, als der er sich in Postwar, der Nachkriegsgeschichte Europas, zeigt. Doch schreibt er seinem Lesepublikum auch Mahnungen ins Stammbuch, z. B. zum Umgang mit Sprache, ist doch für ihn sprachliche Nachlässigkeit ein Zeichen von ungenügendem Denken. Seine Sprache und sein Denken stellen Gedächtniskunst dar, die durch ihren existentiellen Ernst berühren.

Cornelia Vossen: Sanssouci. Ein Schloss, ein Park, ein König und seine Hunde, Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 2010.
Zum Abschluss Kontrastprogramm - ein Ausflug für Kinder nach Sanssouci: Schon Johann Gottfried Schadow stellte Friedrich den Großen mit zwei seiner Windhunde dar; diese beiden, Alkmene und Hasenfuß, begleiten kleine und größere Leserinnen und Leser im Buch von Cornelia Vossen "Sanssouci. Ein Schloss, ein Park, ein König und seine Hunde" auf unterhaltsame Weise durch das Refugium des preußischen Herrschers. Seine Hunde wissen nicht nur, warum auch die Gäste des Königs im Winter kalte Füße im Speisesaal bekamen, dass Friedrich die große Fontäne nie hat spritzen sehen und wie Chinesen in den Park gelangten. Ansprechend bebildert und durch Rätsel aufgelockert lädt der Band zu einer (kunst- und kultur-)geschichtlichen Entdeckungsreise ein.