Rezension über:

Tom Linkinen: Same-sex Sexuality in Later Medieval English Culture (= Crossing Boundaries: Turku Medieval and Early Modern Studies), Amsterdam: Amsterdam University Press 2015, 334 S., ISBN 978-90-8964-629-3, EUR 99,00
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Rezension von:
Helmut Puff
University of Michigan
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Helmut Puff: Rezension von: Tom Linkinen: Same-sex Sexuality in Later Medieval English Culture, Amsterdam: Amsterdam University Press 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 1 [15.01.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/01/27180.html


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Tom Linkinen: Same-sex Sexuality in Later Medieval English Culture

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Die Beobachtung, dass "gleichgeschlechtliche Sexualität [...] ein integraler Bestandteil der englischen Kultur des späteren Mittelalters" war, ist der Angelpunkt der hier zu besprechenden Studie (9). Tom Linkinen (Universität Turku) verfügt über einen reichen Fundus von Zeugnissen, um diese These zu untermauern. Seine Studie basiert darüber hinaus auf einer dichten Forschungsdiskussion. "Same-sex Sexuality in Later Medieval English Culture" verfolgt die anspruchsvolle Aufgabe, die Vielzahl einschlägiger Dokumente aus dem spätmittelalterlichen England ebenso wie die Vielzahl der Ansätze in eine Gesamtdarstellung zu überführen.

Der beeindruckende Streifzug des Verfassers beginnt mit einem Kap. zur Ächtung gleichgeschlechtlichen Sexualverhaltens in religiöser Literatur und Rechtstexten. Linkinen konstatiert, dass das mittelalterliche englische Recht keine Rechtsbestimmung in Bezug auf gleichgeschlechtliche Sexualakte kannte. Deswegen seien auch so gut wie keine Gerichtsfälle oder gerichtlichen Untersuchungen überliefert (in anderen Regionen Europas gab es Verurteilungen allerdings auch dann, wenn eine ausdrückliche Rechtsbasis fehlte). Im Folgenden konturieren seine Ausführungen den Versuch mittelalterlicher Theologen, Kleriker und anderer Sachverständiger, die Kommunikation über dieses in manchen Kontexten als "stumme Sünde" beschriebene Schwerstvergehen zu unterbinden bzw. zu zensieren. Schweigen war jedoch nur eine mögliche Reaktion auf den mannmännlichen Sexus. Die mit hohem Einsatz an Verbalexzessen betriebene Stigmatisierung dieses Eros im spätmittelalterlichen England trug zu einem Klima kollektiver Ängste bei, wie der Verfasser im Anschluss an Jean Delumeau aufzeigt (Kap. 3).

Das vierte Kapitel behandelt denn auch Ekel und Furcht als Emotionen, wie sie einige Texte für die Hörer- bzw. Leserschaft modellieren. Mit seinen Ausführungen zum Lachen beschreitet Linkinen Neuland (Kap. 5). Dabei geht es in erster Linie um Abwehr des Normwidrigen bzw. um das die sexuelle Ordnung restituierende, verurteilende Gelächter. In diesem Zusammenhang situiert er auch Geoffrey Chaucers "Canterbury Tales" (219-232), dessen facettenreich, sexuell-suggestiv erzählte Pardoner-Figur in der mittelalterlichen Literatur ihresgleichen sucht. Dagegen erscheint die mannmännliche Liebe unter dem Aspekt der Narrativierung und Praxis der Freundschaft als eine gefeierte Lebensform (Kap. 6). Dort, wo mittelalterliche Autoren Freundespaare mit dem Geruch des Sexuellen versahen, war deren Verunglimpfung unabdingbar. Den Sodomievorwurf politisch funktionalisierend schmückten einige Chronisten ihre Darstellungen der Regentschaft Edwards II. oder Richards II. mit Anspielungen auf deren angeblich erotisch motivierter Vorliebe für Favoriten - mit erheblichem zeitlichen Abstand zu den Ereignissen.

Immer wieder verweist Linkinen im Verlauf seiner Studie darauf, dass nur wenige spätmittelalterliche Quellentexte den Sexus unter Frauen behandeln. "Ancrene Wise", ein an geistliche Laienfrauen adressierter, einflussreicher Unterweisungstext des 13. Jahrhunderts, nimmt deswegen eine herausgehobene Stellung ein; religiosae werden darin nachdrücklich vor den Gefahren "widernatürlicher Lust" gewarnt; wie der Verfasser meint, könnten diese Passagen auf sexuelle Akte unter Frauen anspielen (19-20, 57-58, 72-73 u.ö.). Im Anschluss an Ruth Karras und andere Forscherinnen begründet der Verfasser die überaus seltene Thematisierung der Frauenliebe vor allem mit dem Unvermögen patriarchaler Gesellschaften, sexuelle Akte anders denn als Penetration zu konzipieren. Begrüßenswert ist weiterhin, dass Linkinen neben literarischen auch Bilddokumente in seine Darstellung einfließen lässt. [1]

Die verschiedenen Aspekte und Themen von Linkinens Studie spiegeln Stationen der Forschungsgeschichte zur Geschichte der Homosexualitäten wider - von der Aufarbeitung normativer Setzungen in der Grundlagenforschung eines Derrick Bailey, Michael Goodich und James Brundage zu Alan Brays epochaler Abhandlung über die Freundschaft (The Friend, Chicago 2003) und den Queer-Studien von Carolyn Dinshaw, Karma Lochrie oder Glenn Burger. Überzeugend verweist der Verfasser in seiner Untersuchung auf die "plurality" der Stimmen zum gleichgeschlechtlichen Sexus im England des Spätmittelalters. Diese Vielfalt immer wieder zu veranschaulichen ist neben vielen gelungenen Einzelbeobachtungen der Hauptertrag von "Same-sex Sexuality in Later Medieval England". Wie diese Vielstimmigkeit indes analytisch zu fassen ist, hätte eine ausgiebigere Diskussion verdient. So fragt sich, ob die "plurality" der Passagen einer Diskussion gleichkommt, wenn die Verurteilung der Sünde bzw. des Verbrechens (beide Begriffe tauchen nebeneinander auf) das verbindende Moment der meisten einschlägigen Textstellen ausmacht.

Linkinen paart darüber hinaus die "plurality" der Stimmen mit dem Konzept der "possibilities". Mit Möglichkeiten bezeichnet der Verfasser sowohl die Ebene wissenschaftlicher Interpretationen wie auch das Handlungpotenzial oder die Deutungshorizonte der Menschen des Spätmittelalters. So ignorierten einige mittelalterliche Schreiber den satirischen Charakter von Alanus' ab Insulis "De planctu naturae" (Klage der Natur) und fügten ihren Handschriften den Kommentar "pereat sodomita" bei - auf dass der Sodomit krepiere (Übersetzung, H.P.) (251). Aber auch die Möglichkeit, dass Subjekte Verdammung gleichgeschlechtlichen Verhaltens mit ihren Verbalexzessen nicht auf ihre Lebenswelt zu beziehen gezwungen waren, erscheint in diesem Verstehen immer wieder als eine "mögliche" Reaktion auf bestimmte Passagen. Nicht so sehr die Diskurse selbst stehen mithin im Vordergrund des Untersuchungsinteresses, sondern vielmehr die Effekte, welche einzelne Texte (und ihre Lücken) in der Lebenswelt zeitigen konnten. Forschungsgeschichtlich bedeutet dieser Ansatz einen faszinierenden Rekurs auf Forschungspositionen John Boswells und anderer Historiker, in deren Forschungen Subjektivität eine zentrale Rolle spielte. Nur dass es Linkinen eben nicht um die "gay people" allein geht (so der Untertitel von Boswells "Christianity, Social Tolerance, and Homosexuality" von 1980). Allerdings wäre zu überlegen, ob Linkinens Zusammenschau nicht stärker von einer text- bzw. kommunikationsgeschichtlichen Herangehensweise hätte profitieren können. Jedenfalls würde man sich wünschen, dass in der künftigen Forschung Überlegungen zu Sprachwahl, Adressatenkreisen, Verbreitungsmodi oder der sozialen Verankerung von Texten konsequenter, als das hier geschehen ist, herangezogen werden.

Laut Einleitung entfaltet sich die "englische Kultur des späteren Mittelalters", um die es dem Verfasser geht, zwischen den Eckdaten der verheerenden Pestwellen Mitte des 14. Jahrhunderts und der Krönung Heinrichs VIII. - dem König, der im Verlauf der englischen Reformation ein Statut gegen "Buggerie" erließ (1533) (8). Diese in der historischen Mediävistik bekannte Periodisierung ließe sich mit Blick auf die Ausbreitung der Schriftlichkeit von Laien sowie religiöser Laienbewegungen weiter präzisieren (zu den "Lollards", die sich der Sodomieanklage bedienten, wie sie auch eben dieses Vergehens bezichtigt wurden, siehe 128-136 u. 142-145). An vielen Stellen durchbricht der Verfasser jedoch den selbstgesteckten zeitlichen wie geographischen Rahmen. Texte der Karolingerzeit werden ebenso herangezogen wie Belege aus Ragusa (Dubrovnik), um nur zwei Beispiele unter vielen anzuführen (170, 217). Für solche Exkurse lassen sich in jedem Einzelfall Gründe geltend machen. Sexualitätsgeschichte lässt sich nun einmal nicht ohne weiteres ins Korsett bestehender historischer Beschreibungskategorien zwingen. In ihrer Massierung untergraben derartige Einlassungen jedoch die zeitliche wie geographische Partikularität von "Same-sex Sexuality in Later Medieval England". Insofern bleibt auch die Bemerkung des Verfassers in der Schwebe, dass die englische Kultur des Spätmittelalters gar kein Queering benötige, weil sie an und für sich schon "queer" gewesen sei (308).


Anmerkung:

[1] Zu diesem Thema jetzt Robert Mills: Seeing Sodomy in the Middle Ages, Chicago 2015.

Helmut Puff