Geschenktipps (nicht nur) zu Weihnachten

Thomas Maissen, Paris


Historisches Lexikon der Schweiz, 13 Bd., Basel 2002-2014; auch http://www.hls-dhs-dss.ch/.
Dreizehn dicke, reich illustrierte Folianten mit total 36 200 Artikeln kann man sich vom reichen Onkel wünschen. Wer auf das aufschlussreiche Bild- und Grafikmaterial verzichtet, kann das Werk aber vollständig und kostenlos im Internet konsultieren: http://www.hls-dhs-dss.ch/. Mit einem Aufwand von 100 Millionen Franken und schweizerischem Perfektionismus hat die Redaktion um Marco Jorio mit den vier Sprachversionen in Deutsch, Französisch, Italienisch und, in kleinerem Umfang, Rätoromanisch nicht nur ein nationales Grundlagen und Identitätswerk geschaffen, sondern einen bleibenden Beitrag zur europäischen Historiographie. Nicht zuletzt dank der Volltextsuche kann man zu jedem historiographischen Begriff die Übersetzung in den anderen Sprachen ermitteln. Gerade für die Vormoderne ist hier im Schnittbereich des Reichs und der lateinischen Kulturen ein unverzichtbares Werkzeug entstanden; aber das gilt ebenso für aktuelle Geschichtsdebatten mit ihren oft sehr nationalen Perspektiven und blinden Flecken.

Eike Wolgast, Die Einführung der Reformation und das Schicksal der Klöster im Reich und in Europa (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte; Bd. 89), Gütersloh 2014.
Der Ausbruch der Reformation war ein städtisches Phänomen, doch ohne die folgende "Fürstenreformation" wäre sie nicht von Dauer gewesen. In ganz unpolemischer, aber kenntnisreicher Auseinandersetzung mit anderen Deutungen betont Eike Wolgast den nachhaltigen Bruch, den die obrigkeitliche Einführung der Reformation mit sich brachte, nicht zuletzt beim Umgang mit dem Kirchen- und Klostergut. Ihm gilt sein spezielles Interesse, da in diesen materiellen Fragen Kernanliegen eines obrigkeitlichen Kirchenregiments greifbar werden. Mit einem international vergleichenden Blick auf die reformatorische Begründung von anderen Staatskirchen legt Wolgast eine reiche und wohltuend nüchtern formulierte Summa seiner zahlreichen Arbeiten zum Reformationszeitalter vor.

Olivier Christin, Vox populi. Une histoire du vote avant le suffrage universel, Paris 2014.
Wahlen sind in unserem Verständnis der unmittelbare Ausdruck der demokratischen Souveränität eines Volks mit gleichgestellten Bürgern. Olivier Christin erkennt andere Funktionen beim Blick auf vormoderne Wahlrituale in politischen Gremien, aber auch in Kirchen, Klöstern und Universitäten. Sie können zum Beispiel Gottes bereits gefällte Entscheidung und die Wirkung des Heiligen Geistes für die Menschen zum Vorschein bringen oder, bei der Kaiserwahl, mit der Einstimmigkeit der Kurfürsten eine ebenfalls gottgewollte Ordnung repräsentieren. Es muss bei Abstimmungen auch nicht immer die numerische Mehrheit, die "maior pars" obsiegen; vielmehr können sie auch zutage bringen, dass die "sanior pars" Recht hat.

Ernst Jünger, In Stahlgewittern. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Helmuth Kiesel, Stuttgart 2013.
Es ist faszinierend, dieses ebenso umstrittene wie unverzichtbare Zeitzeugnis in einer Ausgabe lesen zu können, welche den Text der Erstausgabe von 1920 auf den geraden Buchseiten synoptisch demjenigen letzter Hand von 1978 auf den ungeraden Seiten gegenüberstellt und die Varianten der zahlreichen anderen Überarbeitungen (1922, 1924, 1934, 1935, 1961) farbig hervorhebt. Helmut Kiesel dokumentiert damit Jüngers Nach-Denken und seine Anpassungsleistungen, die in den verschiedenen politischen Kontexten stets sperrig bleiben. Biographisch bis zuletzt greifbar ist das Bemühen, dem Grabenkrieg durch Ästhetisierung und Heroisierung durchaus auch des Gegners einen Sinn zu geben. Zugleich deutete Jünger - in einer Ergänzung von 1924, die 1934 wieder wegfiel - das mechanisierte Schlachtfeld als Symbol eines "neuen Europa", das eben "noch den idyllischen Frieden einer ländlichen Bevölkerung gespiegelt hatte" und auf dem nun "die Ritterlichkeit auf immer" dahinging.

Lidia Ginsburg, Aufzeichnungen eines Blockademenschen, Berlin 2014.
Lidia Ginsburg veröffentlichte ihre Aufzeichnungen von 1942, aus der Zeit der neunhunderttägigen Belagerung Leningrads, erst Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg. Ginsburg schmerzhaft nüchterner Blick, auch auf sich selbst, seziert den Alltag und das Nebeneinander der "Blockademenschen" in einer urbanen Gesellschaft, die bei Hunger und 35 Grad Kälte, ohne Licht und Straßenbahnen gleichsam physisch auseinanderfällt, noch bevor letztlich über eine Million Einwohner in einem für viele aussichtslosen Überlebenskampf zugrunde gegangen sind. "Prägnant und im einzelnen unterschiedlich" sind die Details, die Ginsburg anti-sentimental dokumentiert und aus denen "etwas Einheitliches" entsteht - gerade in der Mischung aus Fürsorge und Nachlässigkeit, Grobheit und Zuneigung, welche den Nächsten und damit auch den nächsten Konkurrenten um materielle und emotionelle Ressourcen des Überlebens zuteilwird. Der langsame Hungertod von Ginsburgs Mutter symbolisiert damit das Schicksal einer ganzen Stadt. Eine geeignete Ergänzungslektüre hat der aus Leningrad stammende schwedischfinnische Autor Eino Hanski mit Das Brüderbataillon (dt. Übersetzung Bern 2014) vorgelegt. Auch sein Vater starb bei der Belagerung der Stadt. Hanskis Roman, der auf Interviews mit Zeitzeugen beruht, schildert das Schicksal der finnischsprachigen, aber zur Sowjetunion gehörigen Ingermanländer, die im Krieg immer wieder zwischen die Fronten der beiden Kriegsparteien und ihrer Loyalitätsforderungen gerieten.