sehepunkte 15 (2015), Nr. 10

Reinhard Wendler: Das Modell zwischen Kunst und Wissenschaft

Die Arbeit mit Modellen verbindet viele sonst getrennte Disziplinen. Ob in den Natur- oder Geisteswissenschaften, in Kunst oder Architektur, ob im künstlerischen Entwurf oder in der empirischen Forschung, stets spielen Modelle eine erkenntnisfördernde Rolle. Der theoretische Diskurs über Wesen, Wirkung und Wissenschaftlichkeit von Modellen blieb bisher zumeist auf die Naturwissenschaften beschränkt. Reinhard Wendler unternimmt in seinem Buch nun den äußerst anregenden Versuch, diesen modelltheoretischen Diskurs einer kunsthistorisch geprägten Leserschaft näherzubringen und ihm mithilfe historischer und bildwissenschaftlicher Mittel neue Perspektiven zu öffnen.

Laut Wendler ist die bisherige Theoriebildung weniger daran interessiert, Wirkung und Funktionsweisen von Modellen zu verstehen, als vielmehr damit beschäftigt, Rechtfertigungskriterien für ihren Gebrauch zu entwickeln. Dies führe dazu, Modelle nach Disziplinen oder Funktionen zu trennen und sie zu kategorisieren, um sie angesichts der Anforderungen einer exakten Wissenschaft kontrollierbar zu machen. In den Augen Wendlers ist es jedoch gerade der produktive Eigensinn der Modelle, ihre unvorhergesehene und eigenmächtige Wirkung, die Erkenntnisprozesse befördert und neue Sichtweisen ermöglicht. Anstatt den Modellen ein fixes Rollensystem überzustülpen, macht er es sich zur Aufgabe, die aktiven Potentiale der Modelle zu betrachten und ihr Wirkungsspektrum zu ermessen. Was so neutral klingt, stellt sich bei näherer Betrachtung als ein veritables Plädoyer für die Produktivität von Unsicherheit, Vermutung und Unwägbarkeit in wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen heraus.

Besonders die Annahme, eine Repräsentationsbeziehung zwischen Modell und Bezugsgegenstand sei im Sinne der exakten Wissenschaften Grundvoraussetzung für jegliches Modellsein, verstellt in den Augen Wendlers das Verständnis für die vielfältige Wirkungsweise von Modellen. Die Abbildfunktion stelle keinen Wesenszug des Modellseins dar, sie sei vielmehr eine Frage der Auffassung. Erst indem wir eine Repräsentationsbeziehung zwischen Modell und Bezugsgegenstand herstellen, trete sie in Kraft. Ohne ein gewisses Maß an Fiktion, des "so tun als ob", komme die Arbeit am Modell nicht aus. Zugleich berge dieser Vorgang die Gefahr einer Verwechslung. Die Vorstellung, die am Modell gebildet worden ist, werde häufig nicht als Produkt des Modells, sondern als Vorstellung vom "Original" gedeutet, ein Fehlschluss, den Wendler als "epistemische Rochade" (151) bezeichnet. Unsere Anschauung mache also nicht nur das Modell zum Modell, sie erzeuge überdies am Modell neue Vorstellungen vom "Original" und sei somit auch an seiner Herstellung beteiligt.

Um den verschiedenen Schwierigkeiten im modelltheoretischen Diskurs aus geisteswissenschaftlicher Perspektive zu begegnen, schlägt der Autor zwei Ansätze vor. Zum einen wirbt er für eine Historisierung des Modelldiskurses. Einseitigen Kategorisierungen, beispielsweise der Zuschreibung fixer Funktionen an ein Modell, soll durch die historische Kontextualisierung der Modellauffassungen entgegengewirkt werden. Zum anderen möchte Wendler mithilfe eines kunstwissenschaftlichen Bildbegriffs das Paradigma der Abbildlichkeit überwinden und den Blick für den Eigenwert der Modelle schärfen. Da der Moment der Auffassung sowohl für das Bild als auch für das Modell zentral sei, könne der Bildbegriff trotz unterschiedlicher Praktiken zum Verständnis der Wirkung von Modellen beitragen.

Bereits in seiner Dissertation bei Horst Bredekamp ging Wendler der Rolle von Modellen in Werk- und Erkenntnisprozessen nach. Am Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik in Berlin befasste er sich mit dem Modellbegriff, in einem an der TU Berlin bei Bernd Mahr angesiedelten Forschungsprojekt zum Thema Formale Modelle, Logik und Programmierung untersuchte er Modelle als Akteure. Während seiner Zeit beim Nationalen Forschungsschwerpunkt Bildkritik Eikones in Basel widmete Wendler sich den vielfältigen Beziehungen von Bildern und Modellen. Nicht nur das fächerübergreifende Thema, auch die Gliederung des Buches zeugt von diesen verschiedenen Etappen seiner Forschertätigkeit.

Im ersten Kapitel erörtert Wendler disziplinunabhängige Spezifika von Modellen. Anhand der Experimente Linus Paulings zur Struktur des Makromoleküls A-Keratin arbeitet der Autor die aktiven Potentiale von Modellen heraus. Am Beispiel der Entwurfspraxis Balthasar Neumanns macht er den Einfluss des materiellen und medialen Eigensinns der Modelle auf Bau- und Denkstile deutlich. Inwieweit Modelle zu Handlungen anregen oder sie hemmen, wie Modelle autorisiert und zu Stellvertretern von Architekten oder Auftraggebern werden, beschreibt Wendler mittels der Architekturmodelle, die Sangallo und Michelangelo für Sankt Peter anfertigten. Die dazu gebildete Rekonstruktion der verschiedenen Modellauffassungen lässt sich zugleich als Versuch der vom Autor selbst geforderten historischen Kontextualisierung von Modellen lesen.

Der Einfluss der aktiven Potentiale im Modellierungsprozess ist Gegenstand des zweiten Kapitels. Wendler möchte hier mit der klassischen Vorstellung aufräumen, ein Modellierungsprozess beginne mit der Idee und ende mit der Umsetzung des Modells. Vielmehr stößt in Wendlers Augen jede Begegnung mit einem Modell eine Wirkungsfolge an und ist somit als Modellierung zu betrachten. Im dritten Kapitel widmet der Autor sich den Kräfteverhältnissen, die entstehen, wenn mehrere Modelle zusammenwirken. Am Beispiel der Zeuxis-Legende thematisiert er die restriktive Macht eines Ideals. Das Zusammenspiel mehrerer Modelle gilt ihm nicht als Ausnahme, sondern als Normalfall im Umgang mit Modellen. Um sich diesem komplexen Wirkungsgefüge zu nähern, plädiert er für die Anwendung des von Bernd Mahr entwickelten "Modell des Modellseins" (131).

Das vierte Kapitel dient der Darstellung modelltheoretischer Ansätze des 20. Jahrhunderts. Wendler erläutert hier, wie der Wunsch nach wissenschaftlicher Theoriebildung dazu führte, dass Modelle entgegen ihrer Struktur kategorisiert wurden und abbildende Modelle der Wissenschaft, vorbildende Modelle der Kunst zugeordnet wurden. Verstehe man das Modell allerdings als Nachbildung eines Originals, so bleibe unberücksichtigt, dass es zu dieser Nachbildung erst einer Vorstellung vom Original bedürfe. Da jedoch eine solche Vorstellung nicht grundsätzlich vorhanden ist, bezeichnet Wendler die Repräsentationsbeziehung zwischen Modell und Original je nach Forschungssituation als "pragmatische Fiktion" (entscheidende Informationen fehlen), als "grundlegenden Mechanismus" (Sinnstiftung aus der Fülle von Informationen) oder als "Medium zur Informationsvermittlung" (Informationen sind bereits vorhanden und geordnet) (159-160).

Mit den Denkfiguren des Modells als Bild und des Bildes als Modell beendet Wendler seine Darstellung. So wie das Bild im Verständnis von Max Imdahl oder Gottfried Boehm als autonomes Gegenüber spezifische Sinnhorizonte eröffne, so sei auch das Modell kein schlichter Vermittler sondern produktiver Bestandteil betrachtender Modellierung. In diesem Sinne biete der avancierte Bildbegriff Ansatzpunkte zur Überwindung des Repräsentationsparadigmas. Des Weiteren behandelt Wendler künstlerische Positionen, die Modelle zum Gegenstand haben oder bildlich Modellkritik betreiben. Mit der Anekdote um das Modell Pippo, das sich laut Vasari auf tragische Weise an Bacchus, seinen Bezugsgegenstand, verliert, setzt der Autor einen starken Schlusspunkt.

Insgesamt scheinen die Themen der von Wendler durchgeführten Forschungsprojekte für die Gliederung entscheidender gewesen zu sein als eine umfassende Stringenz innerhalb des Buches. So stellt sich die Frage, ob eine bildliche Modellkritik unter der Rubrik des "modelltheoretischen Diskurses zur Wirkung von Modellen" nicht besser zur Geltung gekommen wäre. Das Modell als Gegenstand von Bildern fand bereits im ersten Kapitel Berücksichtigung und hätte eventuell auch dort theoretisiert werden können. Dies hätte es dem Autor ermöglicht, sich im letzten Kapitel ganz den Potentialen des Bildbegriffs im Umgang mit Modellen zu widmen und diese ausführlicher zu erläutern. Auch hätten ein aktiverer Sprachgebrauch sowie eine frühere Darstellung der unterschiedlichen Zusammenhänge, in denen Modelle genutzt werden (Erkenntnissituation, Wahrnehmungssituation oder Vermittlung), der Leserin die Lektüre erleichtert.

Als äußerst anregend empfand die Rezensentin die Überlegungen zum Zusammenhang von Modellbildung und Geschichtsschreibung. Wendler fordert dazu auf, eine historische Modellsituation spekulativ nachzuvollziehen und Spannungen oder Unbestimmtheiten nicht als historiografische Mängel zu eliminieren, sondern sie als konstitutives Element einzubeziehen und zu beschreiben. Die Feststellung, dass pragmatische Fiktionen und Situationen der Ungewissheit in historiografischen Überlieferungen rückwirkend idealisiert oder eliminiert werden, um wissenschaftlichen Kriterien zu genügen, gilt nicht nur für die Arbeit am Modell. Die gegenwärtige Praxis großer Förderinstitutionen, Gelder erst dann zu vergeben, wenn erkenntnisfördernde Phasen der Unsicherheit bereits überwunden sind, befördert die Nachrationalisierung von Erkenntnisprozessen. Eine Hinwendung der Wissenschaftstheorie hin zur forscherischen Praxis wäre in diesem Sinne besonders wünschenswert.

Rezension über:

Reinhard Wendler: Das Modell zwischen Kunst und Wissenschaft, München: Wilhelm Fink 2013, 230 S., ISBN 978-3-7705-5041-8, EUR 24,90

Rezension von:
Christine Beese
Kunsthistorisches Institut, Freie Universität Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Christine Beese: Rezension von: Reinhard Wendler: Das Modell zwischen Kunst und Wissenschaft, München: Wilhelm Fink 2013, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 10 [15.10.2015], URL: https://www.sehepunkte.de/2015/10/25927.html


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